Editorial

Ordnung ins Namenschaos

(06.07.2020) Nur Bakterien und Archaeen in Reinkultur bekommen einen wissen­schaft­lichen Namen. Mikrobiologen fordern aber ein Umdenken.
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Forscher können inzwischen mithilfe von DNA-Sequen­zierungs­technologie und Bioinformatik Mikro­organismen anhand ihrer Genom­sequenzen auch in komplexen Mischungen von Organismen aufspüren und identifizieren – beispiels­weise in Proben aus den polaren Ozeanen, tiefen unterirdischen Minen oder von der Oberfläche der menschlichen Haut. Wenn sich diese neuentdeckten Organismen nicht in Reinkultur züchten lassen, können sie jedoch nicht verbindlich nach klaren Regeln benannt und taxonomisch eingeordnet werden sowie Eingang in eine konsolidierte Liste finden. So ist es im International Code of Nomenclature of Prokaryotes (ICNP) festgelegt.

„Der Versuch der Mikrobiologie, ein Bakterium in Reinkultur zu gewinnen, passt leider für Bakterien aus der Umwelt mehrheitlich nicht. Sie wachsen deutlich langsamer als die üblichen Laborstämme und brauchen deshalb viel länger, um als Kolonie auf Agarplatten sichtbar zu werden. Häufig wissen wir auch noch zu wenig über die exakten Bedingungen und Mikro­nährstoffe, so beispiels­weise für Mikro­organismen aus der Tiefsee, aus extremen Habitaten oder von solchen, die in oder auf tierischen oder pflanzlichen Wirten leben“, erläutert Ute Hentschel Humeida vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozean­forschung in Kiel. Sie ist Mitautorin einer in Nature Microbiology veröffentlichten Roadmap, in der ein Konsortium aus über 100 Forscherinnen und Forscher fordert, dass für die Benennung und taxonomische Einordnung von Bakterien und Archaeen endlich nicht mehr nur eine Reinkultur Voraus­setzung ist. „Eine neuere Erkenntnis ist, dass Prokaryonten in Gemein­schaften leben, zum Beispiel in Biofilmen. Sie tauschen auch wechselseitig Stoffe aus und sind voneinander abhängig, haben also eine syntrophische Lebensweise. Das lässt sich unter Labor­bedingungen nur schwer nachahmen.“

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Große, dunkle Materie

Um die Evolution der Mikro­organismen zu verstehen, müsste aber auch die bisher unkultivierbare „dunkle Materie“ an Mikro­organismen in den Stammbaum des Lebens eingeordnet werden können, zum Beispiel anhand ihres Erbguts. Wie groß diese dunkle Materie in etwa sein könnte, zeigten australische Wissenschaftler vor ein paar Jahren. Anhand von öffentlich zugänglichen Metagenom-Sequenzen rekonstruierten sie 7.280 Genome von Bakterien und 623 Genome von Arachaeen mit Draft-Qualität (Nat Microbiol, 2(11):1533-42).

Bisher ist die Benennung meist so geregelt, dass neuentdeckte Bakterien solange sie nicht in Reinkultur gezüchtet werden können, den Namens­zusatz Candidatus vor den vergebenen Art-Namen geschoben bekommen. Es herrscht hier also eine klare Zwei-Klassen­gesellschaft: Mikroben mit üblichem, binärem Artnamen und solche mit dem Candidatus-Status. Die Roadmap nennt nun folgende Lösungen für eine verbindliche Benennung und taxonomische Einordnung von nicht-kulti­vierbaren Mikro­organismen: Modifizierung des bestehenden Kodex, sodass auch DNA als Typenmaterial anerkannt wird, Erstellung eines separaten Kodex für die Nomenklatur von bisher nicht kultivierten Bakterien und Archaeen und schließlich die mögliche Vereinigung beider Kodizes zu einer neuen Richtlinie.

Einfacherer Austausch

Bereits 2019 machte eine Forscher­gruppe aus den USA, Australien und Deutschland Vorschläge wie sich Genome aus Umweltproben eindeutig benennen und taxonomisch einordnen lassen. Dies würde den wissen­schaftlichen Austausch über die betreffenden Mikro­organismen deutlich vereinfachen. Sie plädieren dafür, dass Forscher neue unkultivierte Linien wenigstens in Form einer Art und Gattung benennen. Dabei können als Qualitäts­kriterien für Drafts von hoher Qualität die Kriterien des MIMAG/SAG-Standards (Minimale Information zu Metagenom-assemblierten Genomen/einzelnen amplifizierten Genomen) dienen, soweit anwendbar. Demnach sollten Genome mehr als 90 % komplett sein, weniger als 5 % Kontaminationen enthalten und die 23S, 16S und 5S ribosomale RNA nahezu komplett sowie mindestens 18 codierende Transfer-RNAs wiedergeben (Syst Appl Microbiol, 42(1):15-21).

Doch wo sollen die entsprechenden DNA-Isolate für die Scientific Community hinterlegt werden? „Ich denke, dass diese Proben am besten bei den etablierten Stamm­sammlungen aufgehoben sind, beispielsweise in der Deutschen Sammlung für Mikro­organismen in Braunschweig“, schlägt Hentschel Humeida vor. Der Mikrobiologe und Roadmap-Mitautor Ramon Rosselló-Móra plädiert in einem 2019 publizierten „Dialogue“ dafür, dass aus Kapazitäts- und Kosten­gründen vor allem die Genom­sequenzen verpflichtend als Typenmaterial in einer inter­nationalen Datenbank gespeichert werden sollten.

Die Aufnahme der unkultivierten mikrobiellen dunklen Materie in den existierenden Kodex wurde in einer Umfrage des International Committee on Systematics of Prokaryotes (ICSP) bereits abgelehnt. Man darf gespannt sein, wie die Gemeinschaft der Bakterien- und Archaeen-Forscher entscheiden wird, um die Nomenklatur und Taxonomie in ihrem Gebiet auf Vordermann zu bringen und das Chaos bei der Benennung der steigenden Zahl an Erbgut-basierten Neuent­deckungen zu beseitigen.

Bettina Dupont

Foto: Pixabay/Humusak





Letzte Änderungen: 06.07.2020