Editorial

Unglaubliche Geschichten



Was macht einen erfolgreichen Wissenschaftler aus? Unsere vier Kurzbiografien zeigen: So unterschiedlich die Menschen sind, so verschieden sind ihre Erfahrungen und Kämpfe.

Exotische Gene

(3. Juli 2009) Wissenschaftler haben oft das Gefühl, dass sie keiner versteht - vor allem nicht die Verwandtschaft. Nobelpreisträger Paul Nurse hat sich auch schon immer gewundert, warum er anders ist als seine Geschwister. Diese verließen alle mit 15 die Schule, während aus ihm ein berühmter Zellzyklusforscher wurde. Bei einer gemeinsamen Veranstaltung des World Science Festivals und des Literaturportals "The Moth" gab er kürzlich genauer Auskunft.

Alles fing damit an, dass seine Tochter für ein Schulprojekt einen Familienstammbaum erstellen musste. Kreidebleich gestand die Mutter von Nurse, dass sowohl sie als auch ihr Mann uneheliche Kinder waren. Nurse dachte im Stillen, er habe vielleicht von den unbekannten Vorfahren einige exotische Gene geerbt. Dass das nur ein Ablenkungsmanöver war, ahnte er nicht.

Als ihm 2007 in den USA die Greencard verweigert wurde, kam die ganze Wahrheit ans Licht. Der Wissenschaftler war damals nicht nur Nobelpreisträger und Ritter, sondern auch Präsident der Rockefeller University. Die Einwanderungsbehörde war mit seiner Geburtsurkunde unzufrieden, auf der seine Eltern nicht namentlich aufgeführt waren. Also beantragte er eine ausführliche Version. Im Dokument, das er zugeschickt bekam, war aber als Mutter seine 18 Jahre ältere Schwester angegeben. Nurse dachte zunächst, die für die Geburtsurkunde zuständige Behörde habe einen Fehler gemacht. Dem war aber nicht so. Seine Verwandschaftsverhältnisse waren in Wirklichkeit noch komplizierter als er bisher gedacht hatte: Nurse war in Wirklichkeit das uneheliche Kind seiner 18 Jahre älteren "Schwester". Sein Vater ist unbekannt, was noch mehr Spekulationen über einen Einfluss exotischer Gene auf seinen Werdegang zulässt. Nurse wurde im Haus seiner Großtante geboren und die Großeltern gaben sich als seine Eltern aus. Es gelang ihnen, dieses Geheimnis über ein halbes Jahrhundert zu bewahren.

Vom Künstler zum Wissenschaftler

Auch der Neurobiologe Erich Jarvis hat einiges erlebt. Der Forscher untersucht an der Duke University in Durham, North Carolina Lernvorgänge anhand des Vogelgesangs. Seine Eltern trennten sich, als er fünf war. Wenn sein Vater auftauchte, rief seine Mutter die Polizei - aus Angst. Jarvis Vater war nicht nur ein begeisterter Musiker, Hobbywissenschaftler und Fossiliensammler - er litt aber auch unter Schizophrenie und nahm Drogen. Jahrelang lebte er in Höhlen.

Mit 43, als er sein Leben gerade wieder in den Griff bekam und seine psychische Erkrankung behandelt wurde, wurde er ermordet. Erich Jarvis sagt über seinen Vater, dieser sei ganz in den Dingen aufgegangen, mit denen er sich beschäftigt habe. Er habe die größeren Zusammenhänge des Lebens und des Universums verstehen wollen. Das gehe ihm genauso. Die Krankheit seines Vaters habe ihn in seiner Lebensperspektive nicht beeinträchtigt.

Vor dem College machte der Forscher an der New Yorker Highschool of Performing Arts eine Ausbildung als Balletttänzer. Manche kennen diese Highschool vielleicht aus dem Filmmusical "Fame". Jarvis sieht keinen Widerspruch zwischen seinen künstlerischen und wissenschaftlichen Interessen. "Als Künstler und als Wissenschaftler muss man diszipliniert sein, hart arbeiten, Durchhaltevermögen haben, viele Rückschläge vor einem Erfolg einstecken und kreativ sein. Bei beiden Tätigkeiten macht man Entdeckungen", sagte er gegenüber Laborjournal. Wenn man das in einer Disziplin geschafft habe, könne man das auch in einer anderen. Er glaube jedoch, dass er als Wissenschaftler eher einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft ausüben könne. Außerdem habe ihn Forschung fasziniert. Das habe ihn zu seinem Karrierewechsel bewegt. Seine harten Lebensumstände hat er durch seinen Erfolgswillen bewältigt. Voraussetzungen für eine Laufbahn in der Forschung sind für ihn Disziplin, Begeisterung und Effizienz beim Lernen und Forschen. "Es gibt immer Raum für weitere wissenschaftliche Entdeckungen und für Leute, die sie machen wollen", so Jarvis.

Von der rassengetrennten Schule zum Regierungsberater

Sylvester James Gates ist theoretischer Physiker an der Universität Maryland. Er ist Wissenschaftsberater der Regierung Obama und der erste Afroamerikaner mit einem Stiftungslehrstuhl für Physik an einer bedeutenden amerikanischen Forschungsuniversität.

