Editorial

Inkontinenz am Inn: Von Blinden, Standhaften und Süppchenkochern (1)

Skandal um die Innsbrucker Inkontinenzstudie: Er zeigt, dass man Personen und Gremien einer Universität und Politiker über Jahre hinweg gegeneinander ausspielen kann, bis die Universität am Ende ist. Man muss nur ihre gegenseitigen Abneigungen und Interessen ausnützen.

(15.12.2008) Folge 1 - März bis Mai 2007:

Die Innsbrucker Ethikkommission macht eine Entdeckung


Die fristlose Entlassung des Rektors der Medizinischen Universität Innsbruck (MUI), Clemens Sorg, im August dieses Jahres erregte Aufsehen. Dies deshalb, weil sich der Verdacht aufdrängte, Sorgs Entlassung hänge mit seinem Bemühen zusammen, die Verantwortlichen der Innsbrucker Inkontinenzstudie (siehe Lj 10/2008) zur Rechenschaft zu ziehen. Ärzte der Innsbrucker Urologie hatten in die Harnröhre und in den Blasenschließmuskel von Inkontinenz-Patienten illegal autologe Vorläuferzellen injiziert und daraus eine ebenfalls illegale Studie gemacht.

Aufsehen erregte auch der Prozess eines dieser Patienten, Dieter Bollmann, gegen die Tiroler Landeskrankenanstalten GmbH (TILAK), den Träger der Universitätskliniken. In der Presseberichterstattung wurde jedoch - wohl aus Platzgründen - nie die eigentliche Dimension des Falles dargestellt. Sorg ist den Fall korrekt angegangen. Ohne Sorg wäre er wohl schnell, z.B. mittels Redeverboten, "schubladisiert" worden wie man in Östereich sagt. Die Hauptrolle bei der Aufdeckung des Innsbrucker Inkontinenzskandals spielten jedoch die Mitglieder der Innsbrucker Ethikkommission (EK), insbesondere der Pharmakologe Hartmut Glossmann und der Jurist Andreas Scheil. Scheil, Jahrgang 1953, ist Tiroler und sitzt seit 2007 auf dem Lehrstuhl für Finanz- und Wirtschaftsstrafrecht der Universität Innsbruck. Seit 1999 ist Scheil Mitglied der EK der MUI.

Glossmann, geboren 1940 in Kassel, forscht u.a. über spannungsabhängige Ca2+-Kanäle. Er ist laut ISI Analyse einer der 10 meistzitierten Österreicher und Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse. In Glossmanns Arbeitsgruppe wurde auch das dem autosomal-rezessiv vererbbaren Smith-Lemli-Opitz-Syndrom zugrunde liegende 7-Sterolreduktase-Gen kloniert. Bei dem Syndrom kommt es zu Cholesterinmangel und dadurch zu Fehlbildungen: kleiner Kopf, Herzfehler, eine fehlende Niere. Seit 1984 ist Glossmann Vorstand des Instituts für Biochemische Pharmakologie, seit 1991 Mitglied der EK der MUI.

Die Probleme der Innsbrucker EK begannen am 7. März 2007. An diesem Tag reichte der Oberarzt der Urologischen Klinik Germar Pinggera bei der EK einen Antrag ein, dem die Geschäftsnummer AN 2895 zuteil wurde. Gebeten wurde um die Stellungnahme der EK zu einer Phase II Studie über die "Therapie der Stress-Inkontinenz durch die transurethrale sonographisch gezielte Injektion von autologen Myo- und Fibroblasten". An 100 Patienten im Alter zwischen 30 und 85 Jahren wollte Pinggera prüfen, ob und wie weit die ultraschallgesteuerte Injektion von Myoblasten und Fibroblasten und mit Glutaraldehyd vernetztem Rinderkollagen in den Blasenschließmuskel und in die Harnröhre Inkontinenz heilen kann. Bei Phase II Studien wird das Therapiekonzept überprüft und die geeignete Dosierung festgestellt.

