Editorial

Verwischte Grenzen

Mäuse mit menschlichen Chromosomen, Kanincheneizellen mit menschlichen Zellkernen, Versuchstiere, in deren Gehirn sich menschliche Nervenzellen ausdifferenzieren – die Grenze zwischen Mensch und Tier verwischt. Wie ist es bei aller Forschungsfreiheit und hochrangigen medizinischen Zielen um Menschenwürde und Tierschutz bestellt?

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(17. Oktober 2012) Etwas zappelt im Netz der Spinne. Vergeblich versucht es, sich zu befreien. In seiner Not ruft es um Hilfe. Äh, wie bitte? Was von weitem wie ein Insekt aussah, hat einen menschlichen Kopf, dessen Mimik keinen Zweifel daran lassen, dass das Wesen Todesängste erleidet.

 

Diese Bilder entstammen Kurt Neumanns Film „The Fly“ aus dem Jahre 1958. Eine Fliege, die im Rahmen eines misslungenen Experiments zu einem Mischwesen wurde. Sicher, auch mehr als 50 Jahre nach diesem Kinowerk sind solche Szenen weit von der Realität entfernt und weniger „Science“ als „Fiction“. Dennoch ist die Erzeugung von Tieren, die menschliche Zellen oder DNA enthalten, Laboralltag.

 

Ethische Grundsatzdiskussion

 

Welchen ethischen Status hat ein solches Mischwesen? Welche Rolle spielen Aspekte des Tierschutzes? Und wie sieht es mit der Menschenwürde aus, falls ein derart verändertes Tier plötzlich Eigenschaften entwickelt, wie man sie ausschließlich dem Menschen zuschreibt? Was darf die Wissenschaft, und wo sind ihre ethischen Grenzen, wenn es um das Einbringen menschlichen Materials in Tiere geht?

 

Der Deutsche Ethikrat hat sich mit diesen Fragen befasst und hierzu im September 2011 die Stellungnahme mit dem Titel „Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung“ veröffentlicht (ISBN 978-3-941957-23-7). Geleitet wurde die Arbeitsgruppe von Wolf-Michael Catenhusen, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats und bis 2005 viele Jahre Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).

 

„Mit dieser Stellungnahme wollen wir eine Diskussion anstoßen, die sich exemplarisch auf drei Forschungsfelder bezieht“, grenzt Catenhusen den Rahmen des Projekts ein und erklärt, dass es um die Einbringung menschlichen Materials in Tiere zur Erzeugung von Hybriden, Chimären und Zybriden geht. Unter Hybriden sind Organismen zu verstehen, die in jedem ihrer Zellkerne DNA aus verschiedenen Spezies enthalten, konkret sind transgene Tiere gemeint. Chimären werden erzeugt, indem man, meist in einem frühen Entwicklungsstadium, fremde Zellen in ein Lebewesen einbringt; es entwickelt sich ein Organismus, der sowohl Zellen mit dem Spendergenom als auch Zellen mit dem Empfängergenom enthält.

 

Mit dem Begriff Zybriden schließlich werden Organismen erfasst, die aus der entkernten Eizelle einer Spezies hervorgehen, in die ein somatischer Zellkern einer anderen Spezies eingesetzt wurde. Die Bezeichnung steht für „zytoplasmatische Hybride“, denn die zytoplasmatische DNA der Mitochondrien entstammt einer anderen Spezies als die des Zellkerns. Für die Stellungnahme relevant sind Zybride, für deren Erzeugung tierische Eizellen und menschliche Kerne benutzt werden.

 

„Es geht zum einen um die Frage, inwieweit sich der moralische Status eines Tieres ändern kann, wenn er durch die Manipulationen menschliche Eigenschaften annimmt, zum anderen spielen Tierschutzaspekte eine Rolle“, so Catenhusen.

 

Für die ethische Bewertung eines Sachverhalts ist für den Deutschen Ethikrat zunächst einmal das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausschlaggebend. Dort ist in Artikel 5 die Freiheit der Forschung festgeschrieben, ein Grundrecht der Verfassung also, auf das sich jeder Wissenschaftler berufen kann. „Die Forschungsfreiheit kann nur durch andere Grundrechte begrenzt werden“, betont Catenhusen und kommt auf Artikel 1 des Grundgesetzes zu sprechen, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist. Dieses höchste Gut der Verfassung gilt es also zu schützen; ihm haben sich alle anderen Grundrechte unterzuordnen. Der Ethikrat versteht die Menschenwürde zudem nicht bloß als individuelles Grundrecht, sondern auch im Sinne einer „Würde des Menschen als Gattungswesen“. Demnach dürfe die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier nicht durch experimentelle Eingriffe verwischt werden.

