Editorial

Nochmal von vorn

(17.09.2019) Wiener Zoologen entdecken in nahezu allen Tierstämmen etliche Moleküle, die man eigentlich nur vom Häutungsprozess bei Insekten und Krebsen kennt.
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Ganz ruhig sitzt die noch flügellose Singzikade da, während sich ein länglicher Spalt auf ihrem Rücken öffnet. Im Inneren pulsiert ein noch hellgrüner Körper, schält sich aus der leblosen Hülle, bis ein erwachsenes Tier ans Licht tritt und seine Flügel langsam auffächert. Die Häutung ist das verbindende Merkmal der Häutungstiere (Ecdysozoa), einem Überstamm der Protostomia (Urmünder). Zu dieser Gruppe gehören neben den Gliederfüßern (Arthropoden) auch die Stämme der Bärtierchen, Stummelfüßer und die ausgestorbenen Lobopoden sowie die Hakenrüssler, Korsett­tierchen und einige Stämme wurmartiger Vertreter, darunter die Fadenwürmer (Nematoden).

Ursprünglich gingen Zoologen und Evolutions­biologen davon aus, die an der Häutung beteiligten molekularen Faktoren wären erst im Laufe der Evolution dieses Prozesses entstanden – weit gefehlt, wie Andreas Wanninger und seine Arbeitsgruppe von der Universität Wien zeigen konnten. Etliche am Häutungs­prozess beteiligte Moleküle entwickelten sich schon viel früher, denn sie treten bereits in Tierstämmen auf, die phyloge­netisch weitaus älter sind als der Überstamm der Häutungstiere. Und damit nicht genug: Die molekularen Häutungs-Komponenten kommen sogar in der überwiegenden Mehrheit der mehrzelligen Tiere vor, auch bei denen, die sich überhaupt nicht häuten. „Es hat uns schon sehr überrascht, als wir die Komponenten in dieser Gesamtheit bei so vielen Tiergruppen gefunden haben“, gibt Wanninger zu.

Eigentlich versucht die Wiener Forschungs­gruppe am Department für Integrative Zoologie mittels morphologischer und molekularer Merkmale die Frage zu beantworten, wie Tiere im Laufe der Evolution entstanden sind. „Dabei konzentrieren wir uns besonders auf einen Tierstamm, der eigentlich mit der eLife-Studie nicht wirklich viel zu tun hat – nämlich den Mollusken; also Weichtieren, Schnecken, Tintenfischen und so weiter“, erzählt Wanninger.

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Viel weiter als gedacht

Als sich die Wiener Zoologen die Sequenzdaten der Mollusken genauer vorknöpften, entdeckten sie Komponenten, die primär vom Häutungsprozess bei Insekten und Krebsen bekannt waren. Die Moleküle und ihre dazugehörigen Gene schienen also nicht auf die Häutungstiere beschränkt zu sein, sondern viel weiter verbreitet, als bislang vermutet. „Da Mollusken und Insekten verwandt­schaftlich recht weit auseinander liegen, haben wir uns sicherheitshalber auch die anderen Tierstämme angeschaut.“

Das Ergebnis: Insgesamt fünf an der Häutung von Arthropoden beteiligte Neuropeptide, Hormone und deren Rezeptoren sind teilweise vollständig in Tieren aus insgesamt zwanzig weiteren Stämmen vorhanden. Daraus schließt Wanninger: „Die Komponenten müssen also schon vor der Entstehung der Bilateria, also der Zwei­seitentiere, entwickelt worden sein. Sozusagen im letzten gemeinsamen Vorfahren von Nessel­tieren wie Quallen, Polypen und Co. und den Bilateria – die Komponenten sind quasi uralt.“ Im Hinblick auf Fossilien­funde und die Erdgeschichte wirft Wanninger eine Zahl in den Raum: „Die Häutungs-Moleküle müssen vor über 500 Millionen Jahren entstanden sein. Weil wir ja schon in den Cnidaria, den Nesseltieren, etliche dieser Komponenten finden. Und sogar in dem noch älteren Tierstamm der Ctenophora, den Rippen­quallen, finden wir eines der Häutungs-Peptide.“ Doch was für Komponenten sind das überhaupt?

Andreas Wanninger (hinten rechts) und seine Wiener Arbeitsgruppe.
Foto: AG Wanninger


Bei der Häutung von Insekten und Krebsen spielen vor allem sechs Moleküle eine wichtige Rolle. Am Beispiel einer Drosophila sieht das Abwerfen des ausgedienten Exoskeletts wie folgt aus: Den Anstoß gibt das Prothora­kotrope Hormon (PTTH). Es wird im Insekten­larven-Gehirn ausgeschüttet und bringt eine Signal­kaskade ins Rollen, die zur Biosynthese des Steroid­hormons Ecdyson führt. Sinkt der Ecdyson-Titer, löst das die Freisetzung des Ecdysis-Triggering Hormone (ETH) aus, wodurch wiederum das Eclosion Hormone (EH) in Umlauf kommt. Die beiden Hormone verstärken sich schließlich in einem positiven Feedback-Loop, was die Prozesse unmittelbar vor der Häutung reguliert. Die darauf­folgende, von EH hervorgerufene Freisetzung des Crustacean Cardioactive Peptide (CCAP) startet das Häutungs-Programm. Abschließend reagiert das Peptidhormon Bursicon im Zentralen Nervensystem der Fliege auf die steigenden CCAP-Level und initiiert unmittelbar nach der Häutung die Verfärbung des Exoskeletts und ein typisches  Verhaltens­muster, bei dem das Tier beispielsweise seine Flügel für das anschließende Aushärten ausdehnt.

