Editorial

Verkehrte Welt

In schweizer Voralpenseen läuft die Evolution rückwärts

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(28. Februar 2012) In den letzten Jahren wurden sich die Felchenarten in schweizer Voralpenseen immer ähnlicher. Die Arbeitsgruppe um Ole Seehausen von der Uni Bern untersuchte Felchenpopulationen in 17 Schweizer Voralpenseen auf ihre genetischen und phänotypischen Gemeinsamkeiten und verglich die Ergebnisse mit Daten von 1950. Das Ergebnis: Fast alle untersuchten Gewässer hatten den Verlust von mindestens einer Felchenart zu verzeichnen, in sieben der Seen sind die ursprünglichen Spezies komplett ausgestorben. Die Arten, die noch existieren, haben sich ihren verwandten „Mitbürgern“ in den letzten Jahrzehnten deutlich angenähert.


Schuld daran ist nach Überzeugung der Ökologen die zunehmende Überdüngung der eigentlich nährstoffarmen Seen. Felchen benötigen sauerstoffreiche Gewässer. Auch ihre Eier können sich nur entwickeln, wenn ausreichende Mengen des Gases im Wasser gelöst sind – das macht die kalten Gewässer für die Fische so attraktiv. Doch viele dieser Seen liegen in dicht besiedelten Gegenden, hier werden Felder gedüngt und das Wasser, das die Kläranlagen verlässt, enthielt bis vor nicht all zu langer Zeit beachtliche Mengen Phosphat – ein wichtiger Nährstoff für Algen und andere Mikroorganismen, die sich plötzlich stark vermehren konnten und jetzt mit den Felchen um den begehrten Sauerstoff konkurrieren. Besonders in tieferen Schichten haben sich deshalb die anoxischen Bereiche vergrößert. Die kleineren Felchenarten die hier leben, sind deshalb gezwungen, in flachere Gewässerzonen auszuweichen und sich den Lebensraum mit ihren dort beheimateten, größeren Verwandten zu teilen.


Diese Migration bleibt nicht ohne Folgen: „Wenn die Anzahl von sympatrisch lebenden, verwandten Arten abnimmt, kann das zwei Gründe haben“, erklärt Ole Seehausen. „Entweder eine Art stirbt durch demografischen Rückgang aus oder die Arten vermischen sich wieder.“ Dieser Vorgang, den man „reverse Spezifikation“ nennt, betrifft vor allem Arten, die sich erst seit Kurzem getrennt entwickeln und denen deshalb ausgeprägte postzygotische Isolationsmechanismen fehlen. Die Artbildung erfolgt hier meistens über präzygotische Mechanismen, das heißt, die Arten könnten zwar noch fertile Nachkommen miteinander zeugen, tun das aber meistens nicht, weil sie sich in ihrem Fortpflanzungsverhalten unterscheiden und verschiedene Zonen des gemeinsamen Habitats bewohnen.


Bei den Felchen sind typische Unterschiede in der Lebensweise der Zeitpunkt und der Ort des Ablaichens: Die kleineren Arten, die tiefere Gewässerschichten besiedeln, laichen bevorzugt im Sommer, ihre größeren Verwandten leben lieber in Ufernähe und legen ihre Eier im Winter ab. Wenn sich die Habitate aufgrund von veränderten Umweltbedingungen plötzlich überschneiden, kommt es vermehrt zu Kreuzungen zwischen den Arten.


„Wir haben in den Jahren 2.449 Felchen gefangen und auf ihre genetischen und phänotypischen Gemeinsamkeiten hin untersucht“, erzählt Ole Seehausen. „Als charakteristisches Merkmal dienten uns dazu die Anzahl der Zähnchen in den rechenartigen Kiemenbögen, sowie die Anzahl der Kiemenbögen selbst und ihre Entfernung zueinander.“ Die größeren Arten fressen meist Wirbellose. Sie besitzen nur wenige, weit auseinander stehende Kiemenbögen. Ihre kleineren Verwandten ernähren sich bevorzugt von Zooplankton und haben deshalb viele, engstehende Kiemenbögen, mit vielen Zähnchen.


„Wir konnten zeigen, dass sich die genotypische Diversität verringert hat und außerdem eine phänotypische Annäherung stattfindet. Die Arten sind nicht mehr eindeutig voneinander zu unterscheiden. Solche Prozesse kommen wahrscheinlich häufiger vor, als bisher vermutet. Um sie zu verhindern ist es wichtig, dass Artenschutzmaßnahmen nicht nur auf die jeweiligen bedrohten Spezies abzielen, sondern auch die ökologischen und evolutionären Mechanismen berücksichtigen, die Biodiversität erzeugen und erhalten.“ (Nature 2012, 482:357-62)

 

 

Andrea Perino
Bild: krockenmitte / photocase.com



Letzte Änderungen: 14.03.2012
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