Editorial

Im Osten viel Neues

(29.07.2019) Mit vereinter Computer- und Hirn-Power sollen ab Ende August am CASUS-Zentrum in Görlitz komplexe Systeme aufgedröselt und verstanden werden.
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Das CASUS-Hauptquartier liegt mitten in der Görlitzer Altstadt (1. Haus von links)

Deutschlands östlichste Stadt ist immer einen Besuch wert. In der selbsternannten Europastadt kann man nämlich so ganz ohne Passkontrolle und böse Blicke Grenzen überschreiten (eine Fußgänger-Brücke verbindet seit 2004 Görlitz mit dem polnischen Zgorzelec) und ab und an sogar einem leibhaftigen Hollywood-Star à la Ralph Fiennes, Quentin Tarantino oder Jackie Chan über den Weg laufen (Stichwort: Görliwood).

Görlitz schmückt sich aber auch mit Wissenschaft. Mitten im Zentrum residiert in einem in den 1850er Jahren erbauten Gebäude das Senckenberg Museum für Naturkunde, in dem noch immer an Bodenbiologie geforscht wird. Ein weiterer Wissenschaftsstandort ist die im Osten der Stadt, aber „im Herzen Europas“ gelegene FH Zittau/Görlitz.

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Kohle aus dem Kohle-Topf

Alle guten Dinge sind bekanntlich drei und so lüftet sich noch in diesem Jahr, Ende August, der Vorhang für ein neues Wissenschaftszentrum: Das hochmodern und hochambitionierte „Center for Advanced Systems UnderStanding“, kurz CASUS. Die dafür nötige Kohle soll passenderweise aus dem von der Regierung zugesagten Fördertopf für die sogenannten Kohleländer Brandenburg, Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt kommen. Elf Millionen haben Bund und der Freistaat Sachsen für den Aufbau von CASUS bereits zugesagt.

Die Mittel sind erforderlich, will man doch nichts geringeres als – um es mit Douglas Adams‘ Worten zu sagen – die Komplexität des ‚Lebens, des Universums und des ganzen Rests‘ verstehen. Dies soll, ähnlich wie in Adams‘ Buch, durch die Power von Super­computern gelingen, die am Ende ihrer aufwendigen Berechnungen hoffentlich etwas mehr ausspucken als eine einzige zweistellige Zahl. „Zum ersten Mal in der Menschheits­geschichte haben wir durch neuartige digitale Methoden die Möglichkeit, (komplexe Systeme) zu verstehen und durch die Vernetzung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zu meistern“, lautet die vollmundige CASUS-Vision. Vier sächsische Forschungsinstitute (das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf, das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, das Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik und die Technische Uni in Dresden) haben sich mit Kollegen der Universität Breslau zusammengetan, um diese Vision wahr werden zu lassen.

Überall komplex

Da es komplexe Systeme überall gibt, sind auch die Forschungsthemen bei CASUS breit gefächert. Von exotischen Materie-Zuständen über autonomes Fahren bis hin zu ökolo­gischen Auswirkungen des globalen Wandels ist fast das gesamte wissenschaftliche Spektrum abgedeckt. Das beteiligte Max-Planck-Institut steuert in Form der Gruppe um Ivo Sbalzarini etwas zur Systembiologie bei.

Sbalzarini interessiert sich für die Gewebebildung während der Embryonalentwicklung von C. elegans, D. melanogaster und D. rerio. Allerdings kultiviert er dafür keine Zellen in Plastikschälchen, er simuliert deren Entwicklung zu ‚komplexen‘ Zellverbänden am Computer und hofft so, auf den „Algorithmus der Gewebebildung“ zu stoßen. Denn wie Zellen Signale aus ihrer Umwelt integrieren und daraufhin eine Entscheidung treffen, wie sie sich teilen oder wann sie aufhören zu wachsen, ist immer noch unbekannt. Ultimativ soll ein „virtuelles Gewebe“ kreiert werden, also eine „Computer-Simulation eines multizellulären Systems, das unser aktuelles Wissen über Biomechanik, molekulare Signalwege und räumliche Musterbildung miteinander verbindet.“ Mit dieser Simulation wiederum können Sbalzarini und Co. testen, ob der aktuelle Wissensschatz ausreichend ist, um alle entwicklungsbiologischen Beobachtungen systematisch erklären zu können.

Unorthodoxes Miteinander

Sbalzarini und seine neuen CASUS-Kollegen sollen dabei nicht völlig allein an ihren Projekten arbeiten. „Teams aus Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen sowie aus Mathematikern und Hochleistungsrechner- und KI-Experten treten gemeinsam an, die Komplexität der realen Welt abzubilden und zu verstehen“, heißt es in der offiziellen Pressemitteilung. Dieses interdisziplinäre Miteinander soll, nach den Vorstellungen der Projektleiter, dazu führen, dass unorthodoxe Denkweisen gefördert und „historisch gewachsene Strukturen einzelner Disziplinen überwunden“ werden.

Dort, wo einst mittelalterliche Kaufleute ihre Waren feilboten und, in neuerer Zeit, Brad Pitt vor der Kamera stand – am Untermarkt in der Görlitzer Altstadt – werden demnächst also topmoderne Supercomputer und kreative Köpfe einziehen. Ein Neubau ist jedoch geplant.

„Görlitz soll so zu einem Magneten für Wissenschaftler aus aller Welt werden“, meint Bundesforschungsministerin Anja Karliczek. Schaut man sich jedoch die aktuellen Umfragewerte für die im Herbst anstehende Landtagswahl in Sachsen an, könnte es womöglich etwas schwieriger werden, diese so begehrten „internationalen Spitzenforscher“ nach Ostsachsen zu locken.

Kathleen Gransalke

P.S. Wie Ende Juli ebenfalls zu vernehmen war, erhält Sachsen demnächst noch einen Forschungsstandort. Das Heidelberger DKFZ möchte eine Außenstelle eröffnen und zwar auf dem Campus der Hochschulmedizin der TU Dresden. Die Gründungserklärung wurde am 29.7. im Beisein der hiesigen Polit-Prominenz unterzeichnet.



Letzte Änderungen: 29.07.2019