Editorial

Die Paper-Piraten

(8.3.16) Die Seite Sci-Hub umgeht die Paywalls der Wissenschafts-Journals. Das macht Verleger nervös und viele Forscher glücklich. Sechs Gedanken zur PDF-Piraterie.
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© Geklaut von Sci-Hub.io

Die Seite Sci-Hub.io öffnet den Zugang zu einer Datenbank mit 50 Millionen wissenschaftlichen Fachartikeln, von jedem Computer der Welt, ohne Paywall oder Login. Und wenn die Datenbank das gewünschte Paper noch nicht hat, versucht Sci-Hub, auf verschlungenen Wegen eine Kopie zu besorgen – automatisch, ohne dass der Nutzer etwas tun müsste.

Eine Weile flog Sci-Hub unter dem Radar der Verlage und Wissenschaftler. Die meisten Forscher kannten den Dienst gar nicht, und so lange das so war, schien es den Verlagen nicht soo wichtig zu sein, dem illegalen Paper-Verteiler den Saft abzudrehen. Aber seit kurzem geht die Popularität von Sci-Hub steil nach oben, vor allem seit auf der Seite BigThink ein ausführlicher Beitrag über den Dienst und ihre Erfinderin erschien, die kasachische Forscherin Alexandra Elbakyan.

Ausgelöst hatte das Interesse an Sci-Hub wohl auch der Versuch einiger Verleger, angeführt von Elsevier, den Piraten-Dienst auf dem Klageweg stillzulegen. Das ist bisher nicht geglückt, da sich Elbakyan in Russland aufhält, außerhalb der Wirksamkeit des amerikanischen Gerichtsbeschlusses.

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Mittlerweile ist Sci-Hub so populär, dass selbst die Verlagslobby nicht mehr umhin kann, offen über das Thema zu diskutieren. Auf der Seite "Scholarly Kitchen", dem Blog einer amerikanischen Vereinigung von Wissenschaftsverlegern (SSP), erschien gleich eine ganze Artikel-Serie (hier, hier und hier).

Auch diverse bloggende Forscher gehen auf das Phänomen ein. Und während die einen den "schädlichen und kriminellen" Dienst in Bausch und Bogen verdammen (klar, die Verleger-Lobby) gibt es von anderer Seite enthusiastisches Lob: Sci-Hub sei ein längst überfälliger Akt des zivilen Ungehorsams, um die Papers ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben, meint der Neurowissenschaftler Björn Brembs.

Zwischen diesen Extremen steht z.B. der Paläontologe und Open-Access-Aktivist Mike Taylor, der auf die selbst gestellte Frage, was man denn nun von der Piraten-Seite zu halten habe, letztlich sagt: "Heck if I know", "Was weiß denn ich". Um es vorweg zu sagen, dem schließe ich mich an. Sci-Hub umgibt Licht und Schatten, und sechs der kontrovers diskutierten Punkte möchte ich kurz ansprechen (es gäbe noch mehr zu sagen, aber das soll erst mal genügen):

1. Die Existenz von Sci-Hub ist ein Armutszeugnis für die Verlage

Die Wissenschaftsverlage prahlen gerne damit, wie viel Geld sie in digitale Infrastruktur investiert haben. Aber offenbar haben die Verleger ihr Budget für Digitales eher in das Hochziehen von Paywalls gesteckt als in einfache Zugangssysteme. Wie Scholarly-Kitchen-Autor Joseph Esposito berichtet, soll es mittlerweile Forscher geben, die zwar über ihre Uni einen legalen Zugang zu Fachzeitschriften haben, aber ihre Papers bevorzugt über Sci-Hub herunterziehen. Das ist manchmal tatsächlich einfacher als über Bibliotheksseiten zu navigieren: Einfach den digital object identifier in die Sci-Hub-Suchmaske kopieren und mit etwas Glück hat man Sekunden später das Paper, egal von welchem Journal und welchem Verlag es stammt. Dieses universelle Paper-Zugangsportal ist nicht etwa das Resultat jahrelanger Entwicklungsarbeit einer Softwarefirma, sondern das ohne Bezahlung gebastelte Programm einer von Idealismus getriebenen Forscherin aus Kasachstan.

Na gut, das Gegenargument lasse ich zum Teil gelten: Letztlich parasitiert Sci-Hub die Verlags-Infrastruktur. Und wenn man sich um Paywalls und Copyright nicht kümmern muss, ist es sicher einfacher, ein komfortables Tool ohne Login-Hürden zu basteln.

2. Sci-Hub ist KEIN Open-Access-Portal

Open Access heißt mehr, als ein Paper frei lesen zu dürfen. Zu Open Access gehört z.B. auch das Recht, Inhalte in anderen Formaten weiter zu verbreiten. Dieses Recht kann eine Piratenseite natürlich nicht einräumen, da halten die Verlage ihren Daumen drauf. Sci-Hub bietet also "Piraten-Access", nicht "Open Access". Ein nachhaltiges Geschäftsmodell ist die Piraterie auch nicht. Für die Zukunft des wissenschaftlichen Publizierens kann Sci-Hub also nicht viel beitragen, es ist höchstens eine Übergangslösung.

