Editorial

Von selbstherrlichen Professoren und ihren Studenten

(21.08.2020) Aus unserer Reihe „Anekdoten aus dem Forscherleben“: Für jeden Prof kommt irgendwann der Moment, wenn ein Student sagt: „Chef, Du liegst falsch!“
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Professor emeritus Julius Gleiter war wieder einmal in seiner eigenen Vergangenheit auf Reisen – konkret flogen seine Gedanken gerade durch den Frühling seiner Forscherkarriere, als er als junger, aufstrebender W2-Professor an einer etwas besseren Provinz-Uni arbeitete...

»Ja, damals war ich ein richtiges Paradebeispiel für einen selbstherrlichen Chef – einen bossy Boss«, musste er lächeln. »Ich hielt es geradezu für Gesetz, dass die jungen Hüpfer in meiner Gruppe exakt meinen Ideen folgen müssen«, setzte er zu einem inneren Monolog an. »Sogar welche experimentellen Ansätze sie verfolgen sollten, schrieb ich ihnen genauestens vor. Mit meinem aufgeblasenen Ego konnte ich mir damals einfach nicht vorstellen, dass einer dieser Grünschnäbel mit eigenen wertvollen Ideen aufwarten könnte. Und tatsächlich wagte es keiner der ehrfürchtigen Studenten, meine Autorität auch nur leise anzuzweifeln. Bis zu diesem bestimmten Tag...

Ich weiß nicht mehr genau, warum ich an diesem Tag den Kühlraum betrat. Jedenfalls hatte ich mir gerade den Kragen hochgeschlagen, um mit der Kälte fertig zu werden, als ich bemerkte, dass in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes einer meiner damaligen Doktoranden damit beschäftigt war, eine ganze Reihe von Proben in eine komplizierte Maschine zu übertragen. Eine ganze Weile beobachtete ich ihn schweigend und versuchte zu erraten, was in aller Welt er dort wohl tat.

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"Was tut der da?"

Ich erinnerte mich, dass wir zuvor über Bindungsversuche gesprochen hatten. Natürlich hatte ich ihm dabei auch gesagt, dass er die Versuchsserie mit einem ganz bestimmten Bindungs-Assays durchführen sollte. Aber was er genau hier und jetzt tat, war definitiv kein Bindungs-Assay – wie ich verblüfft feststellte.“

Ein paar Minuten später drückte mein Doktorand schließlich mit einem tiefen Atemzug den Startknopf der Maschine. Ich wartete noch einen kurzen Moment, bevor ich mich rührte. Sofort drehte meine Doktorand sich um und schreckte auf: „Oh, äh... hallo! Was machen Sie denn hier in dieser dunklen Kälte? "

Ich weiß nicht mehr, was ich genau antwortete – aber ich erinnere mich, dass ich mit der unschuldigsten Stimme, die ich jemals aufbringen konnte, fragte: „Gibt es vielleicht zufällig irgendwelche Neuigkeiten von den Bindetests?“

Mein Doktorand rollte mit den Augen: „Ja, ich bin fast fertig mit den Assays, die Sie vorgeschlagen haben. Aber keine Aktivität, bis jetzt.“

„Keine Aktivität“, wiederholte ich dümmlich. „Hmm, darüber werde ich nachdenken, wenn ich wieder im Warmen bin... Aber sagen Sie mir: Dieses Gerät, das Sie da gerade beladen haben – damit kann man doch definitiv keine Bindungs-Assays durchführen, oder?“ 

„Nein“, war die kurze Antwort des Doktoranden.

"Ich versuche einen anderen Ansatz!"

Ich wartete auf eine weitere Erklärung, aber er starrte mich mit seinen dunklen, glitzernden Augen weiter schweigend an.

„Hrrm“, räusperte ich mich schließlich. „Vielleicht wären Sie dann so freundlich, mir zu erklären, was Sie da eigentlich tun.“ 

„Ich versuche einen anderen Ansatz“, antwortete er kryptisch.

„Eine andere Herangehensweise. Gut, gut...“ Ärgerlich kräuselte ich Stirn und Lippen. „Nun kommen Sie schon. Etwas mehr, bitte! Oder glauben Sie, ich sollte nicht wissen, was meine Studenten mit meinen Fördergeldern in meinem Labor machen?“

„Ich versuche, das Bindeprotein zu reinigen“, antwortete mein Doktorand. Seine Stimme blieb immer noch provokativ ruhig, aber seine dunklen Augen schienen kleine helle Blitze auszusenden.

