Editorial

Brisante Fundsache

(7.1.16) Bei der Aufarbeitung der Dopingpraktiken Freiburger Sportmediziner ist die zuständige Untersuchungskommission offenbar ganz nebenbei auf "massives wissenschaftliches Fehlverhalten" gestoßen.
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Kommissionsvorsitzende Letizia Paoli
© Köppelle

Eigentlich dachte man, es könnte nicht mehr schlimmer kommen: Die jahrzehntelange Dopinghistorie an der Medizinischen Fakultät der Uni Freiburg; die von der Freiburger Universitätsspitze betriebene, jahrelange Verschleppung und Behinderung der Aufklärungsarbeit; die zweifelhafte Kaltstellung des Freiburger Sportmedizin-Professors Dickhuth, während man Kollegen mit vergleichbaren Fehltritten straflos davonkommen ließ; die seltsame Untätigkeit sämtlicher Autoritäten bis hin zur zuständigen Wissenschaftsministerin.

Doch es kommt offenbar schlimmer. Viel schlimmer. Dies lässt eine Pressemitteilung der Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin ("Paoli-Kommission") vermuten, die seit 2009 die Aufklärungsarbeit zu den Doping-Praktiken an der Universität Freiburg leistet.

Forschungsskandal in einer "neuen Dimension"

Man sei auf einen Forschungsskandal gestoßen, teilte die Kommission am gestrigen Dreikönigstag mit, "dessen Tragweite weit über das heutige Institut für Bewegungs- und Arbeitsmedizin am Universitätsklinikum Freiburg hinausreicht" und der "eine neue Dimension wissenschaftlichen Fehlverhaltens mit möglicherweise gravierenden Folgen für das Fach Sportmedizin und den gesamten betroffenen Wissenschaftsbetrieb" darstelle.

Editorial

International publizierte sportwissenschaftliche Fachveröffentlichungen aus rund 20 Jahren (1980 bis 2000) würden ganz erhebliche, bislang unentdeckte wissenschaftliche Mängel aufweisen, so die Kommission -offenbar so gravierende, dass man an deren Zurückziehung (Retraktion) denken müsse. Zwar habe die Evaluierungskommission bereits seit 2011 bei ihrer Überprüfung von Dissertationen und Habilitationen "sechs Plagiatsverdachtsfälle von Habilitationen aufgedeckt, die auch zum Entzug beziehungsweise zur Rückgabe von Habilitationen geführt habe". Die nun zusätzlich entdeckten Misstände sind jedoch offenbar weit umfangreicher - dies zumindest lässt der Wortlaut der Pressemitteilung vermuten.

Fass ohne Boden?

Im Einzelnen beruhten eine Reihe "hochkarätig publizierter Arbeiten wohl auf Fälschungen von Daten und Selbstplagiaten"; es seien wissenschaftliche Arbeiten "mit geringfügigen Änderungen ohne entsprechenden Hinweis mehrfach in unterschiedlichen Fachzeitschriften publiziert worden"; Interessenskonflikte seien nicht offengelegt worden und auch die Gutachter in Förderorganisationen und Fachzeitschriften bekommen ihr Fett weg: Sie hätten mit "mangelnder Sorgfalt geprüft".

Delikat, aber nicht wirklich erstaunlich erscheint vor diesem Hintergrund, dass die inkriminierten Publikationen "die Grundlage für erfolgreiche Bewerbungen auf Lehrstühle und Forschungsanträge" gewesen seien. Mit anderen Worten: Der massenhafte Betrug hat sich für die Falschspieler offenbar ganz prächtig gelohnt - sowohl finanziell als auch karrieretechnisch.

Appell an die Universität, eine externe Task Force einzurichten

Die Paoli-Kommission, deren Aufgabe ja eigentlich nicht die Aufdeckung derartiger Betrügereien ist und die eher zufällig auf die faulen Eier gestoßen ist, empfiehlt "dringend die Einsetzung einer Task Force als externe Untersuchungskommission", um "die vielen Publikationen einer genauen Überprüfung bezüglich vermuteter Datenfälschungen zu unterziehen". Die zugrundeliegenden Rohdaten etwa - die für eine stringente Beweisführung höchst wichtig sind - seien der Kommission nicht zugänglich. Einer Task Force müsste man sie zur Verfügung stellen.

