Editorial

Die Gift-Allianz

(31.05.2021) Tiertoxine haben zwar großes Potenzial in der Medizin, sind aber noch relativ unerforscht. Diese Wissenslücke wollen euro­päische Giftforscher schließen.
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Der Name ist Programm: der Schreckliche Pfeilgiftfrosch (Phyllobates terribilis) ist eines der giftigsten Tiere weltweit

Giftige Tiere wie Schlangen, Spinnen, Skorpione oder Frösche haben die Menschen schon immer fasziniert. Allerdings sind Gifte im Tierreich viel weiter verbreitet als gemeinhin angenommen und wohl mindestens 100-mal unabhängig voneinander entstanden. Gifte sind meist komplexe Gemische aus kurzen Peptiden und Proteinen, die sich in Millionen von Jahren an ihre Opfer angepasst haben. Ihre oft hohe Spezifität und unter­schiedlichen biologischen Wirkungen machen sie interessant für die Biomedizin oder die Diagnostik.

Ein bekanntes Beispiel sind die Conotoxine aus der Kegel­schnecken­gattung Conus. Die kurzen Peptide des Schnecken­gifts binden mit hoher Spezifität an verschiedene Ionenkanäle und behindern dadurch die neuronale Erregungs­leitung. Ein synthetisches Analogon eines Conotoxins aus Conus magus ist unter der Bezeichnung Ziconotid bereits zur Bekämpfung starker chronischer Schmerzen bei Erwachsenen zugelassen. Auch Tetrodotoxin, das Gift des Kugelfischs, wird als Schmerzmittel diskutiert. Viele weitere neurotoxische Giftkom­ponenten könnten als spezifische Hemmstoffe oder Aktivatoren von Ionen­kanälen zum Einsatz kommen. Trotz der Faszination, die Gifte seit jeher ausüben, sind viele Tiergifte aber noch nicht ausreichend erforscht oder – vor allem im Falle von Wirbellosen – noch nicht einmal bekannt. Aus diesem Grund haben sich europäische Giftforscher zum Forschungs­netzwerk European Venom Network (EUVEN) zusammengetan.

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Brachliegendes Potenzial

Zurzeit hat das Netzwerk 130 Mitglieder aus 31 europäischen Ländern. Einer der Vertreter aus Deutschland ist Björn M. von Reumont, der am Institut für Insekten­biologie der Justus-Liebig-Universität Gießen die Arbeits­gruppe Tiergifte im LOEWE Zentrum für Trans­lationale Biodiversitäts­genomik koordiniert und außerdem mit einer eigenen Arbeitsgruppe ein DFG-Projekt zu Giften von Bienen und Wespen bearbeitet.

Als molekularer Evolutions­biologe interessiert er sich vor allem für die Evolution von Giften in verschiedenen Tiergruppen. Dazu zählen die in Unter­wasser­höhlen lebenden Remipeden, die er als erste giftige Krebse beschrieb. Weitere Forschungs­objekte sind Raubfliegen sowie solitäre und eusoziale Bienen und Wespen, aber auch andere Gliedertiere wie Hundert­füßer. „Aktiv giftige Tiere sind auf verschiedenen Ebenen extrem spannend zu untersuchen“, ist von Reumont überzeugt. „Da sie in fast allen Tiergruppen unabhängig voneinander entstanden sind, erlauben sie einerseits die Adaption und Evolution von sogenannten konvergenten Merkmalen zu untersuchen. Anderer­seits bieten sie die Möglichkeit diverser angewandter Forschung, denn in vielen Tiergruppen sind durch Koevolution von Räuber und Beute hoch spezifische Gifte entstanden.“ Trotzdem gebe es weltweit nur wenige Standorte, an denen umfassend und integrativ Giftforschung betrieben werde: „Die Krux ist, dass die moderne Venomik so umfassend ist und integrativ diverse Fachbereiche einbindet. Damit ist es fast unmöglich, in einer Forschungs­gruppe Tiergifte umfassend zu untersuchen, also ohne sich auf bestimmte Methoden oder eine Tiergruppe zu spezialisieren.“

