Theorie gut,
Praxis unzumutbar
(30.11.2020) Schulen auf oder zu – das ist die große Frage. Per Gurgelprobe soll eine Massenstudie in Österreich Klarheit bringen. Der Teufel steckt jedoch im Detail.
Welche Rolle spielen Kinder in der SARS-CoV-2-Pandemie? Wenn es bei den Jungen weniger bestätigte Fälle gibt als bei den Erwachsenen, könnte dies daran liegen, dass das Virus Kinder eher ignoriert, oder dass Kinder einfach asymptomatisch bleiben und somit nicht gezielt getestet werden.
Für die Entscheidung, ob Schulen offenbleiben bzw. wieder öffnen dürfen, wäre es essentiell, die Dunkelziffer unter Schulkindern zu kennen. Eben dieses Ziel verfolgt die österreichische Regierung mit ihrer „Schul-SARS-CoV-2-Monitoringstudie“ (salopp „Gurgelstudie“) an landesweit 243 Schulen. Angedacht war, an jedem Standort insgesamt 14.000 Kinder und Lehrer in 3–5-wöchigen Intervallen je 10-mal über das gesamte Schuljahr 2020/21 zu testen. Eigens einen Gurgelsong und Anweisungen in vier Sprachen wurden von oberster Stelle bereitgestellt. Vielleicht hat die Liebe zum Detail (Zitat aus der 4-seitigen Anweisung an Schulärzte: „Die Proben werden in einem passiv gekühlten Transportbehälter [Systembox: 5 l, Außenmaß: 395x395x257, Nutzmaß in mm: 275x215x95, Nutzvolumen in l: 5, Leergewicht inkl. Kühlmittel: 4870g] gesammelt.“) den eigentlichen Studienweg erschwert?
Weil sich der Start um ein paar Wochen verzögerte, liegen bis jetzt (und da Lockdown noch für eine Weile) nur Daten der ersten Erhebung vor. Sie stammen aus einer Zeit (28.9.–22.10.), in der die Infektionszahlen noch vergleichsweise niedrig waren. Seriöse Vergleiche kann man kaum anstellen, da andere Dunkelzifferstudien in diesen 3 Wochen nicht stattgefunden haben; Ende September die zweite Welle erst erahnbar, Mitte Oktober aber schon sportlich unterwegs war; es regional immense Unterschiede gibt etc. Aber Schuldaten untereinander und unter den einzelnen Testungen (Entwicklung erkennen) zu vergleichen, wäre ja auch schon ein Wissensgewinn.
Die Studie: technische Details
Hinter der Studie steht ein Konsortium der Medizinischen Universitäten in Graz und Innsbruck, der Medizinischen Fakultät der JKU Linz und der Universität Wien in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung. An zufällig ausgewählten 243 Schulen, repräsentativ für die österreichische Schullandschaft, haben 10.464 Personen, davon ca. 1.200 Lehrer, teilgenommen. Ihre Mund-/Rachenspülungen (Gurgelproben) wurden klassisch über RT-qPCR getestet. An vorab kommunizierten Test-Tagen rollten Uni-Angehörige an, unterstützt von einem lokalen Schularzt. Bei Positiv-Ergebnissen wurden zusätzliche unabhängige PCR-Tests durchgeführt.
So viel vorneweg: Was aus der publizierten Studie zweifelsfrei hervorgeht, ist, dass auch Kinder sich infizieren und potenziell zum Infektionsgeschehen beitragen können. In Zahlen sieht das so aus: 308 Proben (2,9%) schieden aus der Auswertung aus, da (aus unbekannten Gründen) unbrauchbar. Von den verbliebenen 10.156 Proben waren 40 positiv (0,39%; 95%-Konfidenzintervall: 0,28-0,56%). Anders formuliert ging einer von 250 Menschen, ohne es zu wissen, infiziert zur Schule.
Rechnet man aus den publizierten Prozent-Angaben die Absolut-Zahlen aus, kommt man auf 33 Schüler und 7 Lehrer, und eben an Grenzen statistischer Aussagekraft. Hinsichtlich Prävalenz gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Altersklassen oder Schulformen. Zwar hatte das Lehrpersonal relativ etwas mehr Infizierte, aber statistisch signifikant ist der Unterschied nicht. Eine Nachfrage unsererseits, unter anderem ob Ct-Werte bei Kindern eventuell höher liegen als bei Erwachsenen, blieb unbeantwortet.
Einen signifikanten Unterschied gab es jedoch schon: In sozial benachteiligten Schulen (nach klar vorgegebenen Kriterien klassifiziert) liegt die Prävalenz höher (0,81 vs. 0,23%). Als mögliche Ursachen hierfür nennt der Studienleiter Michael Wagner von der Uni Wien in einem Presseinterview unter anderem Sprachbarrieren, Desinteresse und enge Wohnverhältnisse.