Mit dem Thema hatte die EK schon früher zu tun gehabt. Am 14.2.2001 hatte der Vorstand der Urologischen Klinik Innsbruck, Georg Bartsch, eine neue medizinische Methode eingereicht, die mit 10 Patienten überprüft werden sollte. Titel: "Transurethrale ultraschallgezielte Injektion von autologen Myoblasten, Fibroblasten und Kollagen zur Behandlung der Harn-Inkontinenz.", Geschäftsnummer AN 1353. Die EK machte Bartsch darauf aufmerksam, dass es sich bei den Myoblasten, Fibroblasten und dem Kollagen um ein Arzneimittel handele, und dass er wegen der Erstanwendung am Menschen - klinische Daten lagen noch nicht vor - die Genehmigung des Arzneimittelbeirats benötige. Die EK sei für die Genehmigung nicht zuständig. Gemeint war: Zuerst hat der Arzneimittelbeirat das Projekt zu genehmigen, danach gibt die EK eine Stellungnahme, ein Votum, ab. Bartsch als langjähriges ehemaliges Mitglied der EK verstand das auch so.

Der Vorgang AN 1353 wurde storniert.

Bartsch suchte umgehend beim Arzneimittelbeirat um Genehmigung an. Die wurde ihm nach mehreren Nachbesserungen am 27. Juni 2002 erteilt. Als sich die Genehmigung abzeichnete, reichte Bartsch im Mai 2002 bei der EK einen neuen Antrag ein. Diesmal auf eine Phase I Arzneimittelstudie mit dem Titel: "Transurethrale ultraschallgezielte Injektion von autologen Myoblasten, Fibroblasten und Kollagen zur Behandlung der Harn-Inkontinenz - offene, prospektive Phase I Pilotstudie.", Geschäftsnummer AN 1604. Teilnehmen sollten 15 Patienten. Zur Studie AN 1604 gab die EK eine befürwortende Stellungnahme ab und die Studie wurde mit 11 Patienten durchgeführt.

Am 19. Mai 2003 ging ein dritter Antrag von Bartsch zum gleichen Thema an die EK: "Transurethrale ultraschallgezielte Injektion von autologen Myoblasten, Fibroblasten und Kollagen zur Therapie der Harn-Inkontinenz." Er erhielt die Nummer AN 1826. Wieder handelt es sich um eine Phase I Studie, diesmal mit 10 Patienten. (Eine Genehmigung des AMB war hierfür nicht mehr erforderlich, da diese nur für die Erstanwendung am Menschen, also für AN 1604, eingeholt werden musste.) Die EK gab am 13.6.2003 - in weniger als vier Wochen - ein positives Votum ab. Sie weiß also von 21 (11+10) behandelten Patienten. Nach zwei Phase I Studien von Bartsch wollte Pinggera nun eine Phase II Studie mit 100 Patienten durchführen. Der Antrieb war ein finanzieller: Die TILAK hatte bis 2006 für 200 Behandlungen die Züchtung der Zellen durch die Firma Innovacell bezahlt. Doch 2006 hatte der ärztliche Direktor des Landeskrankenhauses Innsbruck/Universitätskliniken Wolfgang Buchberger der Urologie mitgeteilt, die TILAK wollten nur dann weiterhin für die Harn-Inkontinenz Behandlung zahlen, wenn sie - wie es das Gesetz fordert - innerhalb einer klinischen Arzneimittelstudie erfolge. Für letztere ist vor Studienbeginn immer eine Stellungnahme der EK erforderlich. Weitere Behandlungen auf der Klinik für Urologie außerhalb einer solchen Studie hatte Buchberger dem Klinikvorstand Bartsch ausdrücklich verboten.

Wie kam es dazu?

