Editorial

Punkt für Punkt gegen Corona

(07.01.2021) Die „theoretischen Enzymologen“ der Grazer Biotech-Firma Innophore modellieren Punktwolken. Damit sagen sie unter anderem die Bindeeigenschaften der Main Protease von SARS-CoV-2 voraus.
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Ende Januar 2020 gab es „Corona-Neuigkeiten“ aus Graz: Das Biotech-Start-up Innophore veröffentlichte strukturelle Merkmale des SARS-CoV-2 auf seiner Webseite (innophore.com/2019-ncov). Damit gehörten die Steirer zu den ersten Wissenschaftlern, die aus der Mitte Januar veröffentlichten Genomsequenz Informationen zu Struktur und Funktion eines SARS-CoV-2-Enzyms extrahierten. Innophore-Geschäftsführer Christian Gruber gibt sich im Gespräch mit Laborjournal bescheiden: „Wir haben nur das getan, was wir immer machen: Wir haben nach Enzymen gesucht.“ 

Das will erklärt werden. 

Gruber studierte Chemie an der Universität Graz und fühlte sich schon früh zu Biochemie und Strukturbiologie berufen. „Ich habe mich dann mit der dreidimensionalen Struktur von biologischen Systemen beschäftigt“, erzählt Gruber. Da war der Schritt zur Simulationstechnologie nicht mehr weit. „Das bedeutet, dass wir nicht mehr im Labor, sondern am Computer biologische Systeme simulieren und versuchen, sie so gut wie möglich zu verstehen“, so Gruber.

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Preisgekrönte Plattform

An der Uni Graz entwickelten er und seine Kollegen in der Arbeitsgruppe von Karl Gruber (nicht verwandter Mitgründer und Innophore-CSO) gemeinsam mit dem Austrian ­Center of Industrial Biotechnology (acib) die Plattform Catalophore, die in silico sehr schnell Enzyme und ihre katalytische Funktionalität miteinander vergleicht. Auf der Pharmaindustrie-Messe CPhI erhielt die Idee im Jahr 2014 den Global Pharma Innovation Award. „Wenn unsere Technologie von potenziellen zukünftigen Kunden derart gewürdigt wird“, fasst Gruber den damaligen Gedankengang zusammen, „dann ist eine Ausgründung letztlich durchaus sinnvoll.“

Gesagt, getan. Der Gruber-Doppelspitze gesellte sich noch Mitgründer und CTO ­Georg ­Steinkellner hinzu, und als gemeinsames Spin-off von Uni Graz sowie acib erblickte Innophore im Jahr 2017 das Licht der Biotech-Welt. 

In Vor- und Nicht-Pan­demie-Zeiten durchforsten die „theoretischen Enzymologen“, wie sie sich selbst nennen, mannigfaltige Enzymklassen – je nach Kundenwunsch: Ob Toxin-abbauende Enzyme für die Futtermittel-Industrie, neue beziehungsweise enzymatisch aktivere Waschmittel-Kandidaten – oder pharmazeutisch relevante Enzyme, mit denen über klassische Biokatalyse Wirkstoffe synthetisiert werden können. Gemeinsamer Nenner der bunten Anwendungsauswahl ist immer das Enzym. Zu den Kunden gehören Größen wie Merck, sodass sich das noch junge Start-up bereits über laufende Aufträge co-­finanziert. Für das restliche Kapital sorgt unter anderem der in Österreich ansässige strategische Investor EOSS Industries.

Bindetaschen im Fokus

Wonach genau hält Catalophore nun Ausschau? „Erst einmal schauen wir, ob es vielleicht bereits ein Enzym gibt, welches eine ähnliche Aufgabe erfüllt, aber zu schlecht ist oder – das ist ein sehr wichtiger Punkt – patentrechtlich geschützt ist“, erläutert Christian Gruber den ersten Schritt. Dann konzentrieren sich die Forscher auf die Bindetasche oder Cavity, wie Gruber sie nennt. Sie ist das Herzstück eines Enzyms, denn dort binden Substrate sowie mögliche Wirkstoffe oder Inhibitoren.

Die Cavity wird nun in eine dreidimensionale Punktwolke umgerechnet beziehungsweise modelliert. „Jeder dieser Punkte wird mit bis zu 19 unterschiedlichen physiko-chemischen Eigenschaften annotiert“, fährt Gruber fort. Das sind etwa Elektrostatik oder Hydrophobizität. Diese Informationen gleicht Catalophore mit Proteinen in diversen Datenbanken ab. 

Durch diese Vorgehensweise findet die Software katalytische Zwillinge über Enzym­klassen und Grenzen der Sequenzähnlichkeit hinweg. „Das ist das Besondere an unserer Methode“, betont Gruber. „Wir haben die Möglichkeit, Enzyme zu finden, die zwar völlig anders aussehen, aber trotzdem die gleiche oder eine sehr ähnliche Aktivität haben.“ 

Verschieden, aber doch gleich

Auf diese Weise stießen die Grazer bei ihrer Punktwolkensuche beispielsweise auf Enzyme, die nur neun Prozent Sequenzidentität zeigten, aber dennoch die gleiche Reaktion katalysierten. Das ermögliche völlig neue Wege für die Herstellung und Verbesserung von Enzymen, ist der Innophore-Geschäftsführer überzeugt. 

