Editorial

Auf DNA-Spurensuche
im Gräberfeld

(30.01.2023) Woran litten Menschen des frühen Mittel­alters? Laut Kieler Forschern an Röteln, Hepatitis, Pocken und Lepra – zum Teil gleichzeitig.
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Der Besitzer dieses Schädels war mit gleich drei Erregern infiziert: Parvovirus B19, Hepatitis-B-Virus und Mycobacterium leprae.

Im Mittelalter waren die Lebens­bedingungen der meisten Menschen geprägt von harter Arbeit, Mangel­ernährung und Infektions­krankheiten. Da man noch keine Krankheits­erreger kannte, war die Heilkunde gegen Infektionen machtlos, und die schlechten hygienischen Verhältnisse begünstigten ihre Ausbreitung. Seit es möglich ist, DNA aus jahr­hunderte­alten Knochen zu analysieren, hat sich ein eigener Wissen­schafts­zweig etabliert, der versucht, die Herkunft und Evolution von Krankheits­erregern aufzuklären. Schlagzeilen machen dabei insbesondere neue Erkenntnisse über die großen „Killer“ der Geschichte wie das Pestbakterium Yersinia pestis oder der Erreger der Spanischen Grippe. Für die Entwicklung von Krankheiten und deren Auswirkungen auf das menschliche Genom interessiert sich Biochemiker und Archäologe Ben Krause-Kyora, der am Institut für Klinische Molekular­biologie an der Christian-Albrechts-Universität (CAU) zu Kiel das Labor für alte DNA (aDNA) leitet.

Mit seinem Team und weiteren Wissen­schaftlern vom Exzellenz­cluster „ROOTS – Konnektivität von Gesellschaft, Umwelt und Kultur in vergangenen Welten“ hat er in Grabfeldern der frühmittel­alterlichen Siedlung „Mittelhofen“ im heutigen Lauchheim in Baden-Württemberg nach Spuren von Infektions­erregern gesucht. Dabei soll der Blick ins Frühmittelalter auch helfen, das Auftreten neuer Krankheiten in unserer Zeit zu verstehen, wie Krause-Kyora erklärt: „Viele Krankheits­erreger treten im Zeitraum der Antike und des frühen Mittelalters erstmals auf. Sie können uns zeigen, wie Krankheits­erreger den Sprung in den menschlichen Wirt schaffen, sich dort dauerhaft anpassen und verbreiten. Diese Fragestellungen sind auch von aktueller Bedeutung, zum Beispiel wenn man sich das Coronavirus anschaut, das als Zoonose begonnen hat, dann zur Epidemie wurde und nun wohl langsam endemisch wird.“

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Wohlhabende Tote

Im Unterschied zum späten Mittelalter mit seinen großen Pest-Epidemien und vielen Lepra-Kranken weiß man über die Pathogen-Landschaft des frühen Mittelalters noch recht wenig. Um hier Licht ins Dunkel zu bringen, haben die Kieler Forscher um Krause-Kyora anhand von 79 menschlichen Skeletten aus Mittelhofen die Infek­tionslast der Bevölkerung rekonstruiert. Die Toten waren ab dem späten 7. Jahrhundert nach Christus über einen Zeitraum von 100 Jahren in sechs verschiedenen Grabstätten, vermutlich in der Nähe von Gehöften, beerdigt worden. Aus den Knochen extrahierten die Forscher aDNA und erstellten daraus insgesamt 70 Metagenome. „Wir haben sogenannte Shot-Gun-Sequen­zierungen der extrahierten DNA durchgeführt und diese Daten dann nach heute bekannten human­pathogenen Bakterien und Viren gescreent“, sagt der Biochemiker.

Das Frühmittelalter war eine Zeit des kulturellen Wandels: Die nach dem fränkischen Königs­geschlecht benannte Merowinger-Zeit stellt den Übergang von der Spätantike zum Mittelalter dar. In diese Epoche fiel zudem die Kleine Eiszeit, die mit Ernte­verlusten und Hungers­nöten einherging. Mittelhofen beschreibt Krause-Kyora als ländliche Siedlung, die allerdings strategisch gut an verschiedenen Handelswegen gelegen gewesen sei. „Die Ausstattungen der Toten in der Siedlung war für die Zeit relativ wohlhabend.“ Dennoch offenbarten die untersuchten Knochen, dass es um die Gesundheit der Bewohner nicht sonderlich gut bestellt war. So fanden die Forscher bei mehr als vier Fünftel der Skelette Anzeichen von physio­logischem Stress, und 22 der 70 Metagenome enthielten Erbgut von Infektions­erregern, acht davon sogar von zwei oder drei Infektions­erregern gleichzeitig. Und vermutlich sind diese Zahlen noch zu niedrig, wie Krause-Kyora erklärt: „Da wir als Ausgangs­material nur Knochen und Zähne zur Verfügung hatten, konnten wir nur Erreger finden, die im Blut zirkulieren. RNA-Viren lassen sich außerdem aufgrund des instabilen Erbguts oft gar nicht nachweisen.“

Hepatitis, Pocken, Röteln

Besonders häufig fanden die Forscher das Parvovirus B19, den Erreger der Ringelröteln: 21 der Metagenome wiesen Spuren seines Erbguts auf, also rund ein Drittel aller und sogar 40 Prozent der Metagenome aus Skeletten Heranwachsender. Ringelröteln verursachen heute bei Kindern in der Regel nur leichte Symptome, können bei Schwangeren jedoch das ungeborene Kind gefährden und bei immun­kompromittierten Menschen zu einer lebens­bedrohlichen Blutarmut führen.

