Editorial

Gravitationsstörungen lassen Tauben taumeln

(5.12.16) Ein besonderer „Exot“ unter den meistzitierten Autoren unserer letzten Publikationsanalyse „Anatomie & Morphologie“ war der Zürcher Hans-Peter Lipp. Im Interview spricht er über Ergebnisse und Theorien zur Langstreckenorientierung von Tauben.  
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Hans-Peter Lipp ist Professor am Anatomischen Institut der Universität Zürich und mittlerweile emeritiert. Trotzdem forsche er noch „auf kleiner Flamme“ weiter, verrät er uns. Eigentlich kommt Lipp aus der Verhaltensforschung. Auf sein Thema, das ihn bis heute fasziniert, brachte ihn sein Militärdienst: „In der Schweiz gab es noch einen Armee-Brieftaubendienst“, erinnert er sich an seine Anfänge in der Forschung an Tauben.

Besonders treibt ihn die Frage um, wie sich die Tiere über lange Distanzen orientieren und immer wieder zurück nach Hause finden. In den Zeitraum unserer aktuellen Publikationsanalyse fielen hierzu zwei Paper (PLoS One 8(10): e77102 und J Exp Biol. 15;217(Pt 22): 4057-67), in  denen Lipp und Kollegen der Frage nachgehen, ob Tauben ein Gedächtnis für Gravitationsvektoren haben. Darüber wollten wir mehr erfahren…

Editorial

Laborjournal: Beim Migrationsverhalten im Tierreich ist meistens von einem Magnetsinn die Rede, der bei der Orientierung hilft. Ich habe aber niemals zuvor von einem „Gravitationssinn“ gehört – und kann mir auch nicht vorstellen, wie der funktionieren soll.

Hans-Peter Lipp: Erstmal muss ich sagen: Das ist nicht meine Theorie, sondern die Theorie des ukrainischen Ingenieurs und Erfinders Valeryi Kanevskyi. Nach all den vielen Jahren meiner Arbeit mit den Tauben war ich doch einigermaßen frustriert, dass keine der gängigen Theorien das Ortsgedächtnis erklären konnte. Kanevskyi Theorie war die einzige, die mir zusagte.

Dieser Theorie nach prägt sich die Taube eine Art „Heimatvektor“ ein. Eine Richtung, in die die Schwerkraft zeigt. Und bringt man eine Taube jetzt an einen anderen Ort – selbst wenn sie dabei unter Narkose ist – dann merkt sie, dass der neue Gravitationsvektor vom abgespeicherten „Pfeil“ abweicht. Über den Winkel zwischen beiden Vektoren kann sie errechnen, in welche Richtung sie fliegen muss, um nach Hause zu gelangen. Nur: Die Gravitation ist für uns ja bloß als Beschleunigungskraft spürbar, die uns zum Boden drückt. Und in Europa fühlt sich diese Beschleunigung ja nicht anders an als in Afrika. Ich kann mir vorstellen, dass man über Bezugspunkte am Himmel, wie den Sonnenlauf, feststellt, dass man woanders ist. Doch allein über die Gravitation? Mir leuchtet das nicht ein!

Lipp: Die Grundvorstellung Kanevskyis war, dass sich im Kopf der Taube viele kleine Gyroskope bilden. Gyroskope sind diese Kreisel, die sich mit hoher Geschwindigkeit drehen. Die werden zum Teil heute noch in großen Flugzeugen eingesetzt.

Das hat mit dem Drehimpulserhaltungssatz zu tun, richtig?

Lipp: Genau.

 

"Doch wie muss ein neuronales Gyroskop aussehen?"


Also wenn ich jetzt irgendwo auf der Erde stehe und einen solchen Kreisel zum Rotieren bringe, so dass seine Rotationsebene mit der Ebene des Horizonts identisch ist, dann ist die Achse meines Kreisels identisch mit der Richtung der Schwerkraft. Der Kreisel will diese Ausrichtung beibehalten. Das bedeutet: Wenn ich mich mit diesem Kreisel auf der Erdoberfläche an einen anderen Ort bewege...

Lipp: ...dann beginnt sich der Kreisel allmählich zu neigen.

