Editorial

Ernst Mayr im 101. Lebensjahr gestorben

Fast schient es, als wollte er listig der von ihm erforschten Evolution ein Schnippchen schlagen: Der große Biologe und erbitterte Verfechter von Darwins Thesen, Ernst Mayr, ist tot. Er starb am letzten Donnerstag in der Nähe von Boston.

(10.02.2005) Vom Arbeitsgruppenleiter bevormundeten "Jungforschern" von heute fällt es womöglich schwer, sich das vorzustellen: Da schickt ein ehrwürdiger Wissenschaftler seinen blutjungen Assistenten auf eine ungewisse Expedition ans andere Ende der Welt. "Machen Sie mal, mein liebes Schlaumayrchen!" Das Schlaumayrchen machte - und wie!

Während dieser dreijährigen Reise auf den Spuren Darwins - per Schiff zu den Urwäldern Neuguineas und auf die Salomonen - sollten sich abenteuerliche Dinge ereignen - Szenen, die heutige Postdoks höchstens aus "Indiana Jones"-Filmen kennen: Geflüchtete einheimische Führer, Unwetter und Stürme - teils auf dem freien Meer, ein Sturz von einem Wasserfall (bei dem das "Schlaumayrchen" beinahe ertrank). Dazu kam so ziemlich jede üble Tropenkrankheit: Malaria, Dengue-Fieber, Amöbenruhr. Am Ende wurde der junge Forscher gar für tot erklärt, ermordet irgendwo auf der anderen Seite der Erdkugel von einheimischen Stammeskriegern.

Naturkundler seit frühester Kindheit

Es geht um Ernst Mayr, natürlich. Der in Kempten im Allgäu geborene und in Dresden aufgewachsene Naturforscher hatte in seinem Medizinstudium in Greifswald eben erst mit dem Physikum "Halbzeit", als er schnell noch eines der Biologie dranhängte. Auslöser war Erwin Stresemann gewesen, ein prominenter Ornitologe am naturkundlichen Museum der Berliner Humboldt-Universität. Stresemann zog damals, ums Jahr 1924 herum, den 20-jährigen Ernst weg von der Medizin hin zur Biologie. Das dürfte keine allzu schwere Aufgabe gewesen sein, war doch Mayr eigener Aussage zufolge "Naturkundler, seit ich gehen gelernt hatte": Bereits als Dreikäsehoch habe er die Vögel rund um Dresden nach ihrem Zwitschern oder Federkleid bestimmt, erzählte er gerne.

Mayr studierte in Rekordzeit, und binnen 16 Monaten hatte er auch noch seine Doktorarbeit (über die geografische Verbreitung des Kanarengirlitz') fertig gestellt. Da war er 21. Zwei Jahre später war er auf der anderen Seite der Erdkugel, überlebte den Dschungel und sammelte zwischen 1928 und 1930 die Bälge von 7000 Vögeln. Mit 27 emigrierte er in die USA, wo er am Amerikanischen Naturkundemuseum in New York als Assistenz-Kurator (und später als Kurator der "Whitney-Rothschild-Kollection") die weltgrößte Vogelsammlung betreute. In seiner New Yorker Zeit beschrieb Mayr 38 neue Vogelarten sowie 478 Subspezies und legte - wie zuvor Darwin - mit systematischen Untersuchungen den Grundstock für sein späteres Lebenswerk. Von 1931 an lebte der Deutsche bis zu seinem Tod, mit Ausnahme zahlreicher Reisen, in den USA - wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, dass hierzulande selbst vielen Biologen der Name Mayr kein Begriff mehr ist.

1942: Legendäres Evolutionswerk

Mayr wurde natürlich nicht wegen der rekordverdächtig hohen Zahl an Vogelarten berühmt, die er in seinem langen Leben beschrieb. Er wurde es vor allem für ein Buch. 1942 veröffentlichte er sein Hauptwerk Systematics and the Origin of Species. Darin brachte Mayr die "amerikanische" mit der "europäischen" Systematik und Evolutionslehre in Kontakt. Der Deutsche verknüpfte die Theorien Gregor Mendels mit denen Charles Darwins und begründete das bis heute gültige Konzept einer "biologischen Art" als Fortpflanzungsgemeinschaft. Auch die Idee einer "geografischen Separation", der gegenseitigen Isolierung gleicher Spezies voneinander, die allmählich zu einer Artbildung führt, stammt von Mayr. Damit kam er wesentliche Schritte weiter als der große Charles Darwin. Dieser rätselte Zeit seines Lebens darüber nach, wie die weltweite Biodiversität wohl entstanden sein könnte.

Nicht zuletzt schaffte es Mayr, auch das für Darwin noch unsichtbare Wirken genetischer Faktoren in seiner "Modernen Evolutionssynthese" unterzubringen und erklärte damit die Veränderung von Genen auf molekularer Ebene. Der Grundstein für all das, was wir heute schlicht "Molekulargenetik" nennen, war damit gelegt. Übrigens war es Mayr höchstpersönlich, der immer wieder auf die wichtigen Vorarbeiten anderer, etwa 1932 von Ronald Fisher oder 1937 von Theodosius Dobzhansky ("Nothing makes sense except in the light of evolution"), hinwies. Gleichzeitig war Mayr ein erbitterter Gegner des Reduktionismus. Der Mann, der bis ins hohe Alter neugierig wie ein Kind geblieben war, bestritt erbittert, dass Leben berechenbar sei. Immer wieder betonte er die Eigenständigkeit der Biologie, der "Wissenschaft vom Leben", gegenüber anderen Naturwissenschaften wie Chemie oder Physik.

"Still pretty sharp"

"For 99, I'm still pretty sharp", kokettierte er vor nicht allzulanger Zeit mal in einem Interview. Er meinte wohl seine Zunge damit. Denn der Autor von 26 Büchern war Zeit seines Lebens ein spitzzüngiger Verfechter der Lehre Darwins und damit einer der Hauptfeinde amerikanischer Kreationisten (pseudo-wissenschaftlicher Evolutionsgegner). Ähnlich konsequent war Mayr, wenn es darum ging, die Philosophie der Biologie von der der Physik abzugrenzen: Er war der Meinung, dass keine andere wissenschaftliche Idee so wichtig, so umwälzend und fundamental fürs heutige Weltbild gewesen sei wie Darwins Thesen über die Evolution.

Über Mayrs 1984 erschienenes Spätwerk "Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt", 2002 von Springer neu aufgelegt, sagte Nobelpreisträger Franois Jacob: "Ein einzigartiges Buch, das nur von einem Mann wie Ernst Mayr geschrieben werden konnte, der nicht nur einer der bedeutendsten Evolutionsbiologen dieses Jahrhunderts, sondern auch ein großer Philosoph, Biologiehistoriker und außergewöhnlicher Schriftsteller ist. Kein anderes Buch erzählt so klar und kritisch die Evolution der Ideen, die zur modernen Biologie führten."

Nach Stephen Jay Gould (2002) und John Maynard Smith (2004) ist nun der dritte prominente (und wohl wichtigste) Evolutionsforscher des 20. Jahrhunderts gestorben. Nicht nur ein "Täfele" an seinem Geburtshaus in Kempten - dem heutigen C&A-Gebäude - wird an den großen alten Mann der Biologie, Ernst Mayr, erinnern.

Winfried Köppelle



Letzte Änderungen: 16.02.2005