Editorial

Forscher und ihre Ideen

(14.02.2020) Aus unserer Reihe 'Anekdoten aus dem Forscherleben': Wissenschaft lebt von Ideen – doch manch eine platzt, bevor man sie zu pflücken bekommt.
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Das Seminar war eigentlich vorüber. Doch da kam sie wieder – die Frage, die ihm schon so oft gestellt wurde:

„Ähem, Professor Stenzel, Sie sind doch schon so lange im Forschungsgeschäft. Was braucht es ihrer Meinung nach, um ein erfolgreiche und vielleicht sogar berühmte Forscherin zu werden?“

Erwartungsvoll starrten ihn die Augenpaare dreier Studentinnen an.

Jedes Mal fühlte sich Professor Stenzel etwas unwohl in seiner Haut, wenn er mit diesem Thema konfrontiert wurde. Denn wenn er ehrlich war, wusste er nicht wirklich, wie er sie beantworten sollte. Das heißt, er konnte natürlich schon einiges zu dem Thema sagen – doch wirklich zufrieden war er eigentlich nie mit dem, was er den Studentinnen und Studenten schließlich mit auf den Weg gab.

So auch dieses Mal. Wieder sonderte er einige der altbewährten Bemerkungen ab, die ihm schon lange als reine Plattitüden vorkommen, die allenfalls weise und sinnvoll klingen. „Man muss vorurteilsfrei und visionär sein, damit man zur richtigen Zeit offen für die richtige Idee ist.“ ... „Man muss in der Lage sein, zu denken, was niemand zuvor gedacht hat." ... „Großartige Ideen sind nur eine Seite der Medaille, dazu muss man auch Zugang zu den neuesten Technologien haben, um sie zu testen.“ ... „Eine intellektuell fordernde Umgebung kann viel dazu beitragen, großartige Ideen zu entwickeln.“ ... „Manchmal braucht man aber auch einfach ein wenig Glück.“ ... Und und und ...

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Ideen ja – aber große Ideen?

Am Ende lächelten die Studentinnen selig und zufrieden, bedankten sich – und begannen fünf Meter weiter sofort, aufgeregt miteinander zu diskutieren. Professor Stenzel dagegen hatte wieder diesen wohlbekannten schalen Geschmack im Mund. Die Drei waren so enthusiastisch, und er zweifelte nicht, dass jede von ihnen jetzt dachte: „Jaha, so wird’s gehen – und genau da will ich hin. Hier bin ich richtig!“.

Stenzel selbst hingegen war natürlich schmerzlich bewusst, dass das Bild, das er für sie gezeichnet hatte, allenfalls ein idealistisches Bild dessen war, was es brauchen könnte, um ein berühmter oder zumindest erfolgreicher Forscher zu werden. Tatsächlich wusste er natürlich genau, dass die Realität sehr oft völlig andere Wege geht.

Das betrifft vor allem den Einfluss großer Ideen. Welche vermeintlich „erfolgreichen“ Forscher hatten denn tatsächlich irgendwann eine „große“ Idee? Er brauchte ja nur seinen eigenen Werdegang betrachten. Natürlich hatte er Ideen, und davon gar nicht mal so wenige. Eine große Idee jedoch hatte er nie, das gab er mittlerweile seinem eigenen Ego gegenüber zu. Und dennoch betrachten ihn viele als erfolgreichen Wissenschaftler. Also zumindest als einen, der ein wenig über den Durchschnitt hinausragt.

Der große Knall

Auf einmal musste Stenzel jedoch grinsen. Breit grinsen. Fast hätte er sogar losgelacht. Inmitten dieser trüben Gedanken erinnerte er sich plötzlich an eine kurze Episode, als er tatsächlich einmal meinte, kurz vor einer großen Idee zu stehen...

Stenzel schrieb damals an einem Antrag und ließ seinem Gehirn schon eine ganze Weile lang Zeit und Raum, um kreuz und quer durch das Universum seines Forschungsthemas zu fliegen. Langsam aber unaufhörlich breitete sich dabei ein Gefühl der Begeisterung immer weiter in ihm aus. Er merkte, wie sich eine Schlüsselidee immer stärker in seinem Gehirn materialisierte – eine Schlüsselidee, die alles zu einem brillanten Bild zusammenfassen würde... Er konnte sie deutlich sehen, aber noch nicht endgültig festnageln... Ein paar wenige Puzzleteile noch... Jetzt nicht locker lassen!... Nur noch ein paar Minuten klares, scharfes und konzentriertes Denken...

... Als plötzlich ein junger Student mit lautem WUMMS die Tür aufschlug, in Stenzels Büro stürmte und sofort losblökte: „Meinen Sie, ich soll die Säule mit oder ohne Detergenz laufen lassen?“

Es war wie ein kompletter Computerabsturz. Alle Daten sofort und irreversibel gelöscht.

Auf Nimmerwiedersehen

Und so geschah es, dass die womöglich einzige große Idee im wissenschaftlichen Leben von Professor Stenzel auf Nimmerwiedersehen im Nirwana verschwand. Es ist womöglich schwer zu begreifen, aber so sehr er sich in den folgenden Wochen auch anstrengte – er bekam nicht mal einen Zipfel davon wieder zu fassen.

Professor Stenzel grinste immer noch angesichts dieser Erinnerungen. Heute konnte er sich tatsächlich darüber amüsieren. „Eigentlich sollte man den Studenten solche Geschichten auch erzählen“, dachte er und verließ den Seminarraum.

Ralf Neumann

(Foto: Pixabay, congerdesign)

(Die einzelnen Geschichten dieser Kolumne sind uns in aller Regel nicht genau so, aber doch sehr ähnlich referiert worden. Die Namen entsprechen keinen realen Vorbildern.)



Letzte Änderungen: 13.02.2020