 

Begründetes Leid

 

Nicht nur der Aspekt der Menschenwürde kann den Wissenschaftlern Schranken auferlegen. „Da der Tierschutz ein im Grundgesetz formuliertes Staatsziel ist, ergeben sich auch hieraus Grenzen für die Forschungsfreiheit“, erklärt Catenhusen. Nach dem in Deutschland gültigen Tierschutzgesetz darf niemand einem Tier „ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“. Als „vernünftiger Grund“ können bestimmte Forschungsziele gelten, insbesondere wenn die Forschungsarbeit darauf ausgelegt ist, medizinische Fortschritte zu erzielen und menschliches Leid zu lindern. Der Deutsche Ethikrat spricht hier von „hochrangigen Zielsetzungen“, die Leid am Tier rechtfertigen können.

 

Leidensfähigkeit wird allerdings nur einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Tieren zugeschrieben, weiß Catenhusen: „Die wesentlichen Bestimmungen des Tierschutzes beschränken sich auf Wirbeltiere.“ Man mag einwerfen, dass diese Einschränkung recht willkürlich ist, denn schließlich sind alle Lebewesen darauf bedacht, ihr Überleben zu sichern und schädliche Einwirkungen zu meiden. So findet man auch bei Insekten Nozizeptoren und kann nachweisen, dass sie Reizen, die man nach menschlichen Maßstäben als „schmerzhaft“ einordnen würde, aus dem Weg gehen.

 

„Natürlich ist unser Verständnis vom Tierschutz auch durch eine kulturelle Tradition gewachsen und könnte sich im Laufe der Zeit noch ändern“, räumt Catenhusen ein. „Leidensfähigkeit hat aber vor allem etwas mit Bewusstsein zu tun und ist mehr als eine rein körperhafte Reaktion auf einen Reiz“, rechtfertigt er die tierschutzrechtlichen Grundsätze.

 

„Die Fliege“ im Laboralltag

 

Forschungsfreiheit, Menschenwürde und Tierschutz sind also die zentralen Eckpunkte, zwischen denen der Ethikrat zu diesem Thema abwägen musste. Nun sind Mensch-Tier-Mischwesen im Labor-alltag weit weniger spektakulär, als es Hollywoodfilme und antike griechische Mythen vermuten lassen. Viele von ihnen kommen nicht über ein 16-Zell-Stadium hinaus, andere beherbergen lediglich einzelne menschliche Gensequenzen und unterscheiden sich phänotypisch nicht von ihren tierischen Artgenossen.

 

Kommen wir noch mal auf die Fliege zurück: Nicht nur im Film gibt es Insekten, die menschliche DNA enthalten. Da Drosophila für die Forscher wie ein genetischer Baukasten ist, untersucht man viele Fragen an ebendiesem Modellorganismus. Dabei ist es an der Tagesordnung, dass auch menschliche Gene in die Tiere eingebracht werden, um Expressionsanalysen durchzuführen und den Funktionen der synthetisierten Proteine auf die Spur zu kommen. Natürlich wachsen den Fliegen dabei weder Menschenköpfe, noch dürfte zu erwarten sein, dass sie plötzlich ein menschliches Bewusstsein entwickeln. Kaum ein Biologe wird daher in dieser Art der Grundlagenforschung einen Konflikt mit der Menschenwürde sehen.

 

Catenhusen merkt hierzu an, dass eine menschliche DNA-Sequenz für sich genommen noch keinen besonderen moralischen Status begründe. „Wir kennen viele menschliche Gene, die auch in Tieren vorkommen, und so wirft allein das Einfügen eines menschlichen Gens in ein Tier noch keine Fragen zum grundsätzlichen moralischen Schutzbedürfnis im Sinne der Menschenwürde aus“, so seine Schlussfolgerung.