Eigentlich neigt sich nicht der Kreisel, sondern ich selber verändere meine Neigung, weil die Erdoberfläche gekrümmt ist. Dann ist die neue Schwerkraft-Richtung nicht mehr identisch mit der Achse des Kreisels, und die Kreisebene nicht mehr identisch mit dem Horizont des neuen Ortes.

Lipp: Und aus der Richtung der Neigung können Sie dann die Distanz und die Richtung zurück zu Ihrem Heimatstandort bestimmen. Natürlich gibt es bei einem Kreisel auch noch die Reibung. Und ein Schwachpunkt der Theorie ist, dass niemand so richtig weiß, wie ein neuronales Gyroskop aussehen muss.

Woher kommt denn die Idee, dass es solche biologischen Gyroskope bei den Tauben geben könnte? Was waren die ersten Anhaltspunkte dafür?

Lipp: Kanevskyi hatte einige Pilotdaten aus der heutigen Ukraine. Die russische Regierung hatte ihm damals, in den frühen 80er Jahren, einen Helikopter zur Verfügung gestellt. Und so konnte er Tauben hinterher fliegen, die auf dem Weg nach Hause waren. Er zeichnete deren Route also einfach per Hand auf. Dabei sah er, dass die Tauben ihre Flugrichtung änderten, wenn sie über Gravitationsanomalien flogen. Kanevskyi meinte, dass wir diese Versuche eigentlich noch mal wiederholen müssten.

Jetzt müssen Sie kurz erklären, was eine Gravitationsanomalie ist. Wenn man das Wort googelt, findet man entweder irgendwas mit Raumschiff Enterprise oder man landet auf Esoterik-Seiten. Sie meinen mit ‚Gravitationsanomalien’ aber geophysikalische Besonderheiten.

Lipp: Nehmen wir an, Sie spazieren über die Oberfläche eines idealen Planeten, dann ist die Anziehungskraft an der Oberfläche immer genau gleich.

…Wenn dieser Planet eine exakte Kugel ist und überall die exakt gleiche Dichte hat.

Lipp: Genau. Aber wenn Sie jetzt irgendwo im Untergrund eine riesige Bleimasse eingraben, dann stellt man fest, dass dort, wo das Blei liegt, die Stärke der Gravitation höher ist.

Das bedeutet: Wenn ich da drauf stehe, bin ich ein kleines bisschen schwerer.

Lipp: Interessant wird es aber erst, wenn Sie in den Randbereich gehen, so dass die Bleimasse im Untergrund sich schräg von Ihnen befindet. Dann gibt es eine horizontale Kraft, die den Gravitationsvektor leicht verbiegt.

 

"Am Rand einer Gravitationsanomalie ist der errechnete Kurs falsch"


Das Lot ist also am Rande einer Gravitationsanomalie etwas schief und zeigt nicht mehr exakt zum Erdmittelpunkt.

Lipp: Geophysiker können solche Anomalien messen, indem sie Stück für Stück die Veränderung der Gravitation kartieren. Und wenn sich diese in einem bestimmten Bereich sehr schnell verändert, dann ist das die Randzone der Anomalie. Dazu gibt es Karten. Jetzt nehmen wir einmal an, dass die Taube keinen anderen Anhaltspunkt hätte als ihr Gyroskop – zum Beispiel weil man sie vor dem Transport betäubt hat. Sie berechnet jetzt aus dem Winkelunterschied zwischen Erinnerung und lokalem Lot der Schwerkraft ihre Heimrichtung. Nur: Am Rand einer Gravitationsanomalie ist dieser errechnete Kurs in Richtung Heimat falsch.

…Weil der Schwerkraftvektor dort nicht zum Erdmittelpunkt zeigt, sondern etwas schräg steht. Als wäre sie an einem anderen Ort auf der Erde…

Lipp: Und das wäre dann die Ursache dafür, dass die Taube ihre Position falsch berechnet.

Über wie viel Grad Abweichung vom normalen Lot sprechen wir denn, wenn es um geologische Gravitationsanomalien geht?

Lipp: Das sind sehr geringe Abweichungen, im besten Fall sprechen wir da über Bogensekunden. Und das ist auch eine Krux dieser Theorie.

