Editorial

Dem Bayerischen Urviech sein Hirn

Das bekannteste Fossil Bayerns ist auch zwischen den Ohren nicht so einzigartig wie man früher dachte: Archaeopteryx war nicht der einzige Dinosaurier mit einem womöglich flugtauglichen Gehirn.
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(07. August 2013) Noch zu Darwins Lebzeiten, im Jahr 1861, hatten ihn Steinbruch-Arbeiter aus dem Solnhofener Plattenkalk gezogen: Archaeopteryx lithographica, einen 150 Millionen Jahre alten Kronzeugen der Evolutionstheorie. Archaeopteryx hatte Krallen, Zähne und einen knöchernen Schwanz wie ein Land-Dinosaurier – aber dazu Federn und einige andere typische Vogel-Eigenschaften.

Früher sprach man vom „Urvogel" und vermutete, alle heutigen Vögel gingen auf ihn oder seine nahen Verwandten zurück. Nach dieser Interpretation wäre der Fund aus Bayern das stammesgeschichtliche Bindeglied zu den Land-Sauriern. Aber im Lauf der letzten Jahrzehnte hat sich herausgestellt, dass die Evolution der Vögel eine verzwicktere Geschichte ist.

Einig sind sich die Forscher, dass unsere heutigen Amseln, Blaumeisen, Seeadler und alle anderen Vögel im Prinzip fliegende Dinosaurier sind, und dass ihr Ursprung wohl bei den Theropoden zu suchen ist, einer Linie der Dinos.

Der Jurassic-Parc-Held Tyrannosaurus rex war so ein Theropode, zusammen mit anderen Sauriern, die durchaus dem Klischeebild entsprechen: Zweibeinig, scharfe Zähne, meist Fleischfresser. Archaeopteryx gehört auch in diese Reihe – aber ist er, oder zumindest seine nähere Verwandtschaft, wirklich ein Bindeglied zu den heutigen Vögeln? Da sind sich die Forscher längst nicht mehr sicher. Spektakuläre Funde gefiederter Dinosaurier aus China in den 90er Jahren zeigten nämlich: Auch andere Theropoden, die nicht näher mit Archaeopteryx verwandt sind, hatten Federn. Vielleicht konnten sie sogar fliegen, zumindest ansatzweise.

Amy Balanoff und Kollegen vom Amerikanischen Museum für Naturkunde haben sich in einer kürzlich erschienenen Arbeit ein anderes Merkmal genauer angesehen, das man auch der „halb Vogel / halb Echse"-Natur des Archaeopteryx zuschreibt: Die Gehirngröße.

Ordentlich Hirnschmalz vonnöten

Fliegen, das heisst starten, schwierige Flugmanöver in 3D, und wieder sicher landen – diese Tricks erfordern ordentlich Hirnschmalz. Die Faustregel der vergleichenden Neuroanatomen lautet: Vögel haben, auf gleiche Größe bezogen, ein sechs bis elf mal höheres Gehirnvolumen als ihre nächsten landlebenden Verwandten.

Archaeopteryx hat mehr Masse im Schädel als ein typischer Dino, aber eben kein großes Fliegerhirn wie die heutigen Vögel – er konnte höchstens ansatzweise fliegen, wie auch die Morphologie nahelegt. An dieser Einschätzung hat sich zwar im Prinzip nichts geändert, aber die neue Arbeit in Nature beweist: So ungewöhnlich und einzigartig ist auch das 'intermediäre' Hirnvolumen des Archaeopteryx nicht.

Balanoff und ihre Kollegen haben die Gehirnvolumina von 28 Arten verglichen und dabei sogar gefiederte Theropoden gefunden, die (relativ gesehen) ein größeres Gehirn hatten als Archaeopteryx, etwa bei Zanabazar oder Conchoraptor; unbekannte Namen neben "Archaeopteryx Superstar", aber eben ähnliche Mosaikformen mit einer Neuro-Anatomie, die durchaus flight-ready gewesen sein könnte, wie die Autoren vermuten. Der Status des Solnhofener Urviechs als einzigartiges Bindeglied zwischen ausgestorbenen Dinos und heutigen Vögeln hat damit einen weiteren Schuss vor den Bug bekommen.

Zu Archaeopteryx gesellen sich eine ganze Reihe anderer Fossilien, die uns auch etwas über die Evolution der Vögel erzählen können. Man kann Fossilfunde eben selten in linearer Abfolge interpretieren, bei der ein Fossil immer der direkte Vorfahre eines später auftretenden ist.

Evolution produziert keine Leitern, sondern bringt sich verästelnde Büsche hervor, und die Zufallsfunde der Paläonotogen liegen oft auf den ausgestorbenen Nebenästen.

Evolution produziert keine Leitern

Dass Federn und ein großes Gehirn einmal dem freien Fliegen dienen könnten, kann „die Evolution" natürlich nicht planen. Die Zwischenschritte dorthin sind Anpassungen an die jeweiligen Umweltbedingungen gewesen – Federn als Wärmeisolation oder zu Balz-Zwecken, beispielsweise. Um diese Anpassungen besser zu verstehen, hilft es den Forschern ungemein, dass sie unabhängig entstandene Mosaikformen vergleichen können. Die neuen Daten über die Gehirnanatomie fügen diesen Vergleichen noch eine weitere interessante Dimension hinzu.

Archaeopteryx hat nichts an seiner Bedeutung für die Evolutionstheorie verloren. Seinen Status als Mister Urvogel jedoch hat das bayerische Fossil mit dem Auftreten der Konkurrenz aus Fernost wohl verloren.

Hans Zauner

Quellen:
- Nature-Artikel: http://www.nature.com/nature/journal/vaop/ncurrent/full/nature12424.html
- Carl Zimmer: Archaeopteryx's Evolutionary Humiliation Continues

Ein Vorteil des Archaeopteryx gegenüber seinen chinesischen Kollegen: Man kann die originalen Fossilien in Deutschland besuchen, zum Beispiel im Museum für Naturkunde Berlin und im Jura-Museum Eichstätt.



Letzte Änderungen: 04.09.2013