Ach ja:

3. Sci-Hub ist illegal.

Da kann es gar keinen Zweifel geben. Auch wenn Elbakyan sich wolkig auf die UN-Menschenrechtskonvention bezieht und daraus ableitet, der freie Zugang zur wissenschaftlichen Literatur sei quasi ein universelles Menschheitsrecht: das ist Blödsinn. Die Autoren der Artikel in den traditionellen Abo-Journals haben den Verlagen das Recht eingeräumt, über ihre Werke zu verfügen und die Papers hinter Paywalls zu packen. Es ist eine kollektive Dummheit, dass Wissenschaftler die Verbreitungsrechte (bzw. die NICHT-Verbreitungsrechte) an ihren Werken einfach so abtreten – für mau. Aber in dieser absurden Welt leben wir nun einmal, und Verträge muss man einhalten.

Von Autorenseite her gesehen gibt es ja eine Alternative: Die vielen ausgezeichneten Open-Access-Zeitschriften. Wenn es der Forscher-Community also wirklich wichtig ist, dass alle Zugang zu wissenschaftlichen Papers haben, dann sollten sie ausschließlich Open Access publizieren. Das "Notwehr"-Argument greift daher meiner Meinung nach nicht so recht.

In den Kommentaren unter Espositos Artikel zum Thema entbrannte kürzlich eine längliche Diskussion, ob es "Diebstahl" sei, Raub-PDFs zu ziehen, oder lediglich ein weit weniger krimineller "Verstoß gegen das Copyright".

Hatten wir diese fruchtlose Debatte nicht schon mal? Richtig:

4. Ist Sci-Hub das Napster der Wissenschaft?

Für unsere jungen Leser: Napster war eine Internet-Musiktauschbörse, die etwa zur Jahrtausendwende ihre Blütezeit hatte. Damals gab es Musik in legaler Form vor allem in Gestalt von sündteuren silbrigen Scheiben, deren Materialwert bei ein paar Pfennig lag. Man musste für die Transaktion in ein Geschäft gehen, und wenn man Pech hatte, gab es das gesuchte Album dort gar nicht. Illegale MP3-Tauschbörsen wie Napster waren praktischer und schonten den Geldbeutel. Weil die Musik-Labels erst mal keine Antwort auf diese Innovation fanden, schlingerten sie in eine tiefe Krise.

Haben die Wissenschaftsverlage im Jahr 2016 endlich ihren Napster-Moment?

Na ja, wirklich vergleichbar ist das nicht, schon allein wegen der viel kleineren Zielgruppe. Aber eine Analogie gibt es schon: Brave Musikfreunde, die niemals auf die Idee gekommen wären, im Laden eine CD ohne Bezahlung mitgehen zu lassen, luden sich damals illegale MP3s herunter bis die Festplatten glühten.

Ohne dafür zu löhnen und weitgehend ohne schlechtes Gewissen.

Analog dazu würde kaum ein Wissenschaftler die gedruckte Nature-Ausgabe aus der Bibliothek stehlen. Ein PDF bei Sci-Hub zu ziehen bereitet hingegen den allerwenigsten Forschern Gewissensbisse. Noch dazu wird in diesem Fall, anders als bei Musikpiraterie, noch nicht mal der eigentliche Urheber um seine Tantiemen betrogen. Der Forscher bekommt vom Gewinn, den der Verlag mit seinem Werk einstreicht, in der Regel 0,00 Euro ab.

Die volkstümliche Rechtfertigung der Sci-Hub-User ist jedenfalls ähnlich wie bei den MP3-Junkies: Wenn ich eine Datei kopiere, ist sie hinterher ja immer noch da, anders als die geklaute CD aus dem Laden oder das entwendete Magazin aus der Bibliothek.

Die Musikindustrie hat damals gelernt, dass gegen digitale Tauschbörsen und das gefühlte Rechtsverständnis der Massen (so irrig und moralisch fragwürdig es auch sein mag) mit rechtlichen Mitteln nicht anzukommen ist. Stattdessen haben Musikanbieter neue Geschäftsmodelle gefunden. Zum Beispiel Streaming-Dienste, die viel praktischer sind als das Navigieren illegaler Dateiverzeichnisse und deshalb den Nutzern auch ein paar Euro pro Monat Wert sind.

Werden PDF-Piratenseiten wie Sci-Hub die Wissenschaftsverlage also zum Umdenken zwingen, so wie damals die Musiktauschbörsen den Labels auf die Sprünge geholfen haben? Das wäre dann doch arg einfach gedacht. Denn der Markt für wissenschaftliche Zeitschriften ist ein spezieller: Hauptkunden der Verleger sind nicht die Leser selbst, sondern die Bibliotheken, die auch nicht einzelne Journals kaufen, sondern ganze Bündel mit verschiedenen Inhalten. Und den Bibliothekar möchte ich sehen, der seinem Elsevier-Vertreter ins Gesicht sagt: "Wir brauchen eure überteuerten Dienste nicht mehr, die Forscher hier nutzen jetzt alle Sci-Hub".

