Eine Revolution in den Startlöchern?
(05.11.2019) Kann die Blockchain-Technologie dabei helfen, die Replikationskrise zu überwinden und bessere Wissenschaftler aus uns zu machen?
Unsere Wissenschaftskultur ist ungerecht. Oft behaupten dies der wissenschaftliche Nachwuchs oder auch Forscherinnen und Akademiker außerhalb sogenannter „exzellenter“ Forschungseinrichtungen. Forscher, die im bestehenden System gut etabliert sind, sehen es häufig anders. Doch auch letztere können den Druck nicht abstreiten, Studien in Zeitschriften mit möglichst hohem Impact-Faktor zu veröffentlichen. Schließlich klopft der nächste Vergleich ihrer Produktivität bereits an die Tür.
Überrascht da die seit Jahren grassierende Replikationskrise? Dass es oftmals nicht gelingt, publizierte Ergebnisse erneut zu reproduzieren? Verwundert es, dass die spektakulärsten Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens öfter mit Artikeln in High-Impact-Journalen zusammenfallen? Ist ein in der Öffentlichkeit sich ausbreitender Wissenschafts-Skeptizismus tatsächlich so unerklärlich?
Gleichzeitig beschwört in wissenschaftskulturellen Diskussionen seit einer Weile ein Zauberwort eine offene Art von Wissenschaft, in der Forscher nicht nur zuverlässiger publizieren, sondern vielmehr die Welt der Forschung mehr noch in ihrer Gesamtheit verändern wollen. Das Zauberwort, das all dem vorgeblich Leben einhauchen soll, lautet Blockchain.
Warum könnte eine derartige Datenstruktur unsere Wissenschaftskultur revolutionieren? Weil sie die Urheberschaft jeder Forschungsleistung notarisieren und somit eine Art Gewissen der Forschungsgemeinde darstellen würde. Als unbestechliche „Vertrauensmaschine“ würde sie erfasste Methoden, Datensätze und Analysen ihren Autoren zuordnen, sie aber vor allem detailliert nachvollziehbar wie auch fälschungssicher machen. Selektive Darstellungen von Ergebnissen wären offensichtlich. Verfälschungen – etwa durch eine nachträgliche Anpassung der Testparameter, sogenanntes p-Hacking – würden protokolliert. Statistik-Schwächen und fehlende Sorgfalt hätten keine lange Halbwertszeit.
Anreiz durch digitale Währung?
Blockchain-Anhänger sehen beispielsweise die Möglichkeit, ganz ohne altmodische Wissenschaftsverlage auszukommen. Als Publikationsplattform könnte anstelle der Verlage eine Peer-to-Peer-Datenbank dienen. Dank Blockchain-Basis wäre jegliche Bemessung während des Publikationsprozesses dann objektivierbar und überprüfbar. Selbst Gutachten könnten veröffentlicht werden. Redaktionelle Entscheidungen zur Priorität von Artikeln entfielen, da unendlicher digitaler Speicherplatz die Artikelanzahl pro Ausgabe nicht länger beschränkte.
Bliebe der Begutachtungsprozess. Wie in Laborjournal 06/2019 (Seite 8) zusammengefasst, funktioniert Post-Publication-Peer-Review laut englischen Informationswissenschaftlern nicht wirklich. Über neunzig Prozent der von ihnen untersuchten 15.000 Artikel blieben unkommentiert, was sie auf eine Frage mangelnden Anreizes zurückführen. Die Blockchain-Technologie schafft ein solches Anreizsystem, und zwar in Form einer digitalen Währung. Mit einer Kryptowährung könnten Autoren je nach Download und Zitationshäufigkeit ihrer Artikel belohnt, Editoren und Gutachter bezahlt werden – vielleicht sogar mit Gewinnbeteiligung am Erfolg begutachteter Artikel. Zum Einreichen neuer Manuskripte wären digitale Münzen nötig.
Punktesammeln für Fördermittel
Ein weiteres Beispiel: Anonyme Autoren beschrieben 2016 ein dezentrales System zur Verteilung von Fördermitteln. In dessen Mittelpunkt stehen Academic Endorsement Points (AEP), mit denen Wissenschaftler die Forschungsleistung und -vorhaben anderer Wissenschaftler belohnen. Erhaltene AEPs bemessen den Wert eines Forschungsobjekts und den Impact eines Wissenschaftlers. Nur Forschungsvorhaben mit genug AEPs werden real finanziert. Und zwar, weil sie die Wissenschaftsgemeinschaft als lohnenswert erachtet, selbst wenn ein gegenwärtiger Fördergeber sie als zu risikoreich befände.
Kurzum, Blockchain ist in aller Munde. „Unsere Wissenschaftskultur wird sie trotzdem nicht umwälzen“, erklärt Sönke Bartling von Blockchain for Science im Interview für Laborjournal online. Denn warum sollte ein Forscher seine Daten leichter falsifizierbar machen? Warum seine Forschungsideen veröffentlichen? Warum sollten Verlage ihrem lukrativen Geschäft schaden? Warum sollte ein Drittmittelgeber seine Verwaltungsarbeit in die Hände der Forschergemeinschaft legen – und sich selbst abschaffen?
Zu radikal für Wissenschaftler?
Nur wenn Blockchain-Technologie weitflächig in der Wissenschaftswelt angenommen würde, könnte sie ihre Vorteile ausspielen. Da dafür Fördergeber und Verleger, vor allem aber die Wissenschaftler selbst ihre Einstellungen fundamental ändern müssten, werden in naher Zukunft höchstens Teilaspekte die (Bio-)Wissenschaften erreichen. Mehr wäre zu radikal für alle Beteiligten, sind sie doch zu sehr dem Vermächtnis einer behäbigen über Jahrhunderte gewachsenen Wissenschaftskultur verhaftet.
Daher ist sicher: Würden die (Bio-)Wissenschaften eines Tages tatsächlich aus ihrem digitalen Tiefschlaf erwachen, wäre das nicht weniger als eine Revolution.
Henrik Müller
Dieser Artikel wurde für unsere Webseite stark gekürzt. Den vollständigen Text können Sie in unserem aktuellen Heft 10-2019 lesen.