„Sie reinigen das Bindungsprotein?“ Ich wohl gerade eine Art „Papageien-Tag“. „Hatten wir uns nicht beide darauf geeinigt, dass wir am ehesten etwas über den Signalmechanismus lernen würden, wenn wir die Bindeaktivität des Extrakts unter einer ganzen Reihe verschiedener Bedingungen untersuchen würden? Schließlich sind es doch die Mechanismen, die zählen – nicht einzelne Proteine!“

In der Sackgasse muss man umdrehen

„Richtig.“ Mein Doktorand lockerte seinen starren Blick. „Und ich habe in letzter Zeit Abertausende von Bindungs-Assays durchgeführt, ohne dem System damit irgendwelche neuen Erkenntnisse zu entlocken. Glauben Sie mir, Chef, mit diesem Ansatz kommen wir nicht weiter! Try the same but harder war in der Wissenschaft noch nie eine vielversprechende Strategie. Wenn man in der Sackgasse steckt, muss man umdrehen und etwas Neues ausprobieren".

„Stattdessen reinigen Sie das Bindungsprotein.“ Ich steckte definitiv in einem ziemlich dummen Wiederholungsmodus fest.

„Ja, Chef. Nicht umsonst sagen die Protein-Experten: Form follows function! Bitte, lassen Sie mich das Bindeprotein reinigen und seine Struktur studieren. Ich bin sicher, dass wir damit wertvolle Hinweise darauf erhalten werden, welche Art von Signalmechanismus es letztlich auslöst.“

„Und das ist es, was Sie hier tun: das Bindeprotein reinigen?“ Wow, eine Wiederholung der Wiederholung!... 

„Genau. Ja, ich weiß – ich hätte es Ihnen schon früher sagen sollen. Aber seien Sie ehrlich, Sie hätten meinen Vorschlag doch von vornherein abgelehnt. Daher dachte ich, ich könnte Sie vielleicht demnächst mit ersten vielversprechenden Ergebnissen besser überzeugen. Jetzt, wo sie mich ‚erwischt’ haben, kann ich Ihnen leider noch nicht viel zeigen – aber ich habe dennoch das starke Gefühl, dass dieser Ansatz tatsächlich funktionieren wird. Also lassen Sie mich bitte weitermachen.“

Noch nie zuvor hatte ein Student auf diese Weise mit mir gesprochen – und damit deutlich zum Ausdruck gebracht, dass mein Ansatz definitiv falsch sei. Aber irgendetwas musste in diesem Moment ‚Klick’ in mir gemacht haben – jedenfalls traute ich meinen eigenen Ohren fast nicht, als ich mich sagen hörte. „Okay, klingt vernünftig. Fahren Sie damit fort. Aber bitte halten Sie mich auf dem Laufenden.“«

Irgendwie hat es "Klick" gemacht

Gleiter nickte zufrieden. »Heute weiß ich, dass dies der Schlüsselmoment für mich war, in dem ich verstand, dass es im Gegensatz zu meiner bisherigen ‚herrischen’ Haltung eine meiner höchsten Pflichten als Professor und Betreuer ist, meinen Studenten nicht nur zu erlauben, ihren eigenen Ideen und Vorstellungen zu folgen, sondern sie sogar aktiv dazu zu ermutigen. Klar, sie können damit hier und da scheitern, aber das gehört sowieso dazu. Und unter dem Strich macht sie das womöglich sogar zu besseren Wissenschaftlern.«

Dass Gleiters ehemaliger Doktorand durch seinen instinktiven Ansatz schließlich den gesamten Signalmechanismus enträtselte und sich damit als einer der besten Studenten erwies, die er je hatte, war nur noch eine dünne Randnotiz seiner Gedankenreise. Vielmehr machte sein Hirn plötzlich einen Zeitsprung zu einem Gespräch mit einem Studenten seines Ex-Doktoranden während eines Kongresses viele, viele Jahre später – also mit einem seiner wissenschaftlichen Enkel sozusagen. Dieser erzählte ihm dort in erstaunlicher Offenheit, wie es in dessen aktuellem Labor so läuft. Am Ende des Berichts blieb Gleiter erstaunt – wie auch ein wenig konsterniert – zurück:  Offenbar war sein ehemaliger Doktorand in all den Jahren selbst zu einem ziemlich ätzenden „Bossy-Boss“-Professor geworden. Seiner früheren eigenen Erfahrung in Gleiters Labor zum Trotz.

Ralf Neumann

Zeichnung: Rafael Florés

 

(Die einzelnen „Geschichten“ dieser Kolumne sind uns in aller Regel nicht genau so, aber doch sehr ähnlich referiert worden.)

 

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Letzte Änderungen: 20.08.2020