 

Dennoch kann es selbst bei konservierten Genen kleinere artspezifische Unterschiede geben, die sich dann doch phänotypisch auswirken. So machte foxP2 als „Sprachgen“ von sich reden, da es für die Ausbildung der 

Sprachfähigkeit des Menschen relevant ist. Einige Sprachstörungen des Menschen konnten auf foxP2-Mutatio-nen zurückgeführt werden, und auch bei Mäusen und Singvögeln spielt das Gen eine Rolle bei der Entwicklung der Fähigkeit zu Lautäußerungen. Die Mausvariante des codierten Proteins unterscheidet sich durch nur zwei Aminosäuren von der menschlichen. Knockt man foxP2 in der Maus aus und bringt stattdessen eine Variante ein, die für die menschliche Aminosäuresequenz codiert, so zeigen die Jungtiere veränderte Lautäußerungen. Selbst strukturelle Unterschiede im Gehirn im Vergleich zu ihren Artgenossen lassen sich in den Basalganglien nachweisen, ebenso eine verminderte Dopaminausschüttung im Striatum – Merkmale also, die, so die Schlussfolgerungen der Forscher, auf eine verbesserte akustische Verarbeitung hindeuten (Cell 2009, 137(5):961-71).

 

Wurden die Mäuse nun durch das humanisierte foxP2 menschlicher? Ähneln sie gar der Fliege, die im Spinnennetz um Hilfe schreit? Das hier geschilderte Mäuse-Experiment wurde auch vom Ethikrat diskutiert. In der publizierten Stellungnahme wird die Auffassung vertreten, dass es sich auch bei den veränderten Tieren noch immer eindeutig um Mäuse handele.

 

„Daher“, so Catenhusen, „kommen wir zu der Aussage, dass sich bei Experimenten dieser Art an Nagetieren nicht die Frage einer Vermenschlichung stellt.“ Allerdings spiele die Verwandtschaft zum Menschen eine entscheidende Rolle. Aus Sicht des Ethikrates wäre eine solche Studie an Primaten folglich sehr viel problematischer, denn deren Gehirne weisen große strukturelle Übereinstimmungen mit denen des Menschen auf. Man könne daher im Vorfeld nie genau wissen, ob etwa eine menschliche FoxP2-Variante bei nicht-menschlichen Primaten vielleicht doch zur Ausbildung einer Fähigkeit führe, welche die Abgrenzung zum Menschen in Frage stelle.

 

„Daher lehnen wir solche Experimente an unseren allernächsten Verwandten, den Menschenaffen, grundsätzlich ab und empfehlen eine entsprechende gesetzliche Regelung“, fasst Catenhusen zusammen. Nach dem Willen des Ethikrates soll diese Regelung auch nicht durch ein noch so hochrangiges Forschungsziel umgangen werden können. Catenhusen spricht hier von einem „Vorsorgeprinzip“, da ein Konflikt mit der grundgesetzlich verankerten Menschenwürde im Vorfeld nicht auszuschließen sei und erst im Zuge des Experiments zutage träte – und dann hätte der Verstoß gegen dieses Grundrecht ja bereits stattgefunden. „Beim Menschenaffen müssen wir uns dann im Zweifel gegen die Forschung entscheiden“, so seine Schlussfolgerung. Eine tierische Zelle, die einzelne menschliche Gene enthält, gilt also nach einhelliger Auffassung im Ethikrat als unproblematisch, sofern man nicht mit Primaten arbeitet. Doch ab wie viel Genen wird eine solche Zelle denn nun „vermenschlicht“?

 

Bereits 1997 konnten japanische Forscher zeigen, dass sich sogar ganze Chromosomen mit menschlicher DNA bei Mäusen in die Keimbahn einbringen und bis in die nächste Generation erhalten lassen, wobei auch die entsprechenden Genprodukte in den Zellen gebildet werden (Nat Genet 1997, 16(2):133-43). Auf diese Weise lassen sich ganze Stoffwechselwege des Menschen an einem Säugermodell untersuchen. Auch hier sieht der Ethikrat noch keinen Konflikt mit der Menschenwürde.

 

Catenhusen verweist darauf, dass es sehr große anatomische Unterschiede zwischen Nagetieren und Menschen gebe und nicht zu erwarten sei, dass selbst die Expression einer großen Anzahl menschlicher Gene zu einer Vermenschlichung von Merkmalen führen könne. „Allerdings müssen tierschutzrechtliche Belange bei solchen Versuchen sorgfältig abgewogen werden“, fordert er.

 

Dabei sieht Catenhusen nicht nur die Leidensfähigkeit in Bezug auf Schmerzwahrnehmung als relevant an, sondern räumt dem Tier auch ein gewisses Recht auf seine Artzugehörigkeit ein. „Schon die Veränderung eines Tieres, mit der Folge, dass ein Zusammenleben mit Artgenossen nicht mehr möglich ist, kann Fragen des Tierschutzes aufwerfen“, ist er sicher und möchte die bereits erwähnte Hochrangigkeit des Forschungsziels bei solchen Experimenten sichergestellt wissen. Doch dies sei im Wesentlichen bereits durch geltende Gesetze abgedeckt, so die Einschätzung des Ethikrats.