2006 hatten Buchberger und TILAK Vorstand Herbert Weissenböck erfahren, dass der Oberarzt der Urologie, Hannes Strasser, Patienten außerhalb der von der EK genehmigten Studien mit den erwähnten Myoblasten und Fibroblasten behandelte. Er mache dies im Rahmen einer "Anwendungsbeobachtung", soll Strasser Buchberger und Weissenböck gesagt haben. Eine Anwendungsbeobachtung eines Arzneimittels ist keine "klinische Prüfung" (klinische Arzneimittelstudie). Daher entfällt die Stellungnahme der EK und die Studienteilnehmer (=Patienten) müssen auch nicht verschuldensunabhängig versichert werden. Eine Anwendungsbeobachtung kann jedoch nur an zugelassenen "Arzneispezialitäten" vorgenommen werden. Das sind Arzneimittel, die auf Vorrat hergestellt und in gleichbleibender Qualität an Apotheken abgegeben werden. Bei den Myoblasten und Fibroblasten handelt es sich offensichtlich nicht um eine zugelassene "Arzneispezialität". Die Behandlung im Rahmen einer Anwendungsbeobachtung kommt also nicht in Frage. Das mag auf den ersten Blick wie juristische Haarspalterei klingen, doch macht sie Sinn und ihre Konsequenzen sind nicht banal. Bei nicht gesetzeskonformem Verhalten und fehlender Versicherung kann die TILAK von Patienten auf Schadenersatz verklagt werden: In der Tat hatte ja 2006 der Patient Bollmann die TILAK verklagt. Auch sollen die juristischen Definitionen und Regeln verhindern, dass wissenschaftlich nicht abgesicherte Behandlungen angewendet werden: Laut Tiroler Krankenanstaltengesetz dürfen die Tiroler Krankenanstalten ihre Patienten nur mit evidenzbasierten, wissenschaftlich anerkannten Methoden behandeln - und das ist auch gut so. Falls Sie sich fragen, warum die TILAK dann bis 2006 die Kosten für die Zellzüchtungen für 200 Behandlungen übernommen hat und wer dies genehmigte, ist die Antwort: Man weiß es nicht. Jedenfalls machte spätestens Bollmanns Klage dem TILAK Vorstand die juristische Problematik bewusst. Buchberger hatte deswegen im Dezember 2006 mit Bartsch ausgemacht, dass Stammzellenbehandlungen nur noch im Rahmen einer von der EK approbierten Studie durchgeführt werden.

Trotzdem war auch 2007 noch behandelt worden: allein von Oktober 2003 bis Juli 2007 behandelte Strasser 353 Patienten mit seiner Methode. Als Buchberger davon im November 2007 erfuhr, befahl er Bartsch, dies abzustellen. Ohne Erfolg: noch 2008 hat Strasser in zwei Patienten Myo- und Fibroblasten injiziert (nach Auskunft der TILAK).

Strasser und/oder Bartsch hatten sich juristische Hilfe geholt. In einer Stellungnahme für die Firma Innovacell, die die autologen Zellen züchtet, kam deren Anwalt Guggenberger im September 2006 zum Schluss, dass der Begriff Anwendungsbeobachtung nicht zutreffe. Dennoch schloss Guggenberger, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Behandlung der Harninkontinenz mit autologen Zellen außerhalb von klinischen Studien gegeben seien. In letzterem irrt der Anwalt: Voraussetzung für eine Behandlung außerhalb von klinischen Studien wäre die Anerkennung der Methode durch die Wissenschaft. Die aber erfordert den üblichen Anerkennungsprozess: Phase I, Phase II und Phase III Studie, und die Studien jeweils eine Stellungnahme durch die EK.

Anscheinend sah man das auch in der Urologie so, denn März 2007 stellte Pinggera den Phase II Antrag.

Zum Erstaunen der EK fand sich jedoch unter den zu Pinggeras Antrag vom 7. März 2007 bei der EK nachgereichten Unterlagen ein von Lancet akzeptiertes Manuskript einer Phase III Studie zum gleichen Thema. Diese Studie will der Oberarzt Hannes Strasser von 2002 bis 2004 durchgeführt haben.

Von einer Phase III Studie wusste die EK nichts: Sie war ihr nie zur Stellungnahme vorgelegt worden. Zudem ist die richtige Studienreihenfolge: Auf II folgt III und nicht umgekehrt. Strassers Phase III Studie erschien am 30. Juni 2007 in Lancet unter dem Titel "Autologous myoblasts and fibroblasts versus collagen for treatment of stress urinary incopntinence in women: a randomised controlled trial". Coautor ist unter anderen Strassers und Pinggeras Vorgesetzter Georg Bartsch.



Hubert Rehm



Letzte Änderungen: 17.12.2008