Editorial

Auf dem Weg zu Massentests (2)

(25.08.2020) Pro Tag hundert­tausende SARS-CoV-2-Proben bearbeiten? Mit LAMP-Seq kein Problem, sagt Jonathan Schmid-Burgk. Die klinische Validierung läuft.
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Schmid-Burgk arbeitete bis vor kurzem in Feng Zhangs Gruppe am Broad Institute. Seit Juni leitet er eine Arbeits­gruppe am Bonner Institut für Klinische Chemie und Klinische Pharma­kologie und möchte die LAMP-Seq-Methode automatisieren.

Laborjournal: Was qualifiziert LAMP-Seq im Vergleich zur herkömm­lichen RT-qPCR für SARS-CoV-2-Massentests?
Jonathan Schmid-Burgk: Die Methode ist hoch­skalierbar und läuft auf existierender Infra­struktur. Jedes der etwa 190 Illumina-Next-Seq-Geräte in Deutschland könnte mit LAMP-Seq einhundert­tausend Proben pro Tag analysieren. Natürlich ist unser Verfahren auch mit größeren und kleineren Geräten kompatibel. Allein hier in Bonn verfügen wir am West-German Genome Center über Sequenzier­kapazitäten von bis zu zwei Millionen Proben pro Tag.

LAMP-Seq kommt also ohne PCR aus?
Schmid-Burgk: Nein, die isothermale Amplifikation ersetzt die PCR nicht. Im RT-LAMP-Schritt amplifizieren wir vorhandene virale RNA exponentiell mit strang­versetzenden DNA-Polymerasen. Dadurch müssen wir die Doppelstränge nicht immer wieder in einem Thermo­cycler denaturieren und erzielen einen höheren Durchsatz. Aufgrund des Amplif­ikations-Mechanismus, der die Verdopplung einer Haar­nadelstruktur ausnutzt, entstehen allerdings Concatemere derselben Sequenz jedoch in unter­schiedlicher Länge – ein Agarosegel zeigt eine Leiter vieler Banden.

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Für eine Short-read-Sequen­zierung benötigen Sie doch aber eine DNA-Bibliothek definierter Länge?
Schmid-Burgk: Genau, und zwar von unter 1.000 Basen. Außerdem müssen die DNA-Fragmente über Adapter­sequenzen an ihren Enden verfügen. Deshalb amplifizieren wir die mit LAMP erzeugten Wieder­holungs­einheiten mit einer PCR und fügen gleichzeitig die notwendigen Adapter­sequenzen an.

Wenn Sie nicht um eine PCR herum­kommen, wo liegt der Vorteil?
Schmid-Burgk: Erstens benötigt die isothermale Amplifikation nur einfache Heizgeräte, funktioniert also selbst im Wasserbad. Zweitens muss die virale RNA für den RT-LAMP-Schritt nicht aus Abstrichen gereinigt werden. Das macht unser Verfahren skalierbar. Wir haben Bedingungen gefunden, die RNA-Genome freisetzen und gleichzeitig Nukleasen inaktivieren. Leider ist die Zusammen­setzung unseres besten Lysepuffers ein Betriebs­geheimnis der Lucigen Corporation. Ich wünschte, in Anbetracht der gegenwärtigen Pandemie wäre solches Wissen Open Source. Drittens, und das ist unser eigentlicher Entwick­lungsschritt, fügen wir mit den LAMP-Primern Barcodes ein. Dadurch kann ein einziger Labor­mitarbeiter die PCR hunderttausender Proben in nur einem Thermocycler in weniger als einer Stunde durchführen.

Wie sehen diese Barcode-LAMP-Primer aus?
Schmid-Burgk: Das Besondere an LAMP-Primern sind ihre zwei entgegen­gesetzt orientierten Binde­stellen am 5‘- und 3‘-Ende, die beide im Verlauf der LAMP-Reaktion mit Teilen der gesuchten Zielsequenz hybri­disieren müssen. Unsere Barcodes liegen deshalb in der Primer­mitte, also zwischen den beiden Binde­stellen. Zehn Nukleotide lange Barcodes funktio­nieren in unseren Händen sehr gut.

