Editorial

Alle für eins

Forscher hüten ihre Ergebnisse in der Regel wie Staatsgeheimnisse – zu groß ist die Angst, dass die Konkurrenz davon Wind bekommt und der eigenen Veröffentlichung zuvorkommt. Einen anderen Grundsatz verfolgen die in der RNAi Global Initiative zusammengeschlossenen Wissenschaftler: Sie teilen ihre Erfahrungen miteinander – und kommen zusammen schneller voran.

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(7. Dezember 2010) Rote Doppeldeckerbusse rauschen im Minutentakt die Oxford Street entlang, eine der belebten Einkaufsmeilen im quirligen Stadtzentrum Londons. Menschenmassen schieben sich an den bunten Schaufenstern mit Souvenirs, Kleidung und Schuhen vorbei. Dahinter liegt der Hyde Park mit seinen riesigen Rasenflächen. Einige Schritte vom Großstadtgetriebe entfernt in einer ruhigeren Nebenstraße befindet sich das Hotel „The Cumberland“. Die riesige Lobby gleicht dem Ausstellungsraum eines Museums für moderne Kunst: Überlebensgroße Statuen von stehenden, laufenden und schwebenden Männern bevölkern die geräumige Halle, dazu laufen an den Wänden Videoclips von springenden Menschen in Endlosschleife.


An diesem Ort trafen sich Mitte Oktober die Mitglieder der RNAi Global Initiative zum elften Mal seit dem fünfjährigen Bestehen der Organisation. Die Inititative umfasst Gruppen aus 53 Instituten in 15 Ländern auf 5 Kontinenten, 23 der Gruppenmitglieder waren in London anwesend. Viele von ihnen kommen aus der Krebs- oder Infektionsforschung. Alle verfolgen unterschiedliche Fragestellungen, jedoch mit derselben Technik: Sie spüren Genfunktionen mit Hilfe genomweiter Bibliotheken für RNA-Interferenz (RNAi) auf. Dafür schleusen sie kurze RNA-Moleküle in Zellen und schalten nacheinander alle Gene ab.


Die Idee, ein Netzwerk für die Anwender komplexer RNAi-Screens zu gründen, stammt von Michael Deines, Marketing-Direktor der Genomik-Sparte von Thermo Fisher Scientific aus Lafayette in Colorado. Seine Firma stellte 2005 als erste genomweite humane RNAi-Bibliotheken her und vertreibt sie seither, ebenso eine genomweite Maus-RNAi-Bibliothek.


„Ich habe in den letzten zwanzig Jahren viele neue Technologien aufkommen gesehen“, sagte Deines am Rande des Meetings, zwischen Vorträgen und Postersession. „Und ich habe beobachtet, dass Labore häufig viele Jahre benötigen, um neue Verfahren zu etablieren und effizient anzuwenden.“ Durch den Aufbau der RNAi Global Initiative wollte der Mittvierziger die Reifezeit der Methode abkürzen: Der Erfahrungsaustausch soll das ganze Feld schneller voranbringen – und damit auch den wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt. „Wir organisieren zwei Treffen pro Jahr wie auch monatliche Telefonkonferenzen, um Diskussionen und Kollaborationen zu fördern. Außerdem können Mitglieder auf der Webseite der RNAi Global Initiative Informationen und Protokolle zur Methodik einsehen“, berichtete Deines.


Während es bei früheren Treffen der Gruppe hauptsächlich darum ging, wie man einen erfolgreichen Screen durchführt, diskutierten die RNAi-Experten auf der aktuellen Tagung über die Optimierung und Weiterentwicklung der Technik: Automatisierung, die Etablierung neuer Assays, sowie die Verwaltung und bioinformatische Auswertung der anfallenden riesigen Datenmengen.

