Editorial

Ist nicht irgendwann Feierabend?

Eine Art Leserbrief: Die ehemalige Doktorandin Jennifer Wellen klagt in ihrer autobiografischen Kurzgeschichte über die endlosen Korrekturen für ihre Doktorarbeit. Weil es vielleicht manchen Doktoranden da draußen ähnlich geht, hier zum selber lesen.

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(18. Mai 2011) „Als ich meinen Mail-Account aufrufe, erstarre ich. Wieder eine E-Mail von meinem Doktorvater. Ich fühle plötzlich, wie mein Herz schneller zu schlagen beginnt, meine Hände feucht werden und ich keine Luft mehr bekomme. Was will er denn schon wieder? In der Betreffzeile steht nichts geschrieben. Vielleicht sollte ich die Nachricht einfach ignorieren. Einfach so tun als hätte ich sie überlesen. 

Eine Zeit lang starre ich auf den Monitor und wäge die Möglichkeiten ab. Pflichtbewusst, wie ich bin, öffne ich sie doch und lese. Zahlreiche, gefühlte Nadelstiche auf meiner Haut sind ein Zeichen für die Überschwemmung meines Körpers mit Adrenalin. Änderungen, er möchte mal wieder Änderungen. Was sonst?

Auf Seite 23 der untere Absatz. Abbildung 13 im Ergebnisteil und der Punkt 5.1 in der Diskussion müssten noch überarbeitet werden, und, und, und … Die restlichen Kritikpunkte auf der Liste lese ich nicht mehr, da ich fühle, wie meine Augen sich mit Tränen füllen. Kann nicht endlich Schluss sein mit den Korrekturen? Ist nicht irgendwann mal Feierabend? Seid zweieinhalb Jahren sitze ich nun am schriftlichen Teil meiner Dissertation. Mit den drei Jahren Laborarbeit macht es summa summarum fünfeinhalb Jahre. Die Antwort ist klar, als ich diese E-Mail lese. Nein, es ist noch nicht vorbei!

Ein wissenschaftlicher Doktorand ist so etwas wie ein Sklave. Gezahlt wird ein halbes Gehalt, schuften soll er aber wie zwei, nein besser noch, wie drei fertige Doktoren.
Ein wissenschaftlicher Doktorand ist eine billige Arbeitskraft und leider auch eine willige, weil er den Titel möchte. Aus diesem Grund sind wir unserem Doktorvater gegenüber unterwürfig, wie junge Hunde. „Wenn du ihn willst, musst du etwas dafür tun“, hatte er mir am Anfang gesagt. „Du musst dich aufopfern, dein Privatleben hinten anstellen und solltest dir einen Schlafplatz im Labor einrichten.“

Anfangs hatte ich die Zähne zusammengebissen, die Faust in der Tasche geballt und ein freundliches Gesicht aufgesetzt. Zwei Jahre lang hatte ich hart gearbeitet. Bis spät abends. Ich war motiviert wie nie zuvor. Doch ich musste feststellen, dass mein Leben sich gravierend geändert hatte. Meine Freunde riefen mich nicht mehr an, da ich sowieso nie Zeit hatte. Am Wochenende vergrub ich mich immer öfter in meiner Wohnung, um den Stress der harten Woche abzubauen. Aber was viel schlimmer war, es gab nur noch ein Thema, über das ich reden konnte: meine Arbeit. Bis ich meinen Mann kennenlernte und alles ganz schnell ging.

Im Leben eines Menschen gibt es neben der Arbeit auch noch ein Privatleben. Nach drei Jahren musste ich die Laborarbeit beenden, da unsere Tochter unterwegs war. Mit dem weinenden Baby auf dem Arm, schrieb ich die Ergebnisse zusammen – und dann jagte eine Korrektur die Nächste. Dazwischen immer wieder warten. Zähne zusammenbeißen, dachte ich mir. Bald bist du durch. Nächste E-Mail, nächste Korrektur. Wieder warten.

Das geht jetzt zweieinhalb Jahre lang so. In dieser Zeit haben wir ein Haus gekauft, das Kind auf Größe 98 groß gezogen und ich habe mich beruflich selbstständig gemacht. Zurück ins Labor wollte ich nicht. Mittlerweile habe ich keine Zeit mehr mich auf die Dissertation zu konzentrieren, und wenn ich ehrlich bin, auch keine Lust.

Zwischendurch habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: Ist es das alles wirklich wert? Soll ich es einfach sein lassen? Bin ich zu faul oder einfach nur zu dumm? Nein, lautete meine Antwort dann. Nein, lautet sie auch heute noch. Das haben schon ganz andere geschafft. Du schaffst das ebenfalls, auch wenn es eben etwas länger dauert. Jetzt bist du so weit gekommen und gibst nicht kurz vor dem Ziel auf.

Letztes Wochenende hatte ich die Arbeit mit seiner Zustimmung fertig ausgedruckt, gebunden und alle nötigen Unterschriften besorgt. Ich war fest davon überzeugt, es endlich überstanden zu haben. Und jetzt? Wieder eine E-Mail mit dem Wortlaut: „Die folgenden Änderungen müssen noch unbedingt gemacht werden.“ Kein Hallo, kein Gruß, einfach nur dieser eine Satz und die Liste der Korrekturen. Wut macht sich schmerzhaft in meinem Bauch breit. Dieselbe, die seit Jahren in mir arbeitet und kurz vor dem Ausbruch steht, wie ein schlummernder Vulkan.

Aber die Wut wird plötzlich verdrängt, durch ein Gefühl, dass ich nicht sofort zuordnen kann. Ist es Gleichgültigkeit? Nein, es ist Freude gepaart mit dem Gefühl der Erleichterung. Nix da, ich mache jedenfalls keine Änderungen mehr. Weil ich den Titel nicht mehr haben will? Nein, weil ich gestern Morgen meine Arbeit offiziell im Dekanat eingereicht habe. Ein Zurück gibt es nun nicht mehr, und auch keine weiteren Korrekturen.

Irgendwann ist halt mal Feierabend.“

 

 

Gastbeitrag: Jennifer Wellen
Bildnachweis: zettberlin / photocase.com



Letzte Änderungen: 04.03.2013