 

Wann ist ein Mensch ein Mensch?

 

Denken wir obiges Szenario noch weiter: Was passiert, wenn ein Tier nicht nur einzelne menschliche Gene oder Chromosomen in sich trägt, sondern das gesamte humane Kerngenom? Wäre ein solches Wesen überhaupt noch von einem Menschen zu unterscheiden?

 

Tatsächlich fanden Versuche in dieser Richtung statt, wobei es jedoch nicht darum ging, lebensfähige Organismen zu erzeugen. Vielmehr bestand das Ziel in der Gewinnung menschlicher embryonaler Stammzellen, ohne für deren Erzeugung auf menschliche Eizellen oder gar Embryonen zurückgreifen zu müssen. 2003 verkündeten Wissenschaftler der Universität Shanghai, dass es ihnen gelungen sei, menschliche somatische Zellkerne in entkernte Kaninchen-Oozyten einzubringen (Cell Res 2003, 13(4):251-63).

 

„Später ist diese Zybridforschung vor allem in Großbritannien vorangetrieben worden, mit dem Ziel, patientenspezifische pluripotente Stammzellen für den therapeutischen Einsatz zu gewinnen“, erinnert sich Catenhusen. Auf diesem Wege könnte man, so die damalige Hoffnung der Forscher, Organe und Gewebe ohne die Verwendung menschlicher Eizellen zu Transplantationszwecken herstellen, die beim Patienten keine Abwehrreaktionen hervorrufen. Auch ließe sich an den erzeugten Zellen die für einen Patienten individuelle Wirkung von Medikamenten in Zellkultur testen und Nebenwirkungen im Vorfeld abschätzen.

 

Doch was wäre, wenn man einen solchen Zybriden zu einem Embryo heranwachsen ließe? Könnte man ihn gar erfolgreich in eine menschliche Gebärmutter einpflanzen, und entstünde daraus dann ein Mensch? Der Ethikrat spaltet sich bei dieser Frage in zwei Lager auf. Die eine Position, der sich auch Catenhusen anschließt, hält die Herstellung von Mensch-Tier-Zybriden für ethisch unzulässig und fordert hierzu ein Verbot im Embryonenschutzgesetz. Eine weitgehende Identität mit menschlichen Zellen sei ja gerade das Ziel bei der Produktion solcher Zybride. Einzig die wenigen Dutzend mitochondrialen Gene seien tierischen Ursprungs, die restlichen 25.000 Gene hingegen menschlich. Aus diesem Grund werde die Grenze zwischen Mensch und Tier in unzulässiger Weise verwischt.

 

Abgestufte Menschenwürde

 

Auch der Immunologe Frank Emmrich ist Mitglied im Deutschen Ethikrat und Mitverfasser der Stellungnahme zu den Mensch-Tier-Mischwesen. In Leipzig leitet er das Institut für Klinische Immunologie sowie das Translationszentrum für Regenerative Medizin der Uniklinik und außerdem das Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie. Er hat sich in der Diskussion um die Zybride der anderen Position angeschlossen und hält deren Herstellung für ethisch vertretbar. „Sicher habe ich da eher den Blickwinkel des Wissenschaftlers“, räumt Emmrich ein, „doch ich würde immer sehr stark auf die Zielsetzung eines Experiments schauen.“ Auch und gerade im Hinblick auf die therapeutischen Möglichkeiten, die man sich von Stammzellen mit patientenspezifischen Eigenschaften erhofft. Selbst wenn ein Mensch-Tier-Zybrid nach einigen Teilungen nicht mehr von einer menschlichen Blastozyste zu unterscheiden wäre, sieht er hierin keinen Konflikt mit Artikel 1 des Grundgesetzes.

 

„Ich sehe in der Entwicklung der Menschenwürde einen abgestuften Prozess; einem Achtzellstadium schreibe ich weniger Würde zu, als einem weiterentwickelten Embryo“, so Emmrichs. Außerdem sei ohnehin zweifelhaft, ob sich solche Zybride überhaupt zu einem Embryo entwickeln könnten. „So etwas ist noch nie gezeigt worden“, stellt er fest. Dennoch findet der Ethikrat auch hier am Ende wieder zu einem gemeinsamen Nenner zurück. Emmrich betont: „Wir wollen nicht, dass solche Zybride in menschliche oder tierische Gebärmütter eingepflanzt werden.“

 

Allerdings habe die Debatte rund um die Zybridforschung ohnehin an Relevanz verloren, seitdem es möglich ist, menschliche somatische Zellen rückzuprogrammieren. Diese induzierten pluripotenten Stammzellen werfen bislang keine ethischen Fragen dieser Art auf, da zu deren Herstellung weder die Verwendung von Eizellen, noch die Zerstörung eines Embryos notwendig ist.