Ein erkennbarer Trend ist die Zunahme so genannter High-Content-Screening (HCS)-Verfahren. Dabei untersuchen Roboter, nach dem Zusatz von Gen-blockierenden RNA-Molekülen, Tausende von Proben auf unterschiedliche Parameter und werten sie anschließend statistisch aus. HCS-Experimente bieten einen umfassenden Blick auf biologische Prozesse: Sie zeigen Wechselwirkungen getesteter Substanzen mit Zielmolekülen sowie weiteren Zellkomponenten auf. Einsetzbar sind die Assays etwa, um krankheitsrelevante Gene und Signalwege zu identifizieren, neue Wirkstoffe zu finden oder die Morphologie einer Zelle samt ihrer zeitlichen Dynamik zu erfassen.


Frederic Bard vom Institute of Molecular and Cell Biology (IMCB) in Singapur zeigte in London beispielsweise, wie er mit HCS Gene aufspürt, die den Stofftransport in höheren eukaryotischen Zellen regulieren. Der gebürtige Franzose untersucht die Aufnahme des giftigen Lektins Rizin aus den Samenschalen der Rizinusstaude (Ricinus communis). „Der Transport durch die Zelle verläuft nicht entlang eines einzelnen Weges, sondern eher wie bei einem Flussdelta“, erklärte er auf einer Aufnahme das blaue Geflecht „seiner“ Zellen.


Auch Daniel Gilbert vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg präsentierte Ergebnisse von HCS-Experimenten. Um die Wirkungsweise eines neuen Krebsmedikaments  zu untersuchen, schleust er siRNA (short interfering RNA) in Zellen und gibt den Wirkstoff dazu. Anschließend färbt er die Zellen mit fluoreszenzmarkierten Antikörpern und wertet sie mit bildgebenden Verfahren aus. „In dem Projekt fielen 12 Terabyte Daten an“, berichtete Gilbert. Während am DKFZ ausreichend Speicherkapazität dafür vorhanden ist, stellt die Verarbeitung und Speicherung derartiger Bytezahlen allgemein noch eine große technische Herausforderung dar.


Auch die zunehmende Zahl von Servicegruppen, die aufwändige genomweite RNAi-Screens für andere Forschergruppen durchführen, beschäftigt sich mit der Optimierung der Datenverwaltung und des Datenflusses. So schilderte Becky Saunders vom High Throughput Screening Laboratory des Cancer Research UK Research Institute in London ihre Erfahrungen, die sie während des dreijährigen Bestehens der Labors in 100 Screens gesammelt hat: „Probleme, die bei der Durchführung von Hochdurchsatz-RNAi-Screens gelöst werden müssen, betreffen die Automatisierung des Datentransfers, die Optimierung der Infrastruktur und den Aufbau einer Screening-Datenbank.“ Außerdem müssen für jeden Screen neue Treffer-Kriterien festgelegt werden, wie die junge Britin darlegte – etwa zur Unterscheidung zwischen Hintergrundrauschen und Signal,. Das ist besonders bei Metaanalysen schwierig, in denen verschiedene Screens miteinander verglichen werden.


Die RNAi-Profis feilen auch an der Kombination von RNAi-Screens mit anderen Verfahren. So dient beispielsweise quantitative PCR dazu, sicher zu stellen, dass tatsächlich die Abnahme der angepeilten mRNAs die beobachteten Effekte bewirkt. Auch kleine Moleküle kann man in Kombination mit RNAi testen, um komplexere Wirkprinzipien aufzuspüren. Weiterhin setzen einige der Beteiligten unterschiedliche RNAi-Arten parallel ein, um verschiedene Zellarten oder Zeitpunkte zu beobachten.


So berichtete etwa Roderick Beijersbergen vom Netherlands Cancer Institut in Amsterdam, wie er mit siRNA, esiRNA (Endoribonuklease-zubereitete siRNA) und shRNA (small hairpin RNA) nach neuen Krebsmedikamenten sucht. Mit shRNA beispielsweise lassen sich längere Zeiträume untersuchen. Sie wird durch einen Virus übertragen, über das Virusgenom in das Wirtgenom integriert und anschließend kontinuierlich abgegeben.


