Editorial

Wiener Minihirne

Forscher aus Österreich und Großbritannien züchten erbsengroße Gehirne aus pluripotenten Stammzellen. Was kann man damit anfangen? Ein Bericht zwischen Utopie und Gegenwart.
editorial_bild

(5. September 2013) Regelmäßig liest man in der Zeitung, Universitäten und Forschungseinrichtungen kämpften um die „besten Gehirne“ aus den Reihen der Schulabsolventen und Nachwuchswissenschaftler. Dumm nur, dass die umworbenen Gehirne im Verbund mit intellektuell eher fragwürdigen Anhängseln an der Uni eintreffen: Magen und Darm, die in der Mensa nach Befüllung verlangen, oder Hintern, die Sitzgelegenheiten in Hörsälen benötigen. Der Staat muss also für teures Geld Studentenwohnheime, Seminarräume, Cafeterien usw. bauen – meist unansehnliche, funktionale Kästen zur Unterbringung der Akademiker-Körper.

Wenn aber die wertvollen Gehirne die eigentliche Ressource der Universität sind – könnte man die Denkorgane nicht auch losgelöst von den übrigen nichtakademischen Körperteilen einsetzen? Einen Ort des reinen Geistes erschaffen also?

So wie die Lage derzeit ist, steht der voll-vergeistigten Universität die menschliche Biologie entgegen. Was nebenbei auch bedeutet, dass Gehirne samt ihren Trägern davonlaufen, sobald sie unzufrieden sind: sie wechseln einfach komplett zur Konkurrenz oder in die freie Wirtschaft, in der Hoffnung, dass Geist und Körper dort besser versorgt werden als in der brotlosen Wissenschaft.

Jetzt aber lesen wir in der Zeitung, es sei Forschern des Wiener Institute of Molecular Biotechnology (IMBA) samt britischen Kollegen gelungen, menschliche Gehirne in der Kulturflasche zu züchten – zwar vorerst nur in Erbsengröße, aber immerhin (Lancaster et al., Nature, publ. online 28 August 2013; doi:10.1038/nature12517).

Eröffnet das nicht neue Perspektiven für auf Effizienz bedachte Wissenschaftsmanager? Ganze Fakultäten, Philosophie oder Mathematik etwa, könnten demnach auf anatomisch vollständige Menschen verzichten. Isolierte Gehirne, unter strenger Aufsicht in der Petrischale gezüchtet und steril in Kulturschränken gehalten, könnten mathematische Probleme wälzen, Drittmittel einwerben und Interviews geben. Und anstatt sich mit anderen Unis um die besten Studenten und Doktoranden zu schlagen, züchtet die Fakultät die intelligenten Nachwuchshirne einfach selbst.

Auch der gefürchtete Brain Drain wäre ausgeschlossen – sofern man daran denkt, abends Nährmedium nachzufüllen und die Tür zum Kulturschrank gut zu schließen. Es wäre doch klar zu erwarten, dass eine Forschungseinrichtung, die in großem Stil auf selbst angebaute Brainpower setzt, schlagartig in die Exzellenzliga katapultiert wird.

Aber sind Lancaster et al. der Utopie des Professorenhirns in der Petrischale wirklich einen Schritt näher gekommen? Nein, nicht so richtig.

Was die Forscher im Labor heranzogen, waren keine ausgewachsenen Gehirne, die über Wahrnehmung verfügten oder sich gar Gedanken über ihre fragwürdige Existenz als Kulturschalen-Denkorgan machten. Die Autoren selbst nennen ihre Züchtungen aus pluripotenten Stammzellen denn auch bescheidener „zerebrale Organoide“.

Strukturell aber haben diese Organoide in der Tat Ähnlichkeiten zum Gehirn eines etwa neun Wochen alten menschlichen Fötus. Nicht nur die differenzierten Zelltypen, die ein Gehirn ausmachen – Neuronen und Gliazellen also – entwickeln sich in „biologischer“ Anordnung, auch die anatomische Dreiteilung lässt sich erkennen. Das gilt auch für die regional ausdifferenzierten Genexpressionsmuster, die ebenfalls dem In vivo-Vorbild eines frühen menschlichen Gehirns entsprechen.

Was springt wissenschaftlich heraus bei diesen Versuchen? Das Experiment beweist erst einmal die Fähigkeit der Gehirnzellen zur Selbstorganisation im dreidimensionalen Raum – die Forscher helfen im Prinzip nur mit Wachstumsfaktoren und einer gelatinösen Matrix nach, die als Gerüst für die dreidimensionale Anordnung der Zellen dient. Die Differenzierungen innerhalb des entstehenden Zellverbands machen die Neuronen und Gilazellen im Laufe der Entwicklung unter sich aus.

Die Organoide sind daher ein gutes Modell, um die ersten Entwicklungsschritte des menschlichen Gehirns zu verfolgen – entwicklungsbiologische Grundlagenforschung also.

Aber auch die Ursache neuronaler Krankheiten können Biomediziner mit Hilfe dieses Modells besser studieren. An Menschenhirnen in situ zu experimentieren verbietet sich dagegen meist; und Mäusehirne sind denjenigen des Menschen nicht ähnlich genug.

Fallbeispiel Mikrozephalie: Lancaster et al. arbeiteten mit einem Patienten, bei dem der Funktionsverlust des Proteins CDK5RAP2 zu einem kleineren Gehirn führte. Um zu verstehen, was genau in der Gehirnentwicklung dieses Patienten schief lief, entnahmen die Wiener Forscher Hautzellen und versetzten sie durch genetische Tricks zurück in einen pluripotenten Zustand. Aus diesen Stammzellen züchteten sie dann ihre Hirn-Organoide – und konnten so vergleichen, welche Entwicklungsschritte aufgrund der Mutation fehlerhaft ablaufen. Zugleich wurde damit die Rolle von CDK5RAP2 in gesunden Menschen damit klarer: Das Gen scheint die Teilungsfähigkeit der Nervenzell-Vorläufer zu erhalten. Schaltet man das Gen aus, differenzieren sich die Neuronen zu früh aus, so dass es am Ende zu wenige davon gibt – die Folge: Mikrozephalie.

Nur ein Beispiel, wie man die Organoide in der Forschung nutzen kann. Minihirne zu züchten hat also nichts mit etwaigen Frankenstein-Ambitionen der österreichischen Forscher zu tun; sie sind vielmehr ein Hilfsmittel, um die frühe Entwicklung des menschlichen Gehirns besser zu verstehen.

Das Denken an der Petrischale abzugeben – das ist hingegen bis auf weiteres keine Alternative.

Hans Zauner

Quellen:

# Artikel in Nature: Lancaster et al., „Cerebral organoids model human brain development and microcephaly (Publ. online 28 August 2013; doi:10.1038/nature12517).

# Artikel im Science-Blog Pharyngula von PZ Myers



Letzte Änderungen: 03.10.2013