 

Vermenschlichte Gehirne

 

Zuletzt umfasst die Stellungnahme noch Mensch-Tier-Chimären, also Tiere, in die menschliche Zellen eingebracht wurden. Der Fokus liegt auf der Erzeugung von Hirnchimären; die Spenderzellen sollen sich hier im Gehirn des Empfängertieres zu Nervengewebe differenzieren. Modelle für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer sollen auf diese Weise etabliert werden, so dass es an hochrangigen Zielen nicht mangelt. Allerdings stellt sich dabei die Frage nach der Menschenwürde in einem besonderen Maße, denn schließlich ist das menschliche Gehirn für all die Bewusstseinsfunktionen verantwortlich, die uns vom Tier unterscheiden. Könnten menschliche Nervenzellen ein Tiergehirn menschlicher werden lassen? Dass diese Möglichkeit prinzipiell besteht, legt eine Studie aus dem Jahre 1988 nahe. In die Gehirne von Hühnerembryonen wurden Wachtelzellen eingebracht. Später zeigten einige Tiere wachteltypische Lautäußerungen, nahmen also Verhaltensweisen der Spenderspezies an (Science 1988, 241(4871):1339-42).

 

„Wir halten es nicht für ausgeschlossen, dass es zur Ausprägung menschlicher Eigenschaften kommt, falls als Empfängertiere dem Menschen nahe verwandte Primaten verwendet werden“, schlussfolgert Catenhusen. Auch hier lautet daher die Empfehlung, bei der Herstellung von Hirnchimären den Einsatz von Menschenaffen zu verbieten.

 

Zuletzt haben die Chimären noch eine weitere sonderbare Eigenschaft: Da ihre Zellen eine eindeutige Herkunft haben, nämlich entweder von Spender oder vom Empfänger stammen, können artfremde Gameten produziert werden, sofern eine Spenderzelle in die Keimbahn gelangt – rein theoretisch könnte auf diesem Wege ein Mensch entstehen, der einen Affen zum Vater hat. „Die Erzeugung menschlicher Gameten in Tieren muss aber ausgeschlossen sein, das sollte gesetzlich verankert werden“, erklärt Catenhusen. Die Chimärisierung dürfte demnach also nicht vor Ausbildung der Organanlagen stattfinden.

 

Monströse Werkzeuge

 

Hybride, Zybride und Hirnchimären – was dem unbedarften Bürger eine Gänsehaut über den Rücken jagt, ist für den Genetiker bloß ein Werkzeug zur Grundlagenforschung. Da man bislang weit davon entfernt ist, Mensch-Tier-Mischwesen mit wirklich offensichtlichen menschlichen Eigenschaften zu erschaffen, mag die Diskussion manch einem Labor-Nerd übertrieben vorkommen, zumal der Deutsche Ethikrat ohnehin zu der Auffassung kam, dass die meisten gängigen Methoden auf diesen Forschungsfeldern ethisch vertretbar seien. Andererseits aber ist es wichtig, schon im Vorfeld ethische Grenzen auszuloten, bevor diese tatsächlich erreicht werden. Dabei ist es im Interesse des Wissenschaftlers, wenn für seine Forschungsarbeit Rechtssicherheit herrscht.

 

Der Deutsche Ethikrat kann zwar keine Gesetze verabschieden, doch er kann dazu beitragen, eine Debatte in die Gesellschaft zu tragen und zumindest ein Stück weit das zu tun, was viele Wissenschaftler vernachlässigen: Ein allgemeines Bewusstsein dafür zu schaffen, was tatsächlich hinter der Arbeit der Forscher steht und worin der Nutzen für die Gesellschaft liegt – damit der Normalbürger bei einem Wort wie „transgene Fliege“ nicht als erstes an einen Horrorfilm denkt.

 

Mario Rembold

 

(Der Artikel erschien als Titelthema in der letzten Laborjournal-Ausgabe 10-2012, S. 28-32)



Letzte Änderungen: 28.10.2012
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