Auch das Team von Achim Kramer an der Charité in Berlin nutzt shRNA. Ihr Ziel ist mit Hilfe eines genomweiten RNAi Screens die molekularen Komponenten der inneren Uhr in Zellen zu entschlüsseln, wie Kramer in London schilderte. Für ihre Assays setzen die Chronobiologen humane Zelllinien ein, die neben der shRNA das Gen des Leuchtkäferenzyms Luziferase unter einem uhrspezifischen Promotor tragen. Die Berliner konnten über eine Woche beobachten, wie die Zellen entsprechend ihres Tag- und Nachtrhythmus unterschiedlich hell leuchteten.


Genomweite RNAi-Screens beflügeln auch den Fortschritt in der personalisierten Medizin – wie der britische Onkologe Charles Swanton vom Cancer Research UK London Research Institute auf dem Kongress veranschaulichte. Der Mediziner sucht in Gewebeproben von Krebspatienten nach Genen, die für Medikament-Resistenzen verantwortlich sind. Sein Ziel ist es, neue Biomarker zu finden, die eine maßgeschneiderte Behandlung von Patienten ermöglichen, die nur schlecht auf herkömmliche Therapeutika ansprechen. Swantons Arbeit ist auch Teil des europäischen Konsortiums „Personalized RNA Interference to Enhance the Delivery of Individualized Cytotoxic and Targeted therapeutics“ (PREDICT).


Ebenso wollen die Forscher noch weitere Therapiekonzepte mit der neuen Technik vorbereiten: So stellte Miguel Mano vom International Centre for Genetic Engineering and Biotechnology (ICGEB) in Triest auf dem RNAi Global Meeting seine Arbeit über Adeno-assoziierte Viren als Vektoren für die Gentherapie vor. „Da sich nicht alle Gewebe mit dem Virus infizieren lassen, suchen wir in einem genomweiten RNAi-Screen nach den dafür verantwortlichen Wirtszellfaktoren“, erläuterte der Italiener. Bisher fanden sie zwei Gentypen –  solche, die der Virus für seine Vermehrung benötigt, und solche, die eine Infektion mit den Viren hemmen.


Und auch in Holland bastelt man an Viren für den Behandlungseinsatz: Victor van Beusechem vom Vrije University Medical Centre (VUMC) in Amsterdam versucht Adenoviren derart zu manipulieren, dass sie Krebszellen zerstören und gesunde Zellen schonen. Hierfür spürt er per RNAi-Screen Gene in infizierten Zellen auf, welche die Virusreplikation beeinflussen. Die gefundenen Regulatoren integriert er in das Virusgenom und testet die neu entstandenen Mutanten auf ihre Effekte in Krebszellen.


Die Fortschritte beim genomweiten RNAi-Screening sind also rasant. „Es ist erstaunlich, was die ganze Gruppe bereits geleistet hat“, meint Deines zufrieden. Sein Konzept zur beschleunigten Entwicklung der neuen Methode scheint in der RNAi Global Initiative aufzugehen.


Und welchen Nutzen zieht Thermo Fisher Scientific selbst als Unternehmen aus der von ihm gegründeten Initiative? „Wir arbeiten auf diese Weise mit Leuten zusammen, die unsere Produkte jeden Tag nutzen und genau wissen, was funktioniert und wo Probleme auftreten. So können wir ganz gezielt in neue Forschung zur Verbesserung der angebotenen Produkte investieren“, führt Deines aus.


Mit den verbesserten Produkten erzielen die Wissenschaftler wiederum bessere Ergebnisse. Und so wirkt der wissenschaftliche Austausch hier wie ein fortschrittsförderndes Perpetuum mobile, der die biologische Forschung und den medizinischen Fortschritt antreibt.

 

Melanie Estrella

 

Bildnachweis: iStockphoto/robert van beets



Letzte Änderungen: 04.03.2013