Editorial

Raketentechnik für Mikroben

(03.06.2019) Eigentlich kommt Hydrazin als Raketen­treibstoff zum Einsatz. Doch auch einige Bakterien stellen das Zellgift her und gewinnen daraus Energie.
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Hydrazin ist eine hochreaktive Flüssigkeit. Zusammen mit einem geeigneten Oxida­tionsmittel entzündet sich die Substanz von selbst und lässt Astronauten abheben. Allerdings ist die Stickstoff-Verbindung mit der Summenformel N2H4 gerade wegen ihrer Reaktionsfreude auch ein starkes Zellgift. Doch ausgerechnet diese hochgiftige Substanz kommt im Stoffwechsel einiger Bakterien als Zwischenprodukt vor. Besagte Mikroorganismen oxidieren die Stickstoff-Atome im Hydrazin dann zu elementarem Stickstoff (N 2), den sie an die Umwelt abgeben.

Aus dem Hydrazin gewinnen die Bakterien Energie. Wie genau die beteiligten Enzyme diese Reaktion kontrollieren, das erforscht der Strukturbiologe Thomas Barends am Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung in Heidelberg. Im April hat seine Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Nijmegen, Frankfurt und Bremen Ergebnisse zur Struktur der Hydrazin-Dehydrogenase vorgestellt. Dieses Enzym katalysiert nämlich den Abbau von Hydrazin. Raketentreibstoff in Bakterien – das klingt nach einer recht exotischen Strategie zur Energiegewinnung. „Allein in den Ozeanen sind solche Bakterien aber für dreißig bis siebzig Prozent des Stickstoffs verantwortlich, der wieder zurück in die Atmosphäre gelangt“, verweist Barends auf die ökologische Bedeutung des Stoffwechselwegs.

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Stickstoff im Zellbaukasten

An dieser Stelle sei noch einmal der Stickstoff-Kreislauf in Erinnerung gerufen: Die Zelle braucht Stickstoff in ihrem Molekül-Baukasten, um zum Beispiel Proteine und Nuklein­säuren herstellen zu können. In der Atmosphäre ist das Element zwar reichlich vorhanden, aber die dreifache Elektronenpaar-Bindung des molekularen Stickstoffs ist extrem stabil und für Pflanzen nicht zu knacken. Dazu braucht es Stickstoff-fixierende Mikroorganismen, die unter Energieaufwand atmosphärischen Stickstoff zu Ammonium reduzieren. Ammo­nium wiederum dient nitrifizierenden Bakterien als Energieträger; mit Sauerstoff oxidieren sie das Kation zu Nitrit, welches wiederum von Nitrit-oxidierenden Bakterien zu Nitrat umgewandelt wird.

Ammonium, Nitrit und Nitrat können Pflanzen als Stickstoffquelle nutzen und bauen den Stickstoff in organische Verbindungen ein. So machen die Pflanzen den Stickstoff dann auch für Mensch und Tier verwertbar. Andere Mikroorganismen bauen organisch gebun­denen Stickstoff wieder ab und führen Böden und Gewässern so wieder Ammonium, Nitrit und Nitrat zu. Der Stickstoff-Kreislauf schließt sich durch denitrifizierende Bakterien: Nitrat und Nitrit dienen dabei in anaerober Umge­bung als Sauerstoff-Ersatz, deshalb spricht man auch von Nitrat-Atmung. Es entsteht wieder molekularer Stickstoff in Form von N 2.

Schauen wir nun speziell auf die Nitrifizierer und Denitrifizierer: also zum einen jene Bakterien, die in Sauerstoff-reicher Umgebung Ammonium zu Nitrit abbauen; und zum anderen auf diejenigen, die Stickstoff-haltige Verbindungen aufnehmen und molekularen Stickstoff „ausatmen“. Weil Nitrifizierer und Denitrifizierer problematische Stickstoff-Verbindungen beseitigen, kommen sie auch in Kläranlagen zum Einsatz. In solch einer Kläranlage hatten Forscher 1995 einen ganz neuen Reaktionsweg entdeckt. Sie fanden Bakterien, die Ammonium auch unter anaeroben Bedingungen abbauen; dabei verwenden sie Nitrit als Oxidationsmittel. Im damals erschienenen Paper sprachen die Autoren von anaerober Ammonium-Oxidation – oder kurz: Anammox (FEMS Microbiol Ecol, 16(3): 177-83).

Zellgift im eigenen Kompartiment

Für die Chemiker: Die Reaktion von Ammonium und Nitrit zu Stickstoffgas und Wasser lässt sich formal in drei Teilreaktionen aufsplitten. Der Stickstoff aus dem Ammonium wird zunächst von der Oxidationszahl -3 auf -2 oxidiert, der Stickstoff aus dem Nitrit hingegen gewinnt fünf Elektronen hinzu und landet ebenfalls bei der Oxidationszahl -2. Beide Stickstoff-Atome sind nun in einem Hydrazin-Molekül gebunden – jenem giftigen und hochreaktiven „Raketentreibstoff“. Hydrazin wird dann zu molekularem Stickstoff umge­setzt und liefert ordentlich Power für die ATP-Synthese.