Spannende Fragen
Spannend wäre freilich zu wissen, wo sich die Kandidaten jeweils angesteckt haben. Wäre es an der Schule, trägt vielleicht deren baulicher Zustand dazu bei. Regelmäßiges Lüften fordert schließlich ungleich weniger Überwindung, wenn man in einem gutgedämmten Raum mit intakten Fenstern lernt. Jedenfalls aber scheint es angeraten, Brennpunktschulen in zukünftigen Massentests (unabhängig zur „Gurgelstudie“) prioritär zu behandeln.
Die Dunkelziffer unter Schulkindern und Lehrern werden Daten der 10 Erhebungen wohl beleuchten können, doch drängt sich der Gedanke an Schrödingers Katze auf: Die Positiv-Getesten einer am Monitoring teilnehmenden Schule müssen in Quarantäne. Das ist ein Eingriff ins Infektionsgeschehen einer Schulklasse. Hätte man die Betroffenen nicht herausgefischt, hätten sie potenziell ihre Klassenkameraden oder das Lehrpersonal infiziert. In gewisser Weise werden die 243 teilnehmenden Schulen bzw. deren 14.000 Besucher von Mal zu Mal im Lauf der 10er-Testreihe weniger und weniger repräsentativ für die übrigen > 4.000 Schulen mit ihren 1,1 Millionen Schülern.
Aus Sicht der Schule: Großharras
Die dörfliche Volksschule Großharras gehörte zu den Auserwählten und informierte Eltern lange im Voraus. 29 von 36 Eltern willigten ein teilzunehmen. Gurgeln üben sollten die Kinder daheim, und frühstücken auch, damit sie eine Stunde vor dem eigentlichen „Hervorbringen“ der Probe (eine Minute gurgeln mit Zucker-/Salzlösung, Hanks-Balanced-Salt-Solution-Puffer, HBSS-Puffer) eben nichts mehr essen würden. Das hat alles prima geklappt, berichtet die Direktorin. Am ersten Gurgeltag (14.10.) kamen Unipersonal (MedUni Wien) und ein Arzt vorbei. Aber viele aufgeregte Kinder (die übrigens alle negativ waren) beisammenzuhalten, geht ohne unterstützendes Schulpersonal freilich nicht.
So weit lief in Großharras alles nach Plan, und so kündigte die Schulleitung den Eltern eine Woche im Voraus den zweiten Gurgeltermin an. Der wäre am 18.11. gewesen. Wäre. Nur kam der Lockdown dazwischen. „Jedoch waren wir immer zuversichtlich, dass die Schule der 6–14-Jährigen offenbleibt. So kam die Nachricht zum Wechsel in den ortsungebundenen Unterricht am Samstag, 14.11. um 16.30 Uhr, doch überraschend und sehr kurzfristig.“ Nun harrt man aus, hoffend, dass Schulen bald wieder geöffnet werden, und die Testserie wieder aufgenommen wird. „Eben gerade jetzt, wo die Infektionszahlen generell höher liegen, wäre es spannend gewesen“.
Verärgerte Schulleiter
Für das Lehrpersonal ist der Test-Aufwand beachtlich. Sich mit dem bereitgestellten Handscanner in das Tablet mit 25-seitiger Bedienungsanleitung einzuarbeiten, braucht Zeit. Trotzdem steht man dem Ganzen positiv gegenüber, anders als ein Schuldirektor aus Wien: „Es sind hunderte Datensätze einzugeben und zu bearbeiten (wann?), Kühl-Akkus kalt zu stellen (wo?), Tablets und Handscanner aufzuladen und in Betrieb zu nehmen (wer?), sogar das Handling der Proben und die sichere (sic!) Aufbewahrung der Testabfälle (wie?) hängt man den Pädagogen um.“ So darf man Bildungs- und Forschungsminister Heinz Faßmann vermelden, dass die ersten Schulen die Mitarbeit an der „Gurgelstudie“ demnächst wohl schmeißen werden. Die Mails verärgerter Schulleiter, die gezwungen wurden, „freiwillig“ für die Abwicklung zu sorgen, häufen sich.
Ruf nach Optimierung kommt auch von den Sozialdemokratischen LehrerInnen Österreichs (SLÖ). Deren Vorsitzender Thomas Bulant nennt die Erhebung eine „Zumutung“ für die Direktoren der ausgewählten Schulen: „Diese Tätigkeiten behindern den Schulbetrieb, weil das Ministerium diese Aufgaben nicht selbst bewerkstelligt, sondern kostensparend den Schulleitungen umhängt.“ Dazu komme erschwerend, dass Gurgellösung, Schutzausrüstung und technisches Equipment nicht immer zeitgerecht angeliefert würden. Bulant fordert deshalb, die Studie an Externe auszulagern.
Fazit: Logistische Probleme erkannt, Sinnhaftigkeit solcher Studien aber auch.
Andrea Pitzschke
Bild: FH Campus Wien/Schedl