Editorial

Hauptsache Karriere

(20.11.2020) Aus unserer Reihe „Anekdoten aus dem Forscherleben“: Führungsqualitäten sind Grundvoraussetzung für wissenschaftlichen Erfolg, nicht wahr!?
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Die Totenköpfe musste jemand schon vor Wochen ins Betriebsjournal des Spektrometers gekritzelt haben. Ohne Zweifel spiegelten sie einen internen Running Gag der Arbeitsgruppe wider. Was auch sonst? Doch Georg Neumann blieb keine Zeit, über den Humor unter Strukturbiologen zu grübeln.

Sein Vorstellungsgespräch kurz darauf bei Markus Ball, dem Leiter der Arbeitsgruppe, verlief inspirierend. Seine wissenschaftlichen Interessen deckten sich mit Balls Projektplänen. Einer von dessen Ex-Doktoranden hatte die Mammutaufgabe vollbracht, die Spektren eines besonders widerspenstigen Proteins auszuwerten. Auf diesen Daten sollte Neumann nun aufbauen und ein Strukturmodell für das Protein entwickeln. Es wäre dumm, tiefhängende Früchte nicht zu pflücken.

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Warum so steril?

Für Neumann war es ein Glücksgriff, als Postdoktorand in Balls Arbeitsgruppe aufgenommen zu werden. Denn Ball war eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Jemand, der die Tricks und Kniffe des Gewerbes beherrschte und in seiner Publikationsliste widerspiegelte. Erst kürzlich war ihm die Founders Medal des International Council seiner Zunft verliehen worden. Viel konnte Neumann von ihm lernen.

Wer hätte Neumann warnen können? Vielleicht der Doktorand, der ihn nach dem Vorstellungsgespräch durch die ehrwürdigen Hallen des Max-Planck-Instituts führte? Oder vielleicht einer der anderen zukünftigen Kollegen während des entspannend wortkargen Mensabesuchs? Dass sich die Atmosphäre der Arbeitsgruppe merkwürdig steril anfühlte, war sicher Neumanns Eingewöhnung geschuldet. Die bedrückte Stimmung, die sich wie ein Schatten an die Fersen jedes Mitarbeiters heftete, würde sich sicher bald als Kollateraleffekt nachdenklichen und fokussierten Forschens relativieren.

Wöchentliche "Hinrichtungen"

Die erste Arbeitsgruppenbesprechung belehrte Neumann eines Besseren. Grabesstille herrschte, noch bevor Balls Schatten in den Raum fiel. Keiner der Anwesenden sagte mehr als nötig. Und doch war jeder von ihnen nach und nach an der Reihe, ins Licht zu treten und sein Schaffen der letzten Woche zu rechtfertigen. Lahmheit, Detailmangel oder Denkfehler belohnte Ball mit Unmut, eine nicht abgearbeitete Aufgabenliste der letzten Woche mit Übellaunigkeit. Während der Gruppenbesprechung galt nur eine Meinung; den Rest der Woche gab es nur einen Weg. Nach Ende der wöchentlichen „Hinrichtung“ zog sich einer von Balls Doktoranden regelmäßig in den Toilettenraum zurück, um erstmal sein durchschwitztes T-Shirt zu wechseln und sich frisch zu machen. Der Rest der Arbeitsgruppe verschwand meist direkt in den Büroräumen, um das Puzzle ihrer Motivation über die folgenden Tage erneut zusammenzusetzen.

Zweifelsohne durchlief jeder in der Arbeitsgruppe eine steile Lernkurve. Fiel ein Hamster aus dem Laufrad, packte Ball ihn am Schlawittchen, schüttelte ihn durch und setzte ihn zurück an seinen Platz. Zu eigenständigem Denken und Handeln erzog das nicht. Aber schließlich gab Balls wachsende Publikationsliste seinem Führungsstil Recht.

Ein hässlicher Verdacht

Zumindest solange die Projekte vorwärts gingen. Neumanns Projekt ging nicht vorwärts. Was er auch versuchte, eine klare Strukturaussage konnte er seinen Daten nicht entlocken. Sicher war er zu unerfahren. Musste intensiver lernen. Mehr verstehen. Länger arbeiten. Leider förderten es die auf Rumänisch verfassten Laborbücher seines Vorgängers nicht, vorangegangene Experimente nachzuvollziehen.

Neumann verbrachte Monate voller Zweifel. Die Spektren seines Vorgängers konnte er leicht reproduzieren. Wollte er aber dessen umfangreiche Auswertung stichprobenhaft nachvollziehen, scheitere er meist. Die älteren Gruppenmitglieder überraschte das nicht. Neumanns Vorgänger war laut Ball unfähig gewesen, denn er hatte sein Projekt zu langsam vorangetrieben. Zumindest bis Ball in einer Gruppenbesprechung der Kragen geplatzt war und weitere Verzögerungen nicht länger zuließ. Dass die Komplexität der Auswertung keine schnellen Ergebnisse ermöglichte, zählte nicht. Nur einige Tage nach Balls Wutausbruch hatte Neumanns Vorgänger die Auswertung abgeschlossen. Wie das zur allgemeinen Überraschung plötzlich so schnell gehen konnte, wollte besser niemand erörtern. Vielleicht sollte sich Neumann also nicht zu sehr auf die Daten verlassen.

Wo er recht hat,...

Nicht nur die Strukturaussagen von Neumann blieben hinter Balls Erwartungen zurück. Irgendwann unterlief Neumann auch am Spektrometer ein Fehler. Er ahnte, was ihn daraufhin erwartete. Ja, er hatte zwei der 365 Tage Messzeit an einem der vier Spektrometer der Arbeitsgruppe vergeudet. Ja, er sollte mehr über die quantenmechanischen Grundlagen der Spektroskopie wissen. Ja, er wolle in Zukunft besser Sorge tragen, dass sich aufgrund seiner Unfähigkeit Ball nicht auch noch mit diesem Projekt selbst befassen musste.

Einen Tag nach Balls Wuttirade bestand Neumann auf einem Gespräch unter vier Augen. Und in diesem offenbarte ihm Ball schließlich das Geheimnis seines Erfolgs: „In der Wissenschaft muss man ein Arschloch sein! Sonst funktioniert es nicht!"

Selten konnte Neumann einer Aussage angesichts ihrer leibhaftigen Inkarnation weniger zustimmen. Einige Wochen später nahm Ball die nächste Stufe auf der Karriereleiter und folgte dem langersehnten Ruf an eine niederländische Universität. Auch Neumann ergriff die Gelegenheit. Balls Gruppe zu verlassen, fiel ihm nicht schwer. Er hatte eine Menge dazugelernt.

Henrik Müller

Illustr.: iStock / MaryValery

 

(Die einzelnen Geschichten dieser Kolumne sind uns in aller Regel nicht genau so, aber doch sehr ähnlich referiert worden.)

 

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Letzte Änderungen: 19.11.2020