Thomas Barends betont, dass Hydrazin jedoch nicht bloß als formale Zwischenstufe in einer Redox-Gleichung notiert sei: „Wir sprechen hier wirklich von einem freien Inter­mediat. Man kann das in der Zelle nachweisen – das hatte damals niemand erwartet.“ Damit das aggressive Molekül in den Zellen keinen Schaden anrichtet, lagern die Anammox-Bakterien die Reaktion in einem eigenen Organell aus: dem Anammoxosom. „Viele Wissenschaftler werden sicher Schwierigkeiten haben, wenn man von einem Organell spricht“, relativiert Barends, denn schließlich verwendet man diesen Begriff eigentlich für komplex gebaute funktionelle Strukturen in eukaryotischen Zellen. Barends bezeichnet das Anammoxosom lieber schlicht als ein Kompartiment.


Struktur der Hydrazin-Dehydrogenase, genannt „der Würfel“. Credit: T. Barends

Man geht davon aus, dass an der Membran des Anammoxosoms ATP-Synthese stattfindet – ähnlich wie in den Mitochondrien. „Selt­samerweise ist die Hydrazin-Dehydrogenase aber durch das gesamte Anammoxosom hindurch verteilt“, wundert sich Barends. Dieses Enzym lenkt nämlich den geordneten Abbau von Hydrazin und fängt die vier freiwerdenden Elektronen ab. „Vier Elektronen auf einmal pro Molekül, das ist ziemlich viel“, hebt Barends hervor. Für ihr Paper hatte das Forscherteam daher die Hydrazin-Dehydrogenase genauer unter die Lupe genommen. Zum einen elektronenmikroskopisch, zum anderen röntgenkristallographisch.

Elektrisches System aus Häm-Gruppen

Die Dehydrogenase bildet einen Multiprotein-Komplex mit hohlen Würfeln. „Auf der Außenseite eines Würfels gibt es schmale Tunnel, die groß genug sind für das Hydrazin“, berichtet Barends. „Genau dort sehen wir auch die richtige Ladungsverteilung, die für die Hydrazin-Bindung nötig wäre.“ Leider sei es nicht gelungen, Proteinkomplexe mit gebun­denem Hydrazin sichtbar zu machen. „Elektronenmikroskopisch reicht die Auflösung einfach nicht für ein kleines Molekül wie Hydrazin, und die Kristalle haben die Behandlung mit Hydrazin nicht überstanden.“

Barends möchte wissen, was genau mit den Elektronen aus dem Hydrazin passiert. „Bislang kennen wir noch nicht den Elektronenakzeptor, aber im Hohlraum jedes Würfels wäre Platz für ein Protein, das diese Elektronen aufnehmen könnte.“ In jedem Würfel gibt es 192 Hämgruppen – eine rekordverdächtige Zahl, findet Barends. Die Autoren skizzieren in ihrer Publikation einen Weg, über den Elektronen durch eine Art Häm-Netzwerk von der Bindestelle des Hydrazins zu einer „Entnahmestelle“ im Inneren des Würfels geleitet werden können – fast wie ein elektrisches System sei das, schwärmt Barends. Von da aus werden sie zur Membran weitergeleitet. „Wie genau das funktioniert, wissen wir nicht, aber irgendwie müssen die Elektronen zur Membran des Anammoxosoms gelangen“. Dafür, so Barends, seien wahrscheinlich weitere, noch unbekannte Strukturen notwendig. „Wenn unsere Kooperationspartner in Nijmegen die Zellen öffnen – und dabei werden wohl auch die Anammoxosomen zerstört – dann sinkt die Hydrazin-Synthese drastisch ab. Das ist schon ein Hinweis darauf, dass die Sache nicht erledigt ist mit einem Reagenzglas voller Proteine.“

Kein Kurzschluss in der Zelle

In der Membran angekommen landen die Elektronen in einer Elektronen-Transportkette, die letztendlich die Synthese von ATP antreibt – wie im Mitochondrium. Weil aber die Hydrazin-Dehydrogenase im Anammoxosom nicht an die Membran gebunden, sondern wild verteilt ist, muss es hier irgendein Isolationssystem geben. „Im Anammoxosom sitzen Proteine, die Elektronen verbrauchen, gleich neben denen, die Elektronen liefern; ich möchte gern wissen, wie die Zelle da einen Kurzschluss verhindert“, gibt Barends einen Ausblick auf die Fragen, die es noch zu erforschen gibt.

Über die ökologische Bedeutung des Anammox-Prozesses für den Stickstoff-Kreislauf seien auch Fachkollegen auf Tagungen schon mal erstaunt, stellt Barends immer wieder fest. „Man hat diese Bakterien mittlerweile in vielen Biotopen gefunden: Süßwasser, Meerwasser, heiße Quellen – es darf nur kein Sauerstoff vorhanden sein.“

Mario Rembold

Akram M. et al. (2019): A 192-heme electron transfer network in the hydrazine dehydrogenase complex. Science Advances, 5(4): eaav4310



Letzte Änderungen: 03.06.2019