…Weil die Vögel extrem sensibel für solche fast gar nicht messbaren Abweichungen sein müssen, wenn sie sich mithilfe der Gravitationsrichtung orientieren.

Lipp: Dieses Problem teilt die Theorie aber mit einer anderen Theorie: dem weitgehend akzeptierten Kompassmechanismus der Taube. Der soll nämlich die Inklination des Erdmagnetfeldes messen. Also den Winkel, in dem die Feldlinien in die Erdoberfläche eintreten. Der ist von Breitengrad zu Breitengrad anders, aber auch das sind sehr kleine Unterschiede. Wie die Tauben das machen, bleibt auch heute immer noch ein Rätsel, obwohl dieser Mechanismus besser erforscht ist.

Um zu testen, welche Rolle die Gravitation und das hypothetische „neuronale Gyroskop“ bei der Orientierung spielt, haben Sie Tauben per GPS verfolgt. Wie die Theorie voraussagt, kommen die Tiere über Gravitationsanomalien tatsächlich vom Kurs ab. Und Tauben, die nahe einer Gravitationsanomalie aufgezogen werden, haben Schwierigkeiten, zurück nach Hause zu finden. Konnten Sie diese Kursabweichungen denn auch quantifizieren? Denn wenn in der Randzone einer Anomalie das Lot leicht geneigt ist, müsste man ja genau voraussagen können, um wie viel Grad sich die Taube verrechnen wird.

Lipp: Genau nachweisen kann man das nicht. Aus einem einfachen Grund: Was wir auf den geophysikalischen Karten sehen, sind nur gemittelte Werte zur Gravitation. Wenn Sie jetzt neben einer Felswand am Fuß eines Berges stehen, dann kann die horizontale Komponente lokal sehr viel größer sein, als es sich aus der Karte ergibt.

Man müsste also den genauen Kurs der Tauben nachlaufen und lokal die Gravitation nachmessen?

Lipp: Ja, und ich hatte mir das auch mal vorgenommen. Aber als Emeritus können Sie in der Schweiz keine Forschungsgelder mehr bekommen. Und derart empfindliche Gravimeter sind relativ kostspielig. Also bleibt diese Frage für mich im Moment ungelöst.

Eine andere Sache ist der von Ihnen bereits angesprochene Magnetsinn der Tauben. Man weiß nämlich, dass in der Nähe von Gravitationsanomalien meistens auch das Erdmagnetfeld gestört ist. Im neueren der beiden oben verlinkten Paper haben Sie sich daher speziell eine Gravitationsanomalie angesehen, an der es keine magnetischen Anomalien geben soll. Können Sie denn wirklich ausschließen, dass es nicht doch Magnetfeldeffekte sind, durch die die Tauben über Gravitationsanomalien die Orientierung verlieren?

Lipp: Es gibt wenige vergleichbare Studien. Im Moment weiß ich von einem Projekt, für das jemand die alte Brieftauben-Infrastruktur benutzt. Dort gibt es ein paar magnetische Anomalien ohne Gravitationsabweichungen. Meine Voraussage wäre dann, dass die Tauben das zwar sehr wohl bemerken – das können ja viele Tiere. Dass sie aber ziemlich schnell wieder zurück auf Heimkurs kommen.

Es gibt aber noch einen anderen Punkt zur Theorie der Magnetfelder: Über die Inklination können Sie ja eigentlich nur Ihren Breitengrad berechnen. Aber in Bezug auf die Ost-West-Position gibt es da keine saubere Lösung.

 

"Dazu müssen die Tauben sehr schwache Gravitationskräfte wahrnehmen können"


Da ist die Idee mit dem Gyroskop natürlich eleganter. Allerdings haben wir dabei einen Punkt komplett vernachlässigt: Die Erde dreht sich einmal am Tag um sich selbst. Wenn eine Taube am Äquator sechs Stunden verschläft und wieder aufwacht, müsste sie zu dem Schluss kommen, tausende Kilometer entfernt von ihrer Heimat zu sein. Ihr Gyroskop ist ja dann um 90 Grad gekippt, obwohl sie noch immer am selben Ort ist. Ein biologisches Gyroskop müsste also immer wieder über den Tagesrhythmus neu geeicht werden.

