Editorial

Süße Belohnung bei seltenen Leiden

(31.01.2019) Pharma-Firmen, die Orphan-Arzneimittel entwickeln, werden von der EU üppig beschenkt. Den Preis dafür zahlen jedoch oft die Patienten.
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Eigentlich war es eine gute Idee. Die Pharma-Industrie sollte mit Zuckerli (neudeutsch: Incentives) dazu bewegt werden, auch für einen schwierigen Markt Medikamente zu entwickeln. Für einen Markt also, der nur bescheidene Gewinnaussichten verspricht – zum Beispiel, weil es einfach nicht genug potentielle Patienten gibt, die das Medikament benötigen. Stichwort: Seltene Erkrankungen.

Die EU spendierte das Zuckerli im Jahr 2000 in Form einer Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden, auch Orphan-Arzneimittel oder Orphan Drugs genannt. Entwickelt ein Pharma-Unternehmen ein Medikament zur Diagnose, Prävention oder Behandlung einer lebensbedrohlichen oder sehr ernsten Erkrankung, die nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen in der EU betrifft, winken attraktive Vorteile: Gebühren fallen weg, die Zulassungsprozedur wird beschleunigt und – besonders süß und unwiderstehlich – den Unternehmen werden in der EU zehnjährige Exklusivrechte ab Marktzulassung gewährt.

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Von Acetylleucin bis Zanolimumab

Derzeit gibt es eine lange Liste von Medikamenten, denen die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) den Orphan-Drug-Status verliehen hat. Von A wie Acetylleucin von IntraBio zur Behandlung der Niemann-Pick-Krankheit bis hin zu Z wie Zanolimumab von TenX Biopharma gegen peripheres T-Zell-Lymphoma. Das Zuckerli scheint der Pharma-Industrie also zu schmecken.

Seit Längerem gibt es jedoch die Befürchtung, dass einige Unternehmen die Orphan-Drug-Verordnung zu ihren Gunsten ausnutzen. Denn regulatorische Grenzen werden den Unternehmen kaum gesetzt. In einem Lancet-Artikel von 2009 beschreiben zwei englische Mediziner, wie sich kurz nach Einführung der Verordnung Pharma-Firmen in Kranken­häusern nach Medikamenten erkundigten, die zwar in der Klinik eingesetzt werden, aber noch nicht lizensiert sind. Carbamylglutamat wird beispielsweise seit den 80ern bei N-Acetyl­­glutamat­­synthetase-Mangel, einer seltenen, erblichen Stoffwechsel­störung, verabreicht. Die Firma Orphan Europe (Firmen-Slogan: We take rare diseases personally) lizensierte das Medikament und, nun mit Exklusiv-Rechten versehen, setzte den Preis gleichmal von 13 Euro pro Gramm auf 310 Euro pro Gramm. Pro Jahr kostete die Behandlung 110.000 Euro statt bisher 5.000.

Ähnliche Geschichten findet man zuhauf, wenn man danach sucht. Statt selbst risikoreiche und langwierige Forschungs- und Entwick­lungsarbeit zu leisten, wie von der EU vorgesehen, kaufen sich große Pharma-Firmen die fertig entwickelten Orphan-Arzneimittel einfach zu und genießen anschließend die zuckersüße Belohnung. Der neueste Fall, erzählt in der Nederlands Tijdschrift voor Geneeskunde, erregt derzeit Aufsehen und Gemüter in den Niederlanden. Im Mittelpunkt steht Lutetium-Octreotat, ein Radiophar­makon zur Behandlung von Patienten mit neuroendokrinen Tumoren (NETs). In der EU liegt die Prävalenz bei etwa 1,6 von 10.000 Menschen – eine klassische Seltene Erkrankung also.

Analogon plus beta-Strahler

Das Präparat entwickelten Mediziner am Erasmus Medical Center in Rotterdam bereits in den 90er Jahren. Es besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen: einem Somatostatin-Analogon und dem Isotop Lutetium-177, eine Seltene Erde. Somatostatin deshalb, weil dessen Rezeptoren häufig auf neuroendokrinen Tumoren zu finden sind. Das Analogon lenkt das Medikament also an die richtige Stelle, an der Lutetium-177 mit seinen beta-Strahlen die Krebszelle von innen zerstört.

