Editorial

Seismologische Spürnasen?

(14.12.2020) Möglicherweise könnten Bauern­hoftiere helfen Erdbeben vorherzusagen. Eine Studie von Verhaltens­forschern wird aktuell kontrovers diskutiert.
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Einige der größten Natur­katastrophen in der Geschichte der Menschheit wurden durch Erdbeben ausgelöst. Trotz ausge­klügelter, seismo­logischer Frühwarn­systeme ist es jedoch immer noch nicht möglich, Ort, Zeitpunkt und Stärke eines Erdbebens präzise genug vorher­zusagen, um dadurch Menschen­leben zu retten.

Schon aus der Antike gibt es jedoch Berichte darüber, dass Tiere Vorboten von Erdbeben oder anderen Katastrophen wie Vulkanausbrüchen spüren und durch ihr Verhalten anzeigen können. Laut Beobachtungen sind im Vorfeld eines Bebens im chinesischen Haicheng im Jahr 1975 Schlangen und Ratten aus ihren Winterquartieren geflüchtet; bei richtiger Interpretation dieser Beobachtungen – so zumindest eine gängige Behauptung – hätte dies die Menschen warnen können.

Auch wenn unklar ist, auf welche Weise Tiere ein nahendes Erdbeben spüren könnten, gibt es deshalb immer wieder Über­legungen, ob es möglich wäre, durch die Beo­bachtung von Tieren vor derartigen Ereignissen frühzeitig gewarnt zu werden. Eindeutige wissen­schaftliche Belege dafür, dass dies funktioniert, gab es bisher jedoch nicht. Nun haben Wissen­schaftler um Martin Wikelski vom MPI für Verhaltens­forschung in Radolfzell und der Universität Konstanz erstmals ausgiebige Daten vorgelegt.

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Schafe mit Bewegungssensoren

Ihr Untersuchungs­gebiet liegt in Mittelitalien zwischen Florenz und Rom rund um die Stadt Norcia – eine Region, die ab August 2016 immer wieder von schweren Beben heim­gesucht wurde. Die Verhaltens­forscher – spezialisiert darauf, Wanderungs­bewegungen von Tieren zu erfassen – bestückten Kühe, Schafe und deren Hütehunde auf einem Bauernhof in der Nähe des Epizentrums des Norcia-Bebens mit Bewegungs­sensoren und zeichneten im Zeitraum von Oktober 2016 bis April 2017 ihre Aktivität auf. Bis März befanden sich die Tiere im Stall, anschließend auf der Weide. Nachdem die Wissen­schaftler die normalen Aktivitäts­zyklen der Tiere erfasst hatten, konnten sie bestimmen, wann diese außer­gewöhnlich aktiv oder auch ruhiger als sonst waren.

Um den Zusammenhang mit den Erdstößen zu erfassen, analysierten die Wissen­schaftler die seismische Aktivität im Versuchs­zeitraum und überprüften für jedes Beben, ob in einem Zeitraum von 20 Stunden zuvor unge­wöhnliches tierisches Verhalten aufgezeichnet worden war. Tatsächlich konnten Wikelski und Kollegen dies nachweisen, insbesondere in der Zeit, in der sich die Tiere im Stall befanden (Ethology, 126(9): 931-41).

Anhand ihrer Daten schätzten die Forscher die Vorwarnzeit ab, also den Zeitraum, der zwischen dem auffälligen tierischen Verhalten und dem Erdbeben vergangen war. Die Tatsache, dass diese Vorwarnzeit mit der Entfernung zum Erdbeben zunahm, inter­pretierten sie als Hinweis, dass die Tiere ein Signal wahrnehmen müssten, das sich langsam ausbreitet – möglicher­weise ionisierte Luftteilchen, deren Entstehung durch den Druck auf das Gestein bei einem Beben diskutiert wird. Wikelski et al. weisen darauf hin, dass aufgrund ihrer Beobach­tungen noch keine Erdbeben­warnung möglich ist, vermuten aber, dass es mithilfe eines Systems von mindestens drei Mess­stationen durch Trian­gulation möglich sein müsste, das Epizentrum eines nahenden Erdbebens abschätzen zu können.

Exzellent, aber ...

Die Publikation ist in der Fachzeitschrift Ethology erschienen. Dort wurde nun ein Kommentar abgedruckt, für den Gert Zöller, Professor am Institut für Mathematik der Universität Potsdam, als korrespon­dierender Autor verantwortlich zeichnet, und der gemeinsam mit Kollegen des Geoforschungs­zentrums Potsdam erarbeitet wurde. Zöller et al. bewerten die Daten von Wikelski et al. als exzellent, sind aber der Meinung, dass daraus die falschen Schlüsse gezogen worden seien.

Insbesondere bemängeln die Mathematiker, dass bei der Analyse nur Ereignisse einbezogen wurden, bei denen auf verändertes tierisches Verhalten tatsächlich ein Erdbeben folgte. Ereignisse, bei denen das nicht der Fall war, oder Erdbeben, denen kein verändertes tierisches Verhalten vorausging, wurden dagegen außer Acht gelassen.

Die Potsdamer Wissen­schaftler haben dies nun nachgeholt und zur statistischen Auswertung sogenannte Molchan-Diagramme erstellt. „Mit Molchan-Diagrammen kann man auf einfache Weise die Güte von Vorher­sagen beurteilen, d. h. gibt es einen statistisch signifikanten Zusam­menhang zwischen einem Vorläufer­phänomen (hier: ungewöhnliches Tierverhalten) und dem Phänomen, das man vorhersagen möchte (hier: große Erdbeben). Dazu muss man drei Aspekte beleuchten: Erstens: Wie viele Erdbeben wurden ‚vorhergesagt‘? (Erdbeben mit Vorläufer); zweitens, wie viele Fehlalarme gab es (Vorläufer ohne Erdbeben)? und drittens, wie viele Erdbeben wurden nicht erkannt (Erdbeben ohne Vorläufer)?“, erklärt Zöller. „Weiter muss man festlegen, wie lang ein Alarm (Beo­bachtung auffälliges Tierverhalten) aktiv bleibt. Wählt man diese Zeit sehr groß, wird man jedes Erdbeben ‚vorhersagen‘, wählt man sie sehr klein, wird man keins vorhersagen. In Molchan-Diagrammen werden diese Aspekte zusammen­gefasst: Links unten hat man kurze Alarmzeiten und wenig verpasste Erdbeben, d. h. eine hohe Vorher­sagequalität. In der Nähe der Diagonalen hat man ‚Zufalls­vorhersagen‘, die man – statistisch gesehen – einfach durch beliebiges Raten erhalten würde.“

Zur Veranschaulichung haben die Mathematiker solche Zufalls­vorhersagen in ihr Diagramm aufgenommen. Die Daten von Wikelski et al. liegen innerhalb der dadurch erzeugten Punktwolke, woraus die Mathematiker den Schluss ziehen, dass die Signale der Tiere keinerlei Aussage­kraft aufweisen. Zöller und Kollegen bemängeln außerdem, dass die Verhaltens­forscher zwar viele Datenpunkte gemessen haben, die den Zusam­menhang zwischen Vorwarnzeit und Abstand vom Epizentrum belegen sollen, diese aber sehr eng beieinander liegen, so dass man effektiv nur wenige Datenpunkte hat. Der Grund dafür ist einfach: Erdbeben treten in der Regel gehäuft auf (in sogenannten „Clustern“), weil ein Erdstoß weitere nach sich zieht. Auch dieser behauptete Zusam­menhang löse sich deshalb im statistischen Rauschen auf.

Studienziel missverstanden?

Als Antwort auf diese Kritik haben Martin Wikelski und Mitarbeiter ebenfalls einen Kommentar geschrieben, der gleichzeitig mit dem Kommentar von Zöller et al. in Ethology hätte abgedruckt werden sollen. Dass die Kritik einseitig vor-veröffentlicht wurde, habe ihn doch etwas enttäuscht, so Wikelski.

In manchen Aspekten geben die Verhaltens­forscher den Mathematikern Recht, doch in erster Linie sind sie der Meinung, dass das Ziel ihrer Arbeit missverstanden wurde. Denn dabei wäre es nie darum gegangen, Erdbeben vorher­zusagen, wofür die Datenlage tatsächlich noch nicht ausreichend sei. So gäbe es viele Gründe, warum die unter­suchten Tiere auffälliges Verhalten zeigten, und auch Beben und Nachbeben hätten in der Analyse nicht getrennt werden können, was ein starkes Hintergrund­rauschen erzeugen würde.

Das eigentliche Ziel der Studie, so Wikelski et al., sei es gewesen, heraus­zufinden, ob es überhaupt Anzeichen dafür gäbe, dass Tiere Erdbeben im Vorfeld spüren könnten und darauf reagieren würden. „Dies wurde durch die Studie in der Tat bestätigt.“ Die lange Vorwarnzeit von 20 Stunden wäre gewählt worden, um diese Anzeichen aufzuspüren – für eine tatsächliche Vorhersage müsste man sie dagegen anders auswählen. Die Kritik an der niedrigen Signifikanz für den Zusam­menhang zwischen Vorwarnzeit und Abstand vom Epizentrum teilten die Verhaltens­forscher. Hier müssten weitere Studien und zusätzliche Daten, unter Einbezug des geclusterten Auftretens von Erdbeben, die Analysen verbessern.

Hoffnung auf gemeinsame Studien

Zöller et al. legen Wert darauf, dass ihre Arbeit keine kausalen Zusam­menhänge zwischen Tierverhalten und Erdbeben kommentiert, sondern sich vielmehr dem statistischen Zusam­menhang widmet. „In der Arbeit von Wikelski et al. sind einige Analysen unvollständig, irreführend und spekulativ, d. h. es werden Vermutungen und Hoffnungen artikuliert, ohne Belege dafür zu liefern“, so Erstautor Zöller. „Unser Resultat lautet, dass es basierend auf konsequenter Anwendung mathematischer Statistik in den vorliegenden Daten keinen Hinweis auf einen Zusam­menhang zwischen Tierverhalten und Erdbeben gibt.“

Die Verhaltens­forscher kontern am Ende ihres (noch unveröffentlichten) Kommentars, dass zuerst Daten vorliegen müssen, die gut genug für eine Vorhersage von Erdbeben sind. Diese Daten könnten dann von einer Auswertung mit Hilfe von Molchan-Diagrammen profitieren, wie von Zöller et al. gefordert. „Wir schlagen vor, dass gemeinsame Studien von Erdbeben­forschern und Verhaltens­forschern uns wirklich weiter­bringen können, wenn sie die biologischen Methoden verwenden, die wir in unserer Publikation vorgestellt haben, und diese mit den analytischen Werkzeugen kombinieren, die Zöller et. al vorstellen“, fasst Wikelski zusammen. „Gemeinsam können wir unser Verständnis davon verbessern, ob und wie kollektives Tierverhalten helfen könnte, Erdbeben vorherzusagen.“ Gemessen an den wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die schwere Erdbeben mit sich bringen, wäre diese Forschungs­kooperation wohl auf jeden Fall die Mühe wert.

Larissa Tetsch

Bild: Pixabay/Peggy_Marco




Letzte Änderungen: 14.12.2020