Barcodes dieser Länge erlauben es, etwa eine Million unter­schiedliche Sequenzen und somit Proben parallel zu verarbeiten!?
Schmid-Burgk: Theoretisch ja. Natürlich wollen wir aber eine Verwechslung von Proben durch falsch gelesene Basen vermeiden. Deshalb unterscheiden sich alle Barcodes mit einer Leven­shtein-Distanz von drei oder mehr Positionen. Für eine Verwechslung müsste ein Sequencer also drei Positionen gleich­zeitig falsch lesen. Da wir jede Probe ungefähr eintausend Mal sequenzieren und die Fehler­raten derzeitiger Verfahren des Next-Generation-Sequencing bei 0,24 Prozent pro Base liegen, ist das fast ausgeschlossen. Allerdings begrenzen wir uns so auf 9.000 verschiedene Barcodes.

Sie können also 9.000 Proben parallelisieren?
Schmid-Burgk: Ja, fast. Als wir die ersten 480 Barcodes testeten – eine Notwen­digkeit für die Zulassung als Diagnostik­verfahren – funktionierten zehn Prozent der LAMP-Primer zu unserer Überraschung nicht. Es dauerte ein wenig, bis wir empirisch herausgefunden hatten, dass sie keine Motive enthalten dürfen, die eine Homologie zu den vier Basen an ihrem 3‘-Ende aufweisen. Denn eine inerte Haar­nadelstruktur verhindert die isothermale Amplifikation, die Nuklein­säuren ja nicht wie die PCR aufschmilzt. Das ist wahr­scheinlich das wissen­schaftlich interessanteste Ergebnis unseres bioRxiv-Manuskripts [DOI: 10.1101/2020.04.06.025635v2].

Wie viele Barcodes verwenden Sie also?
Schmid-Burgk: Bisher haben wir 7.000 Stück designt, wir können pro LAMP-Schritt folglich 7.000 Proben gleichzeitig bearbeiten. Wenn wir mit den Primern der nachfolgenden PCR aber zum Beispiel zehn weitere Barcodes einführen, analysieren wir schon 70.000 Proben pro Durchlauf und pro Sequen­ziergerät.

Bisher sind etwa einhundert Mutationen im SARS-CoV-2-Genom identifiziert. Detektieren Ihre Barcode-Primer alle diese Genom­varianten?
Schmid-Burgk: Erstens wählen wir alle Primer so aus, dass sie mit keinen Mutationen der über vier­tausend SARS-CoV-2-Genome in der NCBI-Datenbank überlappen. Zweitens verwenden wir zwei Primerpaare, die unter­schiedliche Regionen der N- und E-Gene binden. Ich vermute, unsere klinische Validierungs­studie am Uniklinikum Bonn wird zeigen, dass LAMP-Seq selbst bei Proben mit unbekannten Mutationen nicht ausfällt.

LAMP wurde bereits vor zwanzig Jahren entwickelt. Warum etabliert es sich erst jetzt als PCR-Ersatz?
Schmid-Burgk: Tut es nicht. Denn es kommt immer darauf an, was Sie wollen. Zwar produziert LAMP keine saubere DNA definierter Länge, ist aber wesentlich einfacher als PCR. Es braucht nur eine Heizquelle, um die expo­nentielle Amplifikation eines Virusgenoms durchzuführen und etwa durch eine Farbreaktion oder einen Papier­streifentest nachzuweisen. Solch ein SARS-CoV-2-Schnelltest könnte die Pandemie­bekämpfung zum Beispiel in Pflegeheimen, an Flughäfen oder in Entwick­lungsländern entscheidend unterstützen. Tatsächlich basieren die FDA-zugelassenen SARS-CoV-2-Tests von Abbott Laboratories und Color Genomics bereits auf LAMP.