Seit fast 20 Jahren stellt die Klinik-eigene Apotheke in Rotterdam das Präparat selbst her und zwar für einen Spottpreis von 4.000 Euro pro Infusion. Insgesamt werden vier Infu­sionen benötigt, das ergibt 16.000 Euro für diese Peptidrezeptor-vermittelte Radionuklid­therapie (PRRT), die auch in Deutschland an vielen Universitätskliniken, beispielsweise in Halle, Jena und München, angeboten wird.

2001 gründeten einige der Rotterdamer Forscher das Start-up Biosynthema und registrierten das Präparat als Orphan Drug. Seit 2008 hat es den Orphan-Drug-Status. 2010 jedoch kaufte das französische Pharma-Unternehmen Advanced Accelerator Applications (AAA) Biosynthema für 10,7 Millionen Euro, um das Medikament unter dem Namen Lutathera weiterzuentwickeln. AAA steckte 40 Millionen in Forschung & Entwicklung und wurde belohnt: Im September 2017 gab die EMA grünes Licht für die Marktzulassung (bis dahin wurde es in Unikliniken unlizensiert verabreicht). Die Marktzulassung wiederum weckte das Interesse des Schweizer Pharma-Giganten Novartis. Ein von der EMA (und FDA) zugelassenes Orphan-Arzneimittel mit jahrelangen exklusiven Vermarktungsrechten war den Schweizern 3,3 Milliarden Euro für alle AAA-Aktien wert.

Therapiekosten verfünffacht

Anschließend kam man in Basel jedoch nicht umhin, den Preis des Medikaments etwas „anzupassen“ – was besonders die Niederländer zu spüren bekamen. Statt der 16.000 Euro pro Therapie soll nun bereits eine Infusion 23.000 Euro kosten. Begründung: das Unternehmen stelle das Präparat unter weitaus strengeren Produktionsbedingungen her und könne es auch viel mehr Zentren in Europa und den USA anbieten. „Der Preis von Lutathera wurde gründlich überdacht und basiert auf dem Nutzen, den die Behandlung den Patienten, dem Gesundheitssystem und der Gesellschaft insgesamt bringt“, heißt es fast heroisch in einem Novartis-Statement an FiercePharma.

Apropos Präparat-Produktion. Weltweit gibt es nur eine einzige Firma (IDB Holland), die für die Nuklearmedizin-geeignetes Lutetium herstellt. 2016 hatte AAA die gesamte IDB-Gruppe für rund 30 Millionen Euro gekauft. Nach der AAA-Übernahme sind praktischer­weise nun auch Teile der Rohstoff-Quellen für das Radiopharmakon fest in den Händen von Novartis. Der Bedarf (und damit der Preis?) wird wohl demnächst ansteigen, wenn ein weiteres Lutetium-haltiges Präparat (Lutetium-PSMA bei Prostata-Krebs) auf den Markt kommt. Dieses und die dazugehörige Firma Endocyte haben sich die Schweizer erst im Oktober für weitere 1,9 Milliarden Euro zugelegt. IDB hat jedoch laut Nederlands Tijdschrift voor Geneeskunde zumindest den holländischen Krankenhaus-Apotheken, die das Präparat auch weiterhin produzieren dürfen, versprochen, den bisherigen Preis beizubehalten. Vorerst.

In Basel versteht man die Aufregung und Empörung der Niederländer nicht so ganz. Der Preis sei gerechtfertigt. Die Weltgesund­heitsorganisation sieht das möglicherweise anders. In einem aktuellen Bericht des Generaldirektors über die Preisbildung von insbesondere Krebsmedikamenten heißt es: „Pharmazeutische Unternehmen setzen Preise aufgrund ihrer kommerziellen Ziele fest, mit einem Fokus darauf, den maximalen Wert herauszuziehen, den ein Käufer bereit ist, für ein Medikament zu zahlen. Diese Art der Preisgestaltung führt oft dazu, dass Krebsmedikamente unbezahlbar werden und somit der volle Nutzen der Medikamente nicht ausgeschöpft werden kann.“ Im schlimmsten Fall wären somit auch die Zuckerli der EU verschwendet.

Kathleen Gransalke



Letzte Änderungen: 31.01.2019