Allerdings: Wenn es den Verlagen nicht gelingt, bei populären Piratenseiten den Stecker zu ziehen – oder zumindest die Benutzung erheblich zu erschweren – dann könnte das schon eine subtile Rolle bei Zeitschriften-Deals spielen. Denn bisher waren die Verlage in einer bequemen Position: Letztendlich werden die Institute immer blechen, auch wenn Elsevier, Wiley, Springer und Co. jedes Jahr saftige Aufschläge verlangen. Die Forscher brauchen ja schließlich Zugang zu den Journals. Aber wenn sich Sci-Hub oder andere Piratenseiten fest etablieren, können die Zeitschriften-Verkäufer da nicht mehr so sicher sein. Denn die Bibliothekare müssten nicht befürchten, dass ihre Nutzer auf die Barrikaden gehen, wenn sie einen überteuerten Deal platzen lassen. Es gibt dann ja eine Alternative.

Deshalb denke ich: Die Verlage werden dem Treiben von Sci-Hub nicht lange zuschauen und zumindest versuchen, die PDF-Piraten zu versenken.

Und das hätte Konsequenzen:

5. Sci-Hub könnte das Leben für Forscher etwas unbequemer machen

Sci-Hub funktioniert, soweit bekannt, relativ simpel: Einerseits ist der Service verbunden mit einer Datenbank, die etwa 50 Millionen "geraubte" Papers umfasst. Findet sich das gesuchte Paper dort nicht, versucht das Programm, eine Kopie z.B. über das Bibliotheksnetzwerk einer Uni zu besorgen. Die Sci-Hub-Nutzerin bemerkt davon nichts, der Such-und-Klau-Vorgang läuft automatisch im Hintergrund ab. Die Piratenseite braucht für den Zugang zu Bibliotheks-Netzen aber einen stetigen Nachschub an aktuellen Passwörtern.

Diese undichten Stellen werden die Verlage suchen und zukleistern, meint Joseph Esposito. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass der "off-campus"- Zugang für Forscher erschwert wird, oder dass die Nutzer beim Login lästige Identifizierungshürden überwinden müssen. Es könnte auch sei, dass die Verlage ihre (sowieso schon installierten) Sensoren für "auffällige" Aktivitäten auf den Servern sensibler einstellen und im Zweifel auch legitime Nutzer blockieren, wenn ungewöhnliche Aktivitäten eintreten.

Sogar das bei Forschern beliebte, bei Verlagen aber verhasste PDF könnte verschwinden, unkt Esposito, denn andere Datei-Formate lassen sich leichter gegen Piraterie schützen.

Ob solche Nachteile wirklich kommen, oder ob das nur Verleger-Propaganda ist, um Stimmung gegen Sci-Hub zu machen, sei mal dahingestellt. Attraktiver für ihre Nutzer würden die legalen Anbieter sich damit jedenfalls nicht machen – und das wäre wiederum gut für die Piraten.

Das Thema "Passwort-Hacken" führt mich zum letzten Punkt:

6. Sci-Hub ist grotten-intransparent und potentiell böse

Wo man in der Wissenschaft hinschaut, "Open" ist das Schlagwort: Open Science, Open Data, Open Peer Review. Transparenz ist groß in Mode, zurecht. Sci-Hub passt da so gar nicht in die Landschaft. Denn wie genau der Service funktioniert, welche Manöver die Software im Detail ausführt, um den illegalen Zugang zu Uni-Netzwerken aufrecht zu erhalten, das alles verrät Elbakyan nicht. Und woher genau stammen eigentlich die Passwörter, mit denen sich Sci-Hub unbefugt einloggt?

Gibt es wirklich Forscher, die so naiv (wahlweise: so idealistisch) sind, dass sie Zugangsdaten zum Bibliotheksnetzwerk ihrer eigenen Uni an eine dubiose russische Piratenseite "spenden"? Oder kommen die Passwörter irgendwie aus zweiter Hand und werden ohne Wissen des Eigentümers benutzt? Oder, auch darüber wurde spekuliert, werden die Zugangsdaten gar mit Hilfe von Phishing-Aktionen geerntet?

Einen kommerziellen Verlag, der es wagen würde, derart systematisch, intransparent – und zweifellos illegal – in universitäre Computer-Netzwerke einzudringen, würde man zurecht scharf angehen; man würde den Rücktritt des CEO und rechtliche Konsequenzen fordern. Und ich sehe eigentlich nicht, wieso man das bei Sci-Hub anders halten sollte – aber Alexandra Elbakyan hat offenbar einen Robin-Hood-Bonus.


Hans Zauner





Letzte Änderungen: 18.04.2016