Editorial

Antikörper-Debakel in Brüssel

(20.04.2021) Die EU-Kommission publiziert eine Empfehlung zu tierfreien Antikörpern und gerät damit in die Schusslinie der Wissenschafts-Community.
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Antikörper sind seit Jahrzehnten wertvolle universelle Werkzeuge. Allerdings gerät ihre Herstellung immer wieder in die Kritik. Denn auch heute noch werden sowohl monoklonale als auch polyklonale Antikörper in Tieren produziert. Das EU-Referenz­labor für Alternativen zu Tier­versuchen, kurz EURL ECVAM, beauftragte deshalb ein Team von Wissen­schaftlern (das ESAC-Komitee), die Literatur zu tierfreien Antikörpern zu prüfen, um sich ein Bild darüber zu machen, wie zeitgemäß tierische Antikörper heute überhaupt noch sind, und ob diese nicht durch tierfreie Alternativen wie etwa Phagen-Display ersetzt werden könnten. Unter den ESAC-Autoren befanden sich u. a.Stefan Dübel von der Technischen Universität Braunschweig, der Bio-Rad-Mitarbeiter Hans-Joachim „Achim“ Knappik sowie Andreas Plückthun von der Universität Zürich.

Letztlich empfahl das EU-Referenzlabor, dass „Tiere nicht mehr für die Entwicklung und Herstellung von Antikörpern für Forschungs-, diagnostische und thera­peutische Anwendungen sowie Zulassungs­anträge zu verwenden“ – und forderte damit das Ende von Antikörpern, die in Tieren produziert werden.

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Fatale Forderungen

Obwohl diese Forderungen nicht rechtlich bindend sind, ist die Wissenschafts-Community hierzulande besorgt – wie eine Umfrage des VBIO zeigt. „Erst einmal wurde deutlich, dass nur den wenigsten Wissen­schaftlerinnen und Wissen­schaftlern die Veröffentlichung der EU-Kommission in Brüssel überhaupt bekannt war“, berichtet VBIO-Pressesprecherin Kerstin Elbing. Nahezu alle Befragten hätten sich nach der Lektüre jedoch sehr besorgt und skeptisch geäußert, sollte die Nutzung von Antikörpern, die primär im Tier gewonnen werden, in der EU nicht mehr oder nur unter erheblich erschwerten Bedingungen möglich sein.

Für Zündstoff sorgte auch die Zusammen­setzung der Experten-Kommission: Fünf der sechs „Ad-hoc Members“ sind Mitgründer, Anteils­eigner oder Mitarbeiter von Firmen, von denen einige ihr Geld mit Antikörpern aus Display-Technologien oder anderen In-vitro-Techniken verdienen – in dem Bericht ist das an keiner Stelle vermerkt.

Verbindungen zur Industrie

Dübel, Mitgründer der Firmen Yumab, Abcalis und mAB-factory, gibt zu: „Tatsächlich habe ich anfangs gezögert, dem ESAC beizutreten und die EU nach der Anfrage erstmal über meine Bedenken informiert, dass meine Start-up-Aktivitäten als potenzieller COI [Anm. d. Red.: Conflict of Interest] betrachtet werden könnten, ich habe die offizielle (und veröffentlichte) EU Declaration of Interest [DOI] ausgefüllt, die EU hat diese analysiert und explizit bestätigt, dass sie gerade deshalb meine Meinung hören wollte, in vollem Wissen und gerade deshalb, weil ich ein Protagonist der NADA(Non-Animal-Derived Antibodies)-Generation bin. Die Begründung war, dass sie auch mal die Sicht von Experten für rekombinante Antikörper hören wollten, nicht nur die der Vertreter von Tieranti­körpern.“

Die ESAC-Mitglieder Dübel, Plückthun, Knappik und Andrew Bradbury versuchen allerdings mittlerweile eine Stellung­nahme zu veröffentlichen, in der sie sich von der EURL-ECVAM-Empfehlung distanzieren. „Das EURL-ECVAM-Statement am Beginn des Berichts ist nicht von uns oder mit uns abgestimmt!“, so Dübel. „Wir versuchen schon seit Monaten eine Gegen­darstellung zu publizieren, die Journals möchten das aber nicht drucken.“ Plückthun bestätigt: „Die EURL-ECVAM-Empfehlung ist nicht die Empfehlung der Experten, sondern wandelt sie in entscheidenden Punkten ab.“

Dübel betont auf Nachfrage einen weiteren Aspekt, der zwar auch im ESAC-Report auftaucht, in der EURL-ECVAM-Empfehlung aber komplett außen vor gelassen wurde: Nämlich dass nicht-tierische Antikörper nur begrenzt verfügbar sind. Bei einer abrupten Umstellung auf tierfreie Alternativen könnte der Bedarf an Antikörpern überhaupt nicht gedeckt werden.

Dübel fasst das Fazit ihrer Gegen­darstellung zusammen: „Wir sind starke Befürworter der Verwendung von In-vitro-Methoden zur Erzeugung von Antikörpern, um die Forschungs­qualität und Reprodu­zierbarkeit zu verbessern. Um diese Umstellung hin zu Antikörpern aus In-vitro-Technologien jedoch zu fördern, müssen die Plattformen breiter verfügbar werden. Sie sollten mit tierischen Antikörpern konkurrieren und aufgrund ihrer Qualität und Flexibilität ganz natürlich angenommen werden.“

Schemenhaft angedeutet

Und was sagt die EU-Kommission zu der Diskussion und der fragwürdigen Empfehlung des EU-Referenzlabors? Angesprochen auf die vielen kritischen Stimmen antwortet Pressesprecherin Sinéad Meehan van Druten, die Kommission würde das Feedback der Interessen­gruppen sehr begrüßen und sich bemühen, dieses gegebenen­falls zu berücksichtigen.

Berücksichtigt auf der entsprechenden Webseite der EU-Kommission sind bisher allerdings nur die kritischen Stellung­nahmen von LERU und EARA/EFPIA. Der heftige Diskurs und die Empörung der wissen­schaftlichen Community werden damit aber nur schemenhaft hinter zwei Links angedeutet. Eine evidenzbasierte wissen­schaftliche Unterstützung für den politischen Entscheidungs­prozess bietet die Gemeinsame Forschungs­stelle der EU-Kommission damit nicht.

Juliet Merz

Dieser hier gekürzte Artikel erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 4-2021.

Bild: Juliet Merz
Mehr Illustrationen von Juliet gibt es auf ihrer Behance-Seite.


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Letzte Änderungen: 20.04.2021