Deren Tests sicher weniger sensitiv sind als LAMP-Seq!?
Schmid-Burgk: LAMP-basierte Schnelltests können grundsätzlich ähnlich sensitiv sein. Denn die Sensitivität hängt nur von der Anzahl vorhandener Virusgenome und der ersten Amplifika­tionsreaktion ab. Unser Detek­tionslimit mit 95-prozentiger Konfidenz liegt derzeit bei etwa fünfzig RNA-Molekülen, ist somit etwas schlechter als das einer qPCR. Allerdings überführen wir als Ausgleich einfach mehr vom Abstrich in die Reaktion. Unsere Volumina werden ja nicht durch die Gefäßgrößen von Thermo­cyclern begrenzt. Im Gegensatz zu Farb­reaktionen in Schnelltests funktioniert LAMP-Seq aber auch zuverlässig mit unge­reinigten Proben und verursacht keine falsch-positiven Ergebnisse.

Da Sie durch Sequenzierung detektieren?
Schmid-Burgk: Genau. Nur eine Sequen­zierung verleiht absolute Gewissheit, dass tatsächlich eine virale Sequenz ein positives Ergebnis ausgelöst hat. Wir sequenzieren jeweils zwanzig Nukleotide des Virusgenoms je eintausend Mal pro Probe. Falsch-positive Ergebnisse durch Zufalls­produkte schließt das nahezu komplett aus. Ein weiterer Vorteil der Sequenzierung besteht darin, die Ergebnisse Hundert­tausender Personen direkt digital verfügbar machen zu können. Das ist natürlich die ideale Daten­grundlage für Gesund­heitsämter und Kontakt­verfolgungs-Apps, da es wesentlich skalierbarer ist als Farb­reaktionen oder das Ablesen von Papierstreifen.

Was sind Ihre konkreten Pläne für populations­weite Testungen?
Schmid-Burgk: Aus den epidemio­logischen Berechnungen von Sten Linnarsson am Karolinska-Institut in Stockholm und anderen wissen wir, dass wir die SARS-CoV-2-Pandemie nur mit Tests und Quarantäne Infizierter beenden können. Dafür müssten wir ganz Deutschland alle elf Tage testen. Das wären 7,5 Millionen Proben pro Tag, was an beispielsweise zwanzig teilnehmenden Standorten weniger als 400.000 Proben pro Standort macht. Da LAMP nur Sequenzier­vorlagen in Gegenwart von SARS-CoV-2 generiert, blieben selbst bei hoher akuter Durch­seuchung der Gesamt­bevölkerung von, sagen wir, fünf Prozent nur wenige Zehntausend Sequen­zierungen pro Standort. Ein lllumina NovaSeq 6000 schafft pro Tag etwa zehn Milliarden Lesevorgänge.

Pro Land reicht theoretisch also eine einzige Sequenzier­maschine, insofern alle Proben am gleichen Standort wären. Scheitert Ihre Eindämmungs­strategie nicht an dieser logistischen Mammutaufgabe?
Schmid-Burgk: Testung und Rückmeldung von Ergebnissen innerhalb von 24 Stunden ab Abstrich sind möglich. Beispiels­weise hat die Berliner IT-Firma Healthmetrix bereits digitale Lösungen entwickelt, um Test­ergebnisse anonymisiert an Smartphones zurück­zumelden. Die Logistik am Anfang ist die Heraus­forderung. Wir brauchen Personal, das die Abstriche durchführt und inventarisiert, ein Unternehmen, das sie zu Analyse­zentren transportiert, und Roboter, die sie automatisiert prozessieren. Während all dem muss die Adresse oder das Smartphone der getesteten Person zum Beispiel durch eine maschinen­lesbare Kennung auf ihrem Proben­röhrchen mit den Nukleotid-Barcodes in ihrer Probe korreliert bleiben. Proben so früh wie möglich in ein automa­tisierbares Format zu überführen, ist entscheidend.