Lipp: Ja, das stimmt. Womöglich nimmt die Taube da die Sonne als Referenz. Mir fallen da klassische Versuche ein, die Klaus Schmidt-Koenig vor Jahren in Tübingen durchführte. Er verstellte die innere Uhr der Tauben – und tatsächlich starteten sie dann auch in eine andere Richtung (Science 131:826-7). Nicht so, dass bei sechs Stunden Zeitverschiebung eine Kursabweichung von genau neunzig Grad eintrat, aber einige Tiere waren verwirrt und hatten Probleme. Die meisten korrigierten ihren Kurs aber ziemlich schnell und tauchten wieder zu Hause auf. Schmidt-Koenig nahm natürlich nicht an, dass da irgendein Gravitationskompass kalibriert werden musste, sondern dachte an einen klassischen Kompass-Mechanismus. So wie wir ja wissen, dass die Sonne mittags im Süden steht.

Eine andere Beobachtung stammt aus den 70er Jahren von William T. Keeton von der Cornell Universität in Ithaca. Der konnte zeigen: Wenn man Tauben immer wieder am gleichen Ort auflässt, verschwinden die zwar sehr schnell und zeigen nicht mehr dieses klassische Suchverhalten. Aber er hatte zudem festgestellt, dass es bei der Flugrichtung eine gewisse Periodizität mit dem Mondzyklus gibt („Animal Migration, Navigation, and Homing“, Springer 1978, S 92-106). Das wurde natürlich heftigst debattiert, denn dazu müssten die Tauben ja sehr schwache Gravitationskräfte wahrnehmen können. Und so klang das damals sehr unwahrscheinlich, erscheint uns heute aber in einem anderen Licht.

Ich habe kürzlich mit einem Piloten über Gyroskope und Navigation gesprochen. Er hat mir erklärt, dass das hochempfindliche feinmechanische Geräte seien. Reibungsarm gelagerte Kreisel, die sich im Vakuum dreißig- bis vierzigtausend Mal pro Minute drehen. Trotzdem seien die nach einigen Stunden schon so ungenau, dass man sie nicht mehr zum Navigieren nutzen dürfe. Wie soll man solch einen Hightech-Kreisel in ein biologisches Organ integrieren? Was könnte sich in der Zelle so schnell und stabil drehen, um solch eine genaue Positionsbestimmung zu erlauben?

Lipp: Um es gleich zu sagen: Ich weiß es nicht! Die einzige vernünftige Erklärung ist, dass es sehr viele kleine Gyroskope gibt. Wenn ich jetzt spekulieren müsste, würde ich vermuten, dass es nicht einmal ein einzelnes Organ ist. Ich hätte vielleicht im Gehirn oder einem anderen Organ viele Zellen verstreut, von denen jede eine Art Gyroskop bildet, das vielleicht mehrere Grad Abweichung hat. Aber aus den gemittelten Messungen könnte sich dann wieder eine sehr hohe Präzision ergeben. Der zweite Punkt ist: Es gibt moderne Gyroskope ohne mechanische Komponenten. Die haben die Größe eines Mikrochips und erfüllen ihre Aufgabe offenbar mit großer Präzision. Aber, um auf Ihre Frage der Biologie zurück zu kommen: Das ist natürlich alles noch hochspekulativ.

In Ihren Papern betonen Sie immer wieder, dass sich die verschiedenen Theorien zur Orientierung nicht gegenseitig ausschließen. Also Magnetsinn, die Orientierung durch Landmarken oder astronomische Marker wie Sonnenstand und Sternbilder. Der Gravitationssinn wäre dann nur eine weitere Orientierungshilfe.

Lipp: Ich denke, dass in Sachen Orientierung jeder Mechanismus zur Hilfe genommen wird, der irgendetwas bringt. Es wäre ja sinnlos in der Evolution, sich auf nur eine Art von Navigationssystem zu beschränken, wenn zusätzlich noch andere leicht erhältliche Informationen zur Verfügung stehen.

Interview: Mario Rembold



Letzte Änderungen: 07.02.2017