Editorial

Immunsystem mit Gedächtnisverlust

(06.01.2020) Eine Masern-Infektion ruft eine starke Immun­suppression hervor und löscht einen Teil des Immun­gedächtnisses. Ein Grund mehr für die Masern-Schutzimpfung!
editorial_bild

Kürzlich hat der Deutsche Bundestag beschlossen, ab 2020 eine Masern-Impfpflicht einzuführen. Wer sein Kind in einer öffentlichen Einrichtung betreuen lassen möchte, muss zukünftig also den entsprechenden Impfschutz nachweisen oder eine Geldstrafe zahlen. Das Gleiche gilt für das Betreuungspersonal.

Mit dieser bundesweiten Impfpflicht – der ersten seit Abschaffung der Pocken-Impfpflicht in den 1980er Jahren – möchte Deutschland der Tatsache entgegenwirken, dass hierzulande die Impfquoten immer noch zu niedrig liegen. Erreicht werden soll ein Gruppenschutz, der auch nicht geimpfte Personen umfasst. Die magische Zahl heißt 95 % – liegt die Impfquote so hoch, geht das Masernvirus, das für seine Vermehrung auf den Menschen angewiesen ist, in der Bevölkerung verloren. Eine solche Elimination ist bereits einmal weltweit für das Pockenvirus geglückt, nun soll sie nach Plan der Weltgesundheits­organisation auch beim Masernvirus gelingen. Allerdings ist selbst Deutschland von diesem Ziel noch weit entfernt, wie die 543 dokumentierten Krankheitsfälle des vorletzten Jahres zeigen.

Editorial

Weder harmlos, noch auf Kinder beschränkt

Warum es ein überaus lohnenswertes Unterfangen ist, das hoch ansteckende Masernvirus, das alles andere als eine harmlose Kinderkrankheit auslöst, zu eliminieren, zeigt eine aktuelle Veröffentlichung in Science Immunology. Eine Gruppe bestehend aus britischen, niederländischen und deutschen Forschern, letztere vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen, untersuchte dafür die immun-unterdrückende Wirkung einer Masern-Infektion.

Tatsächlich lassen sich die meisten Masern-assoziierten Todesfälle nämlich gar nicht auf die Masern-Infektion selbst zurückführen, sondern vielmehr auf Sekundär-Infektionen wie bakterielle Lungenentzündungen, für die viele Betroffene sehr anfällig werden. Auf den ersten Blick erscheint das paradox, denn das Masernvirus löst nach der Infektion eine sehr starke Immunantwort aus – erkennbar an hohem Fieber, das mit einem meist ausgeprägten Krankheitsgefühl und einem typischen Hautausschlag einhergeht. Zurück bleibt eine lebenslange Immunität. Im Gegenzug wird allerdings die Abwehr gegen andere Infektionskrankheiten extrem geschwächt und das teilweise über Jahre hinaus.

Verlust von Vielfalt

Um diesem Phänomen genauer auf die Spur zu kommen, untersuchten die Autoren eine Gruppe niederländischer Kinder, die aus religiösen Gründen nicht geimpft waren und deshalb an Masern erkranken konnten. Im Vergleich mit Kindern, die von den Masern verschont geblieben waren, hatte bei infizierten Kindern nach der Erkrankung die Vielfalt der B-Lymphozyten deutlich abgenommen. Dies – genauer die Vielfalt des B-Zell-Rezeptors, den die B-Lymphozyten auf ihrer Oberfläche tragen – dient als Maß für die Immunkompetenz. Denn je mehr verschiedene B-Zell-Rezeptoren in einem Organismus vorkommen, desto mehr Erreger-Varianten kann dessen Immunsystem erkennen.

Dieses Ergebnis war unerwartet, denn auch wenn die Lymphozyten-Zahl während einer Masern-Infektion typischerweise deutlich abnimmt – die Viren vermehren sich in Lymphozyten –, so steigt die Zahl nach überstandener Krankheit schnell wieder an. Die neuen Ergebnisse zeigen aber eindrücklich, dass es dabei zu einem Verlust von Vielfalt kommt, der die Funktionalität des Immunsystems einschränkt. Ein Grund hierfür könnte sein, dass sich das Masernvirus auch in den hämatopoetischen Stammzellen im Knochenmark, also den Zellen, aus denen die Lymphozyten hervorgehen, vermehrt und diese dadurch absterben könnten.

Das durch die Masern-Infektion geschwächte Immunsystem ist also nur noch eingeschränkt in der Lage, auf neue Infektionen zu reagieren. Noch gravierender scheint aber die Tatsache, dass die Masern-Infektion auch Teile des Immungedächtnisses löscht, indem es Gedächtnis-B-Zellen zugrunde gehen lässt. Zwar erholten sich auch hier die Zellzahlen nach abgeklungener Infektion, aber wiederum blieb die Vielfalt auf der Strecke. Im Klartext bedeutet das, dass die frühere Immunität – erworben durch durchgemachte Krankheiten oder Impfungen – im großen Umfang verloren geht. Die Forscher sprechen deshalb von einer Immun-Amnäsie.

Umsonst geimpft

Was das konkret bedeutet, zeigten sie im Tiermodell. Dazu immunisierten sie zuerst eine Gruppe von Frettchen und ließen diese anschließend eine Infektion mit dem Hundestaupe-Virus durchmachen, das wie das Masernvirus zur Gattung Morbilliviren innerhalb der Paramyxoviren gehört und gleichermaßen immunsupprimierend wirkt. Das Virus war allerdings zuvor so abgeschwächt worden, dass es keine klinischen Symptome mehr auslösen kann. Am Ende wurden alle Frettchen mit dem Influenza-A-Virus konfrontiert, gegen das sie anfangs geimpft worden waren. Mit eindeutigem Ergebnis: Im Vergleich zu Tieren, die nicht mit dem Hundestaupe-Virus infiziert worden waren, wiesen die infizierten Tiere deutlich weniger Antikörper gegen das Grippevirus auf. Auch zeigten sie deutlich stärkere Krankheitssymptome.

Die Wirkung der Grippe-Impfung war folglich bei den Frettchen durch die Infektion mit dem Hundestaupe-Virus teilweise zunichte gemacht worden. Petrova et al. diskutieren, dass eine solch gravierende Immunsuppression vermutlich nur bei etwa 10 Prozent der an Masern erkrankten Personen zu beobachten ist. Doch selbst diese vergleichsweise niedrige Zahl bedeute wohl, dass die globalen Auswirkungen von Masern-Infektionen auf das Gesundheitssystem zurzeit deutlich unterschätzt werden. Glücklicherweise schützt eine Impfung gegen beides, die akute Krankheit und die dadurch hervorgerufene Immunschwäche.

Larissa Tetsch

Petrova V. et al. (2019): Incomplete genetic reconstitution of B cell pools contributes to prolonged immunosuppression after measles. Science Immunology, 4:eaay6125

Foto: Public Domain (CDC)







Letzte Änderungen: 06.01.2020