Editorial

Rotkäppchens Stammbaum

Evolutionsbiologen sind in der Regel keine Märchen-Erzähler. Aber phylogenetische Methoden zeigen, wie Erzähltraditionen rund um Rotkäppchen, Wolf und Tiger miteinander verwandt sind.
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(19. November 2013) Die Märchen der Brüder Grimm gelten oft als ur-deutsches Kulturgut. Aber viele dieser Erzählungen kursierten schon lange bevor Jacob und Wilhelm Grimm sie aufschrieben, und zwar weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus. Wie es für mündliche Überlieferung typisch ist, gibt es daher nicht nur eine Version von Rotkäppchen, Aschenputtel oder Hänsel und Gretel. Von Gegend zu Gegend variieren die Details der Geschichten. Eltern dürfte das nicht überraschen: Sei es aus Vergesslichkeit, Müdigkeit oder subversiver Experimentierlust – welche Mutter, welcher Vater hat nicht selbst schon einmal ein Märchen etwas anders erzählt, als es der Kanon vorschreibt?

ATU 123 und andere Gute-Nacht-Geschichten

Um in der Vielzahl der global überlieferten Märchenvarianten den Überblick zu behalten, haben  Forscher wiederkehrende Erzählstränge nach „Internationalen Typen“ sortiert. Rotkäppchen-ähnliche Geschichten bekamen beispielsweise die Nummer ATU 333. Eine recht ähnliche, aber ältere Erzählung, „Der Wolf und die sieben Geisslein“, die in Europa und im Nahen Osten kursierte, führen die Erzählungsforscher unter der Bezeichnung ATU 123 (Ich stelle mir gerade vor, wie ein Linguistenkind Papa oder Mama anbettelt: „Bitte, bitte, noch mal ATU 123 erzählen!“).

Diese Zuordnungen legen nahe, dass die in verschiedenen Weltgegenden kursierenden Varianten eines Märchens nicht unabhängig voneinander entstanden, sondern tatsächlich miteinander verwandt sind; dass sie also jeweils auf eine gemeinsame Ur-Erzählung zurückgehen, die sich dann auf verschlungenen Wegen gewandelt hatte.

Ob es aber diese „Märchen-Archetypen“ überhaupt gibt, ist nicht ganz klar. Kritiker dieser sogenannten historisch-geografischen Methode jedenfalls halten die Erzähltraditionen für zu durchlässig und flexibel, als dass man noch echte Verwandtschaftsbeziehungen im strengen Sinn erkennen könne, noch dazu über Sprachgrenzen hinweg.

Methodische Anleihe bei den Evolutionsbiologen

Taugt der historisch-geografische Ansatz also überhaupt, um Entstehung und Verbreitung mündlich überlieferter Geschichten zu beschreiben? Oder jagen die Märchenforscher mit ihrer ausgeklügelten ATU-Nomenklatur einem Phantom nach? Jamshid J. Tehrani (Universität Durham) lieh sich Methoden der Evolutionsbiologen aus, um diese Frage streng analytisch anzugehen (siehe Tehranis Artikel in PLoS One). Sein Testbeispiel ist das wohl berühmteste Märchen überhaupt: Rotkäppchen, oder ATU 333, um im Expertenjargon zu bleiben.

Das klingt erst mal nach einer verrückten Idee. Ähnlich wie Mensch und Schimpanse getrennten Linien angehören, die auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen, betrachtet Tehrani die Märchen-Variationen als evolvierende Einheiten, die einen verzweigten Stammbaum bilden.

Aber es gibt ein entscheidendes Merkmal, das diesen Ansatz plausibel macht: Mündliche Überlieferungen verändern sich durch Abstammung mit Modifikation. Sie sind in dieser Hinsicht Lebewesen durchaus ähnlich.

Wolf und Tiger in der Daten-Matrix

Wenn Biologen einen phylogenetischen Stammbaum aufstellen, fertigen sie zunächst eine Daten-Matrix an, in der sie Merkmale und ihre verschiedenen Zustände auflisten. Ein Amphibienforscher etwa trägt in einer Tabelle unter dem Merkmal „Gebiss“ die Zustände „mit Zähnen“ (bei Fröschen) oder „keine Zähne“ (bei Kröten) ein. Eine Molekularbiologin benutzt genetische Daten zum gleichen Zweck: sie (bzw ihr Computer) unterscheidet für jede Position einer DNA-Sequenz die Charakterzustände „A“, „C“, T“ oder „G“ für die vier DNA-Bausteine.

Ganz analog trägt Tehrani in seine Datenmatrix beispielsweise unter dem Merkmal „Wildes Tier im Märchen“ entweder „Wolf“oder „Tiger“ ein.

Wer ist der Held oder die Heldin der Geschichte? Welches Tier ist der Bösewicht? Und was passiert am Ende, wird der Protagonist gefressen oder entkommt er? 72 Variablen dieser Art trug der Märchenforscher im Umkreis von ATU 333 und ATU 123 zusammen.

Auf diese Matrix mit 72 Merkmalen aus 58 Erzählungen aus Europa, Asien und Afrika setzte Tehrani nun die Algorithmen der Evolutionsbiologen an, die jeder Märchenvariation einen Platz in einem phylogenetischen Stammbaum zuordnen. Die Geschichten werden also so angeordnet, dass nahverwandte Erzählungen auf benachbarten Ästen sitzen. Dazu gibt es verschiedene Methoden,  aber im Prinzip suchen diese Algorithmen einen Stammbaum, der möglichst optimal einem Modell der „Abstammung mit schrittweiser Modifikation“ entspricht. Ob die Eingabe-Daten dabei DNA, morphologische Merkmale oder eben Märchen-Charaktere sind, ist dem Computer herzlich egal.

Märchen evolvieren

Ein Ergebnis der Analyse: Die beiden Erzählungen ATU123 („Der Wolf und die sieben Geisslein“) und AT333 („Rotkäppchen“) sind miteinander verwandt, bilden aber klar getrennte Äste in den phylogenetischen Stammbäumen. Die Anhänger der historisch-geographischen Methode dürfen sich also ein Stück weit bestätigt fühlen. Die objektive Methode der Phylogenie ordnet die Erzähl-Varianten tatsächlich so an, dass sie „evolutionär“ aus gemeinsamen Vorfahren hervorzugehen scheinen.

Natürlich darf man die Analogie zwischen Märchen und Lebewesen nicht zu weit treiben. Ein wichtiger Unterschied zwischen Geschichten und biologischen Organismen ist, dass Rekombination bei Lebewesen meist nur innerhalb einer Art stattfindet. Erzählungen dagegen können sich quasi beliebig vermischen, mehr oder weniger unabhängig vom Verwandtschaftsgrad. Am nächsten kommt dieser Situation vielleicht der horizontale Gentransfer zwischen Bakterienarten, der aus „Stammbäumen“ eher „Stamm-Netze“ macht, mit vielfältigen Querverbindungen.

Die asiatische Erzähltradition vom „Tiger und der Großmutter“ ist in dieser Hinsicht ein interessanter Fall, wie Tehranis Daten zeigen. Sie scheint Elemente aus drei verschiedenen Abstammungslinien zu enthalten: „Rotkäppchen“, die ältere Erzählung „Der Wolf und die sieben Geisslein“ und lokale chinesische