Es könne nicht Aufgabe der Evaluationskommission sein, das vorliegende Fehlverhalten zu beurteilen oder Maßnahmen vorzuschlagen", gab die Kommissionsvorsitzende Letizia Paoli, Kriminalistik-Professorin am der Universität Leuven, zu Protokoll - und rief jene Wissenschaftler, "die unwissentlich in den Skandal verwickelt worden sind", dazu auf, sich bei ihr zu melden und an der Aufklärungsarbeit mitzuwirken.

Man gehe "von einer passiven Involvierung zahlreicher Wissenschaftler und insbesondere ehemaliger Doktoranden aus, deren Dissertationen, zum Teil unter deren Namen, aber wahrscheinlich ohne deren Wissen, in weiteren Publikationen" manipuliert worden sei. Es sei zudem nicht auszuschließen, dass Druck auf unbescholtene Wissenschaftler ausgeübt worden sei.

Appell an Betroffene, sich bei der Kommission zu melden

Wer dies liest und sich angesprochen fühlt, an der Aufarbeitung mitzuarbeiten: Frau Paoli hat die Telefonnummer 0032-16-325274 (von Deutschland aus nach Belgien) und die E-Mail-Adresse Letizia.Paoli@law.kuleuven.be.

Frau Paoli ist Professorin für Kriminologie, Autorin zahlreicher Veröffentlichungen zur italienischen Mafia, organisierten Kriminalität und zu den internationalen Drogenmärkten, und hat jahrzehntelange Erfahrung mit derlei unangenehmen Angelegenheiten. Mit anderen Worten: Sie ist vertrauenswürdig. Zudem spricht sie perfekt deutsch und sichert strikte Vertraulichkeit zu.

Winfried Köppelle

 

--- Nachfolgend der Wortlaut der Pressemitteilung:

 

Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin entdeckt massives wissenschaftliches Fehlverhalten in Publikationen.


Die Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin ist bei ihrer Aufklärungsarbeit zu Doping-Praktiken an der Universität Freiburg auf einen Forschungsskandal gestoßen, dessen Tragweite weit über das heutige Institut für Bewegungs- und Arbeitsmedizin am Universitätsklinikum Freiburg hinausreicht.

"Dies ist eine neue Dimension wissenschaftlichen Fehlverhaltens mit möglicherweise gravierenden Folgen für das Fach Sportmedizin und den gesamten betroffenen Wissenschaftsbetrieb", so die Kommissionsvorsitzende Prof. Dr. Letizia Paoli, Universität Leuven.

Die Kommission hat deshalb in einer Dringlichkeitssitzung am 17. Dezember 2015 den einstimmigen Beschluss gefasst, bereits vor Abschluss ihrer Gesamtarbeiten über diese Ergebnisse zu informieren. Inzwischen erhielten das Universitätsrektorat, das Wissenschaftsministerium und der Wissenschaftsrat als Vorabinformation einen 16seitigen Kurzbericht, der die Dimensionen zumindest erkennen lässt. Ein sehr viel umfangreicherer abschließender Bericht wurde für die nächsten Wochen angekündigt.

Einsetzung einer externen Task Force

Aufgrund der Anzahl der unter Verdacht stehenden Arbeiten und Wissenschaftler empfiehlt die Kommission nach dem bewährten Vorgehen im damaligen Fälschungsskandal um die Freiburger Krebsforscher Prof. Herrmann und Prof. Mertelsmann dringend die Einsetzung einer Task Force als externe Untersuchungskommission.

Es wäre Aufgabe der externen Task Force, die vielen Publikationen der entsprechenden Autoren und Coautoren einer genauen Überprüfung zu unterziehen, um allenfalls im Vergleich mit noch vorhandenen, der Kommission aber nicht zugänglichen Rohdaten auch eventuelle Datenfälschungen festzustellen.

"Es kann nicht Aufgabe der Evaluationskommission sein", so Prof. Paoli, "das vorliegende Fehlverhalten zu beurteilen oder allfällige Maßnahmen vorzuschlagen." Immerhin sei darauf hinzuweisen, dass die vorliegende Sachlage den Rückzug international publizierter Arbeiten nahelege.

Zudem beschloss die Kommission in Form einer Pressemitteilung einen Appell an jene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu richten, die unwissentlich in den Skandal verwickelt worden sind, sich bei ihr zu melden und an der Aufklärungsarbeit mitzuwirken.