Acht der untersuchten Menschen waren zum Zeitpunkt ihres Todes mit dem Hepatitis-B-Virus infiziert, dabei wiederum deutlich mehr Heranwachsende als Erwachsene (26,6 % im Vergleich zu 7 %). Auch diese Infektion verläuft heutzutage meist mild, kann aber vor allem bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem schwere Verläufe mit Leberversagen, Zirrhose und Leberkrebs nehmen.

Jeweils ein Metagenom zeigte Spuren des Erregers der Lepra (Mycobacterium leprae) und der Pocken (Variolavirus). Letzteres ist eine akute, tödliche Erkrankung mit Fieber, Erbrechen und einem typischen Hautausschlag, die seit 1980 weltweit als ausgerottet gilt (siehe dazu auch „Die Pocken im Wandel der Zeit“ auf LJ online). Lepra ist dagegen selbst nicht tödlich, doch durch Schädigungen der peripheren Nerven gehen sensorische Fähigkeiten verloren, die Verletzungen von Gliedmaßen und des Gesichts begünstigen. Die dadurch verursachten Entstellungen führten häufig zu sozialer Ausgrenzung und lebens­bedrohlichen Sekundärinfektionen.

Aufgrund fehlender Studien könne man die Daten leider nicht mit anderen frühmittel­alterlichen Bevölkerungen vergleichen, bedauert Krause-Kyora. Man müsse deshalb auf heutige Bevölkerungen zurückgreifen. Weil die gefundenen Krankheiten durch die gute medizinische Versorgung in vielen Ländern selten geworden oder ganz verschwunden sind, schauen sich die Forscher die Infektions­zahlen aus indigenen Bevölkerungen an. „Hier sieht man ähnlich hohe Prozentsätze für HBV und Parvovirus. Bei der Lepra und den Pocken existieren dagegen keine Zahlen“, fasst der Biochemiker zusammen.

Viele Überraschungen und fehlende Pesttote

Die Kieler Forscher deuten ihre Ergebnisse als Anzeichen für einen schlechten Gesundheits­zustand der Mittelhofener Bevölkerung. Das war unerwartet, weil die Ausstattung der Toten durchaus auf einen gewissen Wohlstand hindeutete. „Wir waren überrascht, dass wir gleich vier unterschiedliche Krankheits­erreger in einer Grabgemeinschaft gefunden haben“, so Krause-Kyora. „Für aDNA-Untersuchungen ist das eher ungewöhnlich.“ Auch der Nachweis von Lepra- und Pocken-Erreger kam unerwartet, da die großen Epidemien in Europa erst mehrere Jahrhunderte später auftraten. Stattdessen fällt die Justitianische Pest (541-543) in den Untersuchungs­zeitraum der Merowinger-Zeit – Yersinia pestis konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Ob es wirklich keine Pesttoten in Mittelhofen gab, oder ob diese woanders beerdigt wurden, ist noch eine offene Frage.

Da Pocken sehr ansteckend sind, verwundert es auch, dass in Lauchheim nur ein Mensch daran gestorben zu sein scheint. Möglicherweise war die Krankheit im frühen Mittelalter weniger tödlich oder ansteckend als in späteren Zeiten. Der Lepra-kranke junge Mann aus Lauchheim hatte den Knochen­befunden zufolge ein entstelltes Gesicht, blieb aber wohl – anders als viele „Aussätzige“ in späteren Zeiten – Teil der Gemeinschaft, da er gemeinsam mit den anderen Toten beerdigt wurde. Dies könnte darauf hindeuten, dass sich die Krankheiten oder ihre Wahrnehmung im Laufe der Zeit verändert haben.

Kränker als heute?

„Die frühen Funde von Mycobacterium leprae und dem Variolavirus bieten uns wichtige Erkenntnisse, wie sich Krankheits­erreger entwickeln und wie aus einzelnen Zoonosen Epidemien entstehen können“, ist Krause-Kyora sicher. Aus den Daten ableiten, dass die Menschen damals kränker waren als wir heute, möchte der Forscher aber nicht. „Wir sehen durch die moderne Medizin in Europa und den USA zwar einen klaren Rückgang von Infektions­krankheiten, aber dafür auch einen Anstieg von chronischen Entzündungs­erkrankungen. Man kann also nicht den Schluss ziehen, dass die frühmittel­alterlichen Menschen kränker waren als wir, aber sie hatten eine relativ hohe Belastung mit Infektions­krankheiten.“

Larissa Tetsch

Bonczarowska J. et al. (2022): Pathogen genomics study of an early medieval community in Germany reveals extensive co-infections. Genome Biology, 23(1):250.

Bild: Isabelle Jasch-Boley


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Letzte Änderungen: 30.01.2023