Editorial

Wie entstehen Tumoren?

Krebsstammzellen -- schon mal gehört? Dass sich Krebs aus verrückt gewordenen adulten Stammzellen entwickeln könnte, gehört zu den heiß diskutierten Theorien der modernen Krebsforschung. Was steckt dahinter?

(10.05.2006) Stammzellen und Krebszellen haben so einige Gemeinsamkeiten. Beide sind unreife Zelltypen, beide können wandern, pflegen intensiven Kontakt und Informationsaustausch mit ihrer Umgebung, siedeln bevorzugt in bestimmten Gewebenischen und sind epigenetisch reguliert. Die Ähnlichkeit von Krebs- und Stammzellen manifestiert sich am deutlichsten in den ureigensten Eigenschaften von Stammzellen: Sich selbst erneuern und Abkömmlinge erzeugen zu können, die sich differenzieren.

Heute weiß man, dass eigentlich jedes Organ über adulte Stammzellen verfügt. Liegt es da nicht nahe, zu untersuchen, ob nicht diese Stammzellen den eigentlich Sinn ihres Daseins durch Mutationen oder spezielle Einflüsse von außen aus den Augen verlieren können? Und ob derart transformierte adulte Stammzellen die Keimzelle für einen Tumor werden?

Sind die Zellen jung oder in den Jungbrunnen gefallen?

Theoretisch können Tumoren auf zwei Weisen entstehen. Zum einen aus unreifen Zellen, deren Differenzierungsprogramm durcheinander gerät. Schon lange hatte man den Verdacht, dass sich aus "liegen gebliebenen" embryonalen Vorläuferzellen embryonale Tumoren wie das Medulloblastom und das Neuroblastom entwickeln könnten. Der Verdacht hat sich erhärtet. Tatsächlich hat man inzwischen herausgefunden, dass sich zwei Arten von Medulloblastomen mit unterschiedlichen genetischen Veränderungen aus zwei verschiedenen Stammzelltypen bilden.

Der Krebs von Erwachsenen -- so glaubte man und so steht es auch in den Lehrbüchern -- sollte dagegen anderen Ursprungs sein. Er entwickelt sich aus ausgereiften, differenzierten Zellen, die durch eine Ansammlung von Mutationen in ein unreifes Stadium zurückgefallen sind.

Diese Theorie gerät nun ins Wanken. Die Idee von der differenzierten Zelle, die in den Jungbrunnen fällt und dadurch juvenile Eigenschaften annimmt, könnte sich als Irrweg herausstellen. Dass dem so ist, davon ist Otmar Wiestler, wissenschaftlicher Vorstand des DKFZ in Heidelberg, schon jetzt überzeugt.

"Wie sollen voll ausdifferenzierte Zellen in ein undifferenziertes Stadium zurückfallen? Andererseits: wenn Krebs aus unreifen Zellen entsteht, wo sollten die herkommen?", beschreibt er das Dilemma der Krebsforschung. "Jahrelang hat man gerätselt, warum im Gehirn, von dem man annahm, dass es keine undifferenzierten, proliferierenden Zellen hat, Tumoren wie die aggressiven Glioblastome wachsen können." Die Antwort darauf könnte lauten: aus adulten Stammzellen.

Von zögerlichen Anfangsversuchen...

Den ersten ernsthaften Versuch, Krebsstammzellen zu identifizieren, startete Ende der 90er Jahre John Dick von der Universität in Toronto. Er übertrug Zellen von Patienten mit akuter myeloischer Leukämie (AML) auf immuninkompetente Mäuse. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass nur wenige der Tumorzellen in den Mäusen Krebs auslösen konnten. Offensichtlich waren längst nicht alle Leukämiezellen pluripotent genug, um neue Tumoren zu bilden und hatten demnach einen bestimmten Differenzierungsgrad erreicht. In den letzten Jahren konnte Dick zeigen, dass die Zellen, die man bisher als eine homogene Menge von Leukämiezellen ansah, sich in ihrem Erneuerungspotential erheblich unterscheiden -- ganz so wie normale blutbildende Stammzellen.

...zu monatlichen Neuigkeiten

Inzwischen erscheinen monatlich Berichte über die Entdeckung neuer Krebsstammzellen. Sie wurden beispielsweise in den Tumoren des Dickdarms, der Prostata, der Bauchspeichdrüse, der Brust, der Leber und der Lunge entdeckt. Auch das Rätsel der Glioblastome beginnt sich zu lösen: Sie entwickeln sich aus stammzellartigen Zellen, die den Stammzellen charakteristischen Marker CD133 exprimieren.