Die Evaluierungskommission hatte bereits seit 2011 bei ihrer Überprüfung von Dissertationen und Habilitationen sechs Plagiatsverdachtsfälle von Habilitationen aufgedeckt. Dies hatte in Folge auch zum Entzug bzw. zur Rückgabe von Habilitationen geführt.

Fälschungen, Selbstplagiate und Unterschlagung von Originaldaten

Seit Herbst 2015 hat sich die Kommission im Rahmen einer noch ausstehenden Auseinandersetzung intensiv mit sportmedizinischen Publikationen vor allem aus den Jahren nach 1980 beschäftigt und dabei folgende Sachverhalte festgestellt:

- Weitere Dissertationen, Habilitationen sowie Fachpublikationen weisen ebenfalls erhebliche wissenschaftliche Mängel auf.

- Hochkarätig publizierte Arbeiten beruhen wohl auf Fälschungen von Daten und Selbstplagiaten.

- Publikationen wurden manipuliert; Originaldaten aus den ursprünglichen Arbeiten wurden weggelassen.

- Wissenschaftliche Arbeiten wurden mit geringfügigen Änderungen ohne entsprechenden Hinweis mehrfach in unterschiedlichen Fachzeitschriften publiziert.

- Fehlerhafte Publikationen waren die Grundlage für erfolgreiche Bewerbungen auf Lehrstühle und Forschungsanträge.

- Die Förderung durch Pharmafirmen wurde nicht erwähnt; Interessenskonflikte der Autoren wurden nicht offengelegt.

Fragwürdig erscheint auch die mangelnde Sorgfalt, mit der Gutachter in Förderorganisationen und in Fachzeitschriften die Publikationen geprüft haben.

Appell: Betroffene sollen sich bei der Kommission melden

Die Kommission geht von einer passiven Involvierung zahlreicher Wissenschaftler und insbesondere ehemaliger Doktoranden aus, deren Dissertationen, z.T. unter deren Namen, aber wahrscheinlich ohne deren Wissen, in weiteren Publikationen manipuliert worden sind. Es ist zudem nicht auszuschließen, dass durch diese unwissentliche Autorenschaft bei unlauteren Publikationen Druck auf unbescholtene Wissenschaftler ausgeübt worden ist.

"Die Kommission nimmt den Auftrag der Universität Freiburg zur lückenlosen Aufklärung sehr ernst", sagt die Kommissionsvorsitzende Paoli. "Die neuen Ergebnisse unserer Aufklärungsarbeit zeigen, dass es erhebliches wissenschaftliches Fehlverhalten gab, zum Nachteil der Wissenschaft und unbeteiligter Personen."

Personen mit entsprechenden Wissen, die in die Forschungsarbeiten der Abteilung Sportmedizin vor allem in den Jahren 1980 bis 2000 involviert waren, werden gebeten, sich bei der Geschäftsstelle der Kommission oder der Kommissionsvorsitzenden zu melden. Vertraulichkeit wird zugesagt.

 

Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin

6. Januar 2016

Prof. Dr. Hans Hoppeler (Bern)

Dr. Hellmut Mahler, stellvertretender Vorsitzender (Düsseldorf)

Prof. Dr. Letizia Paoli, Vorsitzende (Leuven)

Prof. Dr. Dr. Perikles Simon (Mainz)

Prof. Dr. Fritz Sörgel (Nürnberg)

Prof. Dr. Gerhard Treutlein (Heidelberg)

 

Kontaktadressen
Frau Elene Heim
Geschäftsstelle Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin
Albertstraße 14 a
D-79104 Freiburg
Tel. +49 761 203 5377
E-Mail: Elena.Heim@zv.uni-freiburg.de

 

Prof. Dr. Letizia PAOLI
LINC, Leuven Institute of Criminology
K.U. Leuven Faculty of Law
Hooverplein 10-11 B-3000 Leuven - Belgium
Phone: + 32 (0)16 325274
Fax: + 32 (0)16 325463
E-mail: Letizia.Paoli@law.kuleuven.be

Homepage mit Information zur Kommissionsarbeit

www.evaluierungskommission-paoli.be

 

--- Pressemitteilung Ende ---



Letzte Änderungen: 28.04.2016