Der Wissenschaftler interessierte sich von Kindesbeinen an für Mathematik, Physik und Weltraummissionen. Da sein Vater Armeeangehöriger war, besuchte Gates zunächst eine internationale Schule der Armee. In der Armee war Rassentrennung seit 1948 verboten. Als er 11 Jahre alt war, starb seine Mutter an Brustkrebs. Sein Vater heiratete ein Jahr später wieder und die Familie zog nach Orlando in Florida, wo Gates zum ersten Mal in seinem Leben eine nach Rassen getrennte Schule besuchte. Das war Anfang der sechziger Jahre.

Gates erlitt einen Kulturschock: Er habe lernen müssen, ein Schwarzer zu sein. Aber gerade in dieser Umgebung wurde sein Ehrgeiz angestachelt und er fand weitere Rollenvorbilder. Gates machte Bachelorabschlüsse in Mathematik und Physik und eine Doktorarbeit am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Im Verlauf seiner Karriere war er Postdoc in Harvard und am California Institute of Technology sowie Assistant Professor am MIT. Manchmal frage er sich selbst, wie er es so weit gebracht habe. Er habe einfach den richtigen Vater gehabt, der ihn ermutigt habe, Fragen zu stellen. Studenten rät der Wissenschaftler, auch das eigene Wohlbefinden und Selbstwertgefühl, die eigenen Erfolge wichtig zu nehmen. Die Studentenzeit sei auch eine Reifezeit und der Beginn einer intellektuellen Reise unter einem enormen Leistungsdruck.

Wie viele Afro-Amerikaner hat auch Gates die Erfahrung gemacht, dass seine Kompetenz ungerechtfertigt in Frage gestellt wird. Er erzählte Laborjournal folgende Begebenheit: 1980 reiste er als fortgeschrittener Postdoc zu einer Konferenz in Cambridge (UK), die mit Unterstützung von Stephen Hawking zustande kam. Am Abend wurden Fachfragen diskutiert. Als Gates eine der aufgekommenen Frage beantwortete, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass er vollkommen ignoriert wurde. Später kam ein französischer Kollege hinzu und sagte das Gleiche, was Gates schon zuvor als Antwort gegeben hatte. Der Beitrag des Franzosen wurde als wesentlicher Diskussionsbeitrag gefeiert. Diese Art von Diskriminierung kennen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus eigener Erfahrung. Sie auch?

Frühe Neigung zum Konditionieren

Onur Güntürkün ist Professor an der Ruhr-Universität Bochum und untersucht dort die neurobiologischen Grundlagen des Verhaltens. Zusammen mit 26 anderen Wissenschaftlern entwickelten er und Jarvis eine neue Nomenklatur für bestimmte Regionen des Vogelgehirns, die neuere Erkenntnisse über Funktion und Evolution berücksichtigt. Auf dem Gruppenfoto fällt auf, dass Güntürkün im Rollstuhl sitzt.

Der Forscher ist in Izmir geboren und erkrankte mit vier Jahren an Kinderlähmung. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er einige Jahre in Deutschland und einige Jahre in der Türkei. In Deutschland besuchte er die Grundschule und das Gymnasium. Es habe ab und zu Anfragen gegeben, ob er auf einer Sonderschule für Behinderte nicht besser aufgehoben sei. Seine Mutter, eine Lehrerin, habe das aber strikt abgelehnt. Er habe nicht den Eindruck, dass das deutsche Bildungssystem Behinderte besonders benachteilige. Ursprünglich schwankte er zwischen Medizin und Psychologie. Sein Vater ist Arzt. Güntürkün entschied sich schließlich für Psychologie, da er den Anblick von blutigen Wunden nicht ertragen kann. Außerdem konnte er damit besser seinen Neigungen folgen. Als Kind baute er in Musikkasetten-Schachteln winzige Labyrinthe und untersuchte, wie Käfer den Weg finden. "Ich konditionierte Aquarienfische gegen Futterbelohnung auf kleine Plastikschilder verschiedener Farben und Helligkeiten und versuchte herauszufinden, ob sie Farben sehen können oder nur anhand von Helligkeit vorgehen", erzählte der Wissenschaftler Laborjournal.

Vom Psychologiestudium war er anfangs enttäuscht und fand es langweilig, da es zu wenig mit Verhaltensforschung und Neurowissenschaft zu tun hatte. Diese Art von Forschung wurde damals abwertend als "Rattenforschung" betrachtet. Als er Doktorand war, riet ihm ein berühmter Psychologe auf einem Kongress dringend ab, sein Forschungsinteresse weiter zu verfolgen. Das habe in Deutschland keine Zukunft. "Ich habe natürlich mit meiner Forschung weitergemacht, denn meine Arbeit war kein Kalkül, sondern ein Teil von mir", sagte Güntürkün. Seine Postdoczeit verbrachte er in Paris, San Diego und Konstanz. Heute sei die Neurowissenschaft eine wichtige Ausbildungskomponente der Psychologie und er mit seiner Forschung mittendrin.



Bettina Dupont



Letzte Änderungen: 04.09.2009