Vielleicht könnten Testwillige selbst­genommene Speichelproben einschicken, ähnlich wie bei DNA-Sequen­zierungsfirmen wie 24genetics oder MyHeritage?
Schmid-Burgk: Dann bräuchten wir ein Logistik­unternehmen als Partner, das Proben millionenfach transportiert und den Infektions­schutz gewährleistet. Wir denken eher an Container in der Innenstadt oder mobile Fahrzeuge, an denen sich Leute in hohem Durchsatz abstreichen lassen. Eine Fachkraft vor Ort würde jeden Tupfer abbrechen und direkt in eine Mikro­titerplatte stellen. Ab dann wäre alles automa­tisierbar. Für solche Fragen arbeiten wir im Rahmen des gerade eingereichten BMBF-Antrags „Bundesweites Forschungsnetz ‚Angewandte Surveillance und Testung‘ (B‐FAST)“ mit Michael Knop in Heidelberg zusammen. Während wir das LAMP-Seq-Verfahren hier am Universitäts­klinikum Bonn an Rachen­abstrichen validieren, evaluieren unsere Heidelberger Kollegen unter anderem die Speichel­testung.

Bei 83 Millionen Bundesbürgern bräuchten Sie ebenso viele Tupfer für eine einzige Moment­aufnahme von ganz Deutschland. Wie schätzen Sie die Gesamtkosten ein?
Schmid-Burgk: LAMP kostet momentan fünfzehn Euro pro Probe, haupt­sächlich weil die strang­versetzenden DNA-Polymerasen urheber­rechtlich geschütztes Firmen­eigentum sind. Ein Entgegen­kommen seitens der Hersteller­firmen wie New England Biolabs und Massen­expression vor Ort könnten die Kosten um den Faktor zehn verringern. Die Sequenzier­kosten sind dank der Leistungs­fähigkeit moderner Sequenzier­maschinen mit etwa zwei Cents pro Probe vernach­lässigbar. Bleiben die Logistikkosten.

Für die Sie Unterstützung von lokalen Behörden erhalten?
Schmid-Burgk: Zumindest sind wir bereits im Gespräch mit der Landes­regierung von NRW, um LAMP-Seq als Massentest­verfahren für pathogene Erreger zu etablieren. Die meiste Zeit verwenden meine Bonner Team-Kolleginnen Ricarda Schmit­hausen, Kerstin Ludwig und ich aber momentan darauf, mehr Proben zur klinischen Validierung von LAMP-Seq zu akquirieren und die finanziellen Mittel zum Bau einer Roboter­anlage zu sichern. Um 100.000 Proben pro Tag automatisiert zu prozessieren, müssen wir sechs verschiedene Roboter im Wert von drei Millionen Euro kombinieren. Sobald diese Summe steht, können wir den Prototyp bauen.

Bestimmt wird das öffentliche Interesse an einem solchen Massentest­verfahren nicht steigen, falls ein SARS-CoV-2-Impfstoff erhältlich ist!?
Schmid-Burgk: Ich hoffe für uns alle, dass ein Impfstoff schnell zugelassen wird! Noch sind SARS-CoV-2-Vakzine aber Zukunfts­musik, während wir unser Verfahren schon jetzt zum Pandemie­ausstieg einsetzen könnten. Und selbst falls wir unsere Infra­struktur nicht mehr bräuchten, wäre sie binnen Wochen auf zukünftige Pandemien umstellbar. Doch können wir politische Entschei­dungsträger davon überzeugen?

Das Gespräch führte Henrik Müller

Foto: Uni Bonn

Dieser Artikel ist eine Online-Vorab-Veröffent­lichung aus dem demnächst erschei­nenden Laborjournal-Heft, Ausgabe 9-2020. Im gestrigen Teil 1 beschreibt Henrik Müller weitere Massentest-taugliche Verfahren, die helfen könnten, die SARS-CoV-2-Pandemie zeitnah zu bewältigen.

 



Letzte Änderungen: 25.08.2020