Wanninger et al. fokussierten sich in ihrer Arbeit auf fünf Mitspieler: PTTH, ETH, EH, CCAP und Bursicon. Bei den Rippenquallen fanden sie das Neurohormon PTTH und das Molekül Trunk, eine durch Genduplikation abgewandelte Form von PTTH. Bei den Nesseltieren folgte dann der explosionsartige Anstieg von Bursicon und EH, die in etlichen Tierstämmen erhalten geblieben sind. „Allerdings haben manche Tiergruppen auch einige dieser Moleküle sekundär verloren – etwa der Stamm der Plattwürmer, bei dem wir nur CCAP finden konnten.“

Aber welche Aufgabe übernehmen die Moleküle in Tieren, die sich überhaupt nicht häuten? Wanninger hat eine Vermutung: „Die Komponenten könnten Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System, etwa den Herzschlag haben.“ CCAP beispielsweise, das von Bonner Zoologen und Kölner Genetikern erstmals aus den pericardialen Organen der Gemeinen Strandkrabbe (Carcinus maenas) isoliert wurde, spielt bei den Krebstieren eine Rolle bei der Regulierung des Herzschlags (PNAS 84: 575–9). Es wurde angenommen, dass dies die Hauptfunktion des Peptids sei – was sich im Namen widerspiegelt.

Dennoch bleibt die Frage, welche Aufgaben die Moleküle in den anderen Tierstämmen übernehmen – aus einem einfachen Grund: „Bisher war es vollkommen unbekannt, dass die Komponenten so weit verbreitet sind“, so Wanninger, der aber auch schon eine Idee für einen experimen­tellen Ansatz hat: „Wir müssten in den einzelnen Organismen die Peptidsynthese inhibieren, um zu sehen, welche Aufgabe die Komponenten dort übernehmen.“

Interessanterweise fanden die Zoologen auch im Tierstamm der Wirbeltiere vier der untersuchten Faktoren: PTTH/Trunk, ETH, EH und CCAP; Bursicon fehlte. Auch hier steht ihre Funktion noch in den Sternen, und das, obwohl in dem Stamm durchaus Tiere vorkommen, die sich häuten – nämlich Reptilien und Amphibien. „Es ist relativ sicher anzunehmen, dass die Häutung dieser Tierklassen evolutionär nichts mit jener der Arthropoden zu tun hat“, stellt Wanninger klar. „Der Prozess ist sicher konvergent entstanden.“

Revolutionäre Entdeckung

Eine weitere Frage interessiert Wanninger ebenso brennend: Wie kam es dazu, dass die einzelnen Komponenten bei den Arthropoden zu einem so komplexen Netzwerk verbunden werden konnten, welches die Häutung der Tiere ermöglichte. „Die Einzel­komponenten für die Häutung waren ja schon vorher da, aber nur die Häutungstiere waren in der Lage, sie so zu verbinden, dass der Häutungs­prozess entstand“, sagt Wanninger und ergänzt: „Zumal die Faden­würmer, die ja auch zu den Häutungs­tieren gehören, zwar nah mit den Arthropoden verwandt sind, aber vollkommen andere Komponenten für die Häutung einsetzen, denn ihnen fehlen CCAP, EH, ETH und Bursicon.“ Die Häutung würde oft als das Merkmal dargestellt, das alle diese Tiergruppen als Häutungs­tiere vereine. Die molekularen Komponenten zeigten allerdings, dass der Häutungs­prozess teilweise vollkommen unterschiedlich ablaufen müsse.

Und auch die Entwicklungs­geschichte der Rippen­quallen könnte womöglich eine neue Wendung nehmen. Bislang kursierte die Hypothese, das Nervensystem der Ctenophoren habe sich im Gegensatz zu allen anderen Gruppen, die ein Nervensystem besitzen, vollkommen unabhängig evolviert. Ein neues Puzzleteil ist die Entdeckung von PTTH/Trunk in den Rippenquallen. „Das Peptid ist ganz klar homolog zu den PTTH-Molekülen der anderen Tiergruppen und könnte jetzt einen neuen Anhaltspunkt geben, ob das Nervensystem der Ctenophora wirklich unabhängig entstanden ist – oder eben nicht“, meint Wanninger. „Das ist das erste Mal, dass man ein Signalpeptid in einer Rippenqualle gefunden hat, das ganz klar homolog ist zu einem Neuropeptid in den Bilateriern.“

Eine Botschaft ist dem Zoologen im Zuge seiner Entdeckungen besonders wichtig: „Es gibt keine simplen oder einfachen Organismen – zumindest nicht auf molekularer Ebene. Sie sind alle relativ komplex, auch wenn sie auf den ersten Blick morphologisch einfach wirken. Wir sehen immer mehr, dass viele Komponenten auf molekularer Ebene relativ früh entstanden sind, aber nicht unbedingt komplexe morphologische Strukturen hervorgebracht haben. Deswegen ist es oft voreilig, von einem simplen oder komplexen Organismus zu sprechen; das ist so nicht gerechtfertigt.“ Denn in uns steckten die gleichen Bausteine, die schon sehr früh notwendig waren, um überhaupt ein mehrzelliges Tier zum Funktionieren zu bekommen. Die gleichen Komponenten würde man heute eben nur in unterschiedlichen Kontexten wiederfinden. „Im Wesentlichen sind wir tierische Organismen uns molekular gar nicht so unähnlich, wie wir das immer glauben.“

Juliet Merz

De Oliveira, A. et al. (2019): Ancient origins of arthropod moulting pathway conponents. eLife 2019;8:e46113

 

Dieser Artikel erschien zuerst in Laborjournal 9-2019.






Letzte Änderungen: 17.09.2019