Australien als Vorbild

Einer der Orte, die sich EUVEN zum Vorbild genommen hat, ist der Campus der Queensland University in Australien, dem Mutterland der giftigen Tiere, wie von Reumont erzählt. Dort seien zahlreiche Institute unter Leitung namhafter Giftforscher versammelt, um die Evolution giftiger Tiere, die Funktion ihrer Toxine und letztlich auch deren Anwendungs­potenzial zu erforschen. In Europa gäbe es dazu kein entspre­chendes Pendant, sondern nur einzelne Arbeits­gruppen, die spezifische Aspekte bearbeiten. Hier soll EUVEN die Vernetzung fördern und die einzelnen Gruppen und Standorte synergistisch verbinden. „Es geht darum, die verschie­denen Expertisen auf allen Ebenen zusammen­zubringen und eine zentrale Plattform zu schaffen, über die integrative Projekte und Forschung initiiert werden.“

Im Vordergrund steht dabei der Austausch von Erfahrungen und Methoden, beispielsweise durch die Ausrichtung von Konferenzen. Außerdem soll Wert gelegt werden auf die „Förderung junger Forscher und der leider immer noch unter­repräsentierten weiblichen Kolleginnen“, so von Reumont. Ein Instrument hierfür sei die Möglichkeit für junge Forscher/innen, Gelder zu beantragen, um in anderen Arbeits­gruppen Erfahrung zu sammeln. Über diese Anträge werde transparent im Management Committee von EUVEN abgestimmt: „EUVEN ist als COST ACTION extrem demokratisch über Gremien gesteuert.“ Ein weiteres Ziel des Netzwerks ist es, Wissenschaft und Industrie näher zusammen­zubringen. Die Mitglieder kommen deshalb nicht nur aus den Hochschulen, sondern rekrutieren sich auch aus Start-ups und bereits etablierten Firmen; auch Natur­historische Museen und Vereine sind ausdrücklich willkommen.

Zugewinn an Expertise

Von seiner Mitarbeit bei EUVEN erhofft sich von Reumont vor allem, seine eigene Expertise für die Erforschung von bisher vernach­lässigten aktiv giftigen Tieren verbessern zu können: „Als Evolutions­biologe bin ich an der Frage interessiert, wie Toxin-Gene entstehen und adaptieren und wie Giftkom­positionen sich entwickeln. Dazu verwende ich Methoden der Proteomics, Transcriptomics und Genomics sowie morpho­logische Methoden, um die Giftsysteme und ihre Evolution vergleichend zu beschreiben. Allerdings gehört dazu auch die Frage nach der Funktion von Toxinen. Hier bin ich schnell fachfremd; elektro­physiologische Eigen­schaften wie Ionenkanal-Aktivitäten oder Faltungen und Strukturen von Proteinen sind für mich nur über Koope­rationen zu erfassen. EUVEN ermöglicht auf unglaublich effektive Weise, solche Koope­rationen einzugehen und so neue Methoden ins eigene Repertoire einzubinden.“

Für von Reumonts Arbeit im LOEWE Zentrum für Translationale Biodiversitäts­genomik stehen vor allem angewandte Aspekte wie die pharma­zeutisch interessanten Eigenschaften der Toxine oder ihre potenziellen Aktivitäten als Biopestizid im Vordergrund. Die Experimente erfolgen dabei in Zusammen­arbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Molekular­biologie und Angewandte Ökologie. Doch auch hier sei manchmal der Austausch mit weiteren Forschern, die sich auf bestimmte Methoden spezialisiert haben, hilfreich und dafür schaffe EUVEN eine Plattform, so von Reumont.

Diese integrative, kollaborative Forschung sieht der Giftforscher als die Zukunft in vielen Forschungs­bereichen, in denen Komplexität und Datenmenge immer mehr zunehmen. „In EUVEN wachse ich als Spezialist in einem Fach mit Spezialisten in anderen Fächern zu einem ‘organischen’ Ganzen zusammen und lerne so diese Form der integrativen Forschung stärker zu leben. Dies wiederum fördert den Erkenntnis­gewinn, was ja die Essenz in der Wissenschaft ist und sein sollte.“

Larissa Tetsch

Bild: Micha L. Rieser


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Letzte Änderungen: 31.05.2021