CD133-positive Zellen wachsen in Kultur in Form von stammzelltypischen Neurosphären. Aus ihnen können sich neue Zellen differenzieren, und aus ihnen wachsen nach einer Transplantation auch wieder neue Tumoren. Diese Zellen zeichnen sich gar durch eine besonders hohe Tumorigenität aus. Zellen hingegen, die CD133 nicht auf der Oberfläche tragen, verhalten sich nicht so und können auch keine neuen Tumoren auslösen.

Möglicherweise sind solche hochpotenten Krebsstammzellen auch die Keimzellen von Metastasen. Und vielleicht siedeln sie -- wie adulte Stammzellen -- in bevorzugten Nischen. Das würde beispielsweise erklären, warum manche Tumoren eine ausgesuchte Vorliebe für bestimmte Organe haben, um dort Metastasen zu bilden.

Falls nun Tumoren tatsächlich aus Krebsstammzellen entstünden, könnte man versuchen Therapien gezielt auf diese Zellen zu fokussieren. Manche Forscher hoffen beispielsweise, dass durch das Vernichten dieser Zellen das Tumorwachstum gestoppt und die Geschwulst von bösartig in gutartig verwandelt werden könnte. Womöglich könnte man man auf diese Weise gar aggressive Behandlungen vermeiden, die jede Tumor- und viele gesunde Körperzellen vernichten. Oder wenigstens reduzieren.

Noch in den Kinderschuhen

Angesichts der wachsenden Evidenz hält Wiestler die Krebsstammzellen-Theorie für belegt. Er glaubt, dass zahlreiche Tumoren aus adulten Stammzellen entstehen, deren genetische Programmierung aus dem Ruder gelaufen ist. Allerdings steckt die Forschung an Krebsstammzellen noch in den Kinderschuhen. Herausgefunden hat man indes schon, dass Gene, die zu den Hedgehog-, Wnt- und Notch- Signalwegen gehören und die Proliferation von Krebszellen ankurbeln, auch die Selbsterneuerung normaler Stammzellen antreiben. Umgekehrt unterbinden Tumorsuppressorgene wie p53, p16INK4a, p19ARF und Pten nicht nur das Wachstum von Krebszellen, sondern auch die Proliferation von Stammzellen.

Die meisten Fakten hat man durch Untersuchungen von Leukämien gewonnen, die Analyse von Krebsstammzellen solider Tumoren steht noch ganz am Anfang. Die derzeit größte technische Schwierigkeit liegt darin, dass sich die Zellen, ähnlich wie adulte Stammzellen, nur schlecht in Kultur vermehren lassen. An diesem Problem mühen sich derzeit viele Arbeitsgruppen ab, denn ohne In vitro-Vermehrung sind umfassende Untersuchungen über die genetischen Veränderungen in den Krebsstammzellen nicht mögich.

Amerika hat die Nase vorn -- doch Deutschland rüstet nach

Die Protagonisten der Krebsstammzellforschung sitzen derzeit in den USA, Kanada und der Schweiz. Es sind etwa Irving Weissmann von der Standford University, der "Papst der Knochenmarksstammzellen", sowie Peter Dirks (Toronto), Michael Clarke (Stanford), Sean Morrison (Ann Arbor) oder Andreas Trumpp (Lausanne) -- um nur einige zu nennen. Doch auch in Deutschland hat die Arbeit an Krebsstammzellen begonnen. Beispielsweise untersuchen Christel Herold-Mende und Bernhard Radlwimmer (DKFZ und Universität Heidelberg) Krebsstammzellen von Hirntumoren, in Tübingen arbeitet Wolfgang Wick an Glioblastom-Stammzellen (beide übrigens mit Geld der Sibylle Assmus-Stiftung) und in Bonn verfolgen Mitarbeiter von Torsten Pietsch die Stammzellqualitäten von Medulloblastomzellen. Zudem ist mit Hilfe der Deutschen Krebshilfe vor kurzem ein Verbundprojekt zum Thema angelaufen.

Das Thema Krebsstammzellen sollte man in Zukunft mit offenen Augen verfolgen -- es wird wohl sehr spannend werden.

KARIN HOLLRICHER

(Der Artikel erschien zuerst in Laborjournal 05/2006 auf Seite 26. Auf mehrfachen Wunsch steht er jetzt auch online)



Letzte Änderungen: 10.05.2006