Als nun im Januar die SARS-CoV-2-Sequenz veröffentlicht wurde, packte die Jung­unternehmer der Ehrgeiz. Sie durchsuchten die Sequenz nach Schlüsselenzymen und wurden schnell fündig. Eine virale Serin-Protease mit dem Arbeitstitel 2019-nCoV Main Protease (oder SARS-CoV-2-Mpro) fiel ihnen ins Auge. „Das ist bioinformatisch keine Meisterleistung“, sagt Gruber – und wendet ein, dass auch andere Forscher Ähnliches gemacht hätten. „Aber wir waren extrem schnell und haben direkt über Homologie-Modelle die potenzielle Struktur der Bindetasche vorhergesagt.“

Dabei half natürlich Catalophore und präsentierte zusätzlich direkt eine Liste mit möglichen Wirkstoffen, von denen einige sogar bereits als Medikamente zugelassen waren. Hier war erneut von Vorteil, dass der Algorithmus Enzymklassen-übergreifend vergleicht und damit nicht nur bekannte Medikamente auftauchten, die zum Beispiel gegen SARS entwickelt wurden, sondern auch andere Kandidaten.

Und rein in die Corona-Forschung

Einer ist etwa der Protease-Inhibitor Lopinavir, der in Kombination mit Ritonavir unter dem Handelsnamen Kaletra (Abbott-­Abbvie) als HIV-Medikament in der EU zugelassen ist. Diese Informationen reichte Innophore an das Chinese Center for Disease Control and Prevention weiter, das sich sogleich in regen Austausch mit den Grazern begab. 

Aber Gruber relativiert: „Wir konnten zeigen, dass Lopinavir strukturbiologisch tatsächlich ein passender Bindungspartner für die Cavity der SARS-CoV-2-Main-Protease ist, aber genau an diesem Punkt endet unsere Expertise.“ Alles Weitere müssen nun klinische Studien zeigen – also ob der gewünschte Effekt eintritt oder ob es Nebenwirkungen gibt. 

Natürlich, so Gruber, sei ihre Wirkstoffliste und ihre Forschung nur ein Baustein von vielen. Denn momentan überschlagen sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse rund um COVID-19. Jeden Tag gibt es neue Informationen, rund um den Globus arbeitet die Wissenschaft – gemeinsam – an Lösungen gegen SARS-CoV-2. „Es ist toll zu sehen, wie die Wissenschaftler sich austauschen und zusammenhalten“, so Gruber. Und er ergänzt: „Angesichts der momentanen Lage wäre es aber auch schlimm, wenn das nicht so wäre.“

Unmengen an Rechenleistung

Inzwischen gibt es ein weiteres Corona-Projekt gemeinsam mit der Harvard University. Dort wurde die Technologie Virtual Flow entwickelt, eine automatisierte Methode zum Screening von potenziellen Wirkstoffen und Liganden mittels Structure-­Based ­Virtual Screening (SBVS). Diese In-silico-­Screening-Technologie kombinieren die Kooperationspartner nun mit der 3D-Punktwolken-Cavity von SARS-CoV-2. Bis zu zwei Milliarden mögliche Bindungspartner können so auf Herz und Nieren abgeklopft werden.

Das frisst natürlich Unmengen an Rechenleistung. „Wir betreiben zwar selbst zwei Computercluster mit 5.000 Prozessoren“, sagt Gruber stolz. Aber das sei trotzdem viel zu wenig. Da kam es gelegen, dass ­Google sich bei Harvards Offiziellen erkundigte, ob vielleicht jemand etwas Rechenleistung gebrauchen könnte. Flugs wurden also ein paar Cloud-Kapazitäten freigeschaufelt, sodass Virtual Flow und Catalophore gemeinsam auf nicht weniger als 40 Millionen CPU-Stunden zugreifen konnten. Gruber übersetzt das in für Laien begreifbare Werte: „5.000 Computer würden für so eine Leistung etwa ein Jahr lang rechnen. Das ist eine technische Meisterleistung.“

With a little help from... Google

Dabei sei es auch eine Herausforderung gewesen, die Plattform vom Rechencluster in die Cloud zu bringen. Gemeinsam mit Experten von Google implementierte das Innophore-Team im Schnellverfahren nötige Prozesse, damit die Moleküle auch zuverlässig ihre Bindetasche finden können. Vielversprechende Kandidaten werden anschließend von Innophore sortiert und zum Beispiel mittels Moleküldynamik-Simulationen auf Bindungsstabilität geprüft. 

Neben allen Corona-Unterfangen müssen die Strukturbiologen und Machine-Learning-Experten von Innophore aber auch weiterhin ihre anderen Kunden und deren laufende Projekte im Blick behalten. Laut Gruber leisten momentan alle 18 Mitarbeiter der Firma Großartiges. Der Druck sei enorm, der Arbeitswille aber ebenso. Jeder sei hochmotiviert, seinen Teil zur Lösung der Corona-Krise beizutragen.

Voll Homeoffice-tauglich

Bei all den Herausforderungen und aufregenden Zeiten ist Gruber aber auch dankbar: „Wir sind in der Lage, von überall auf der Welt mit unseren Laptops die Großrechner zu bedienen.“ Das sei der große Vorteil gegenüber Forschung, die auf Labors angewiesen sei und nun teilweise stillstehe. Auch in Krisenzeiten lässt es sich problemlos und effizient arbeiten. 

Und dass das junge Start-up genau das momentan macht, daran besteht wohl kaum ein Zweifel.

Sigrid März

(Foto: Steirische Wirtschaftsförderung SFG)

 

(Der Artikel erschien zuvor in der Laborjournal-Printausgabe 5/2020 auf den Seiten 52-53.)

 

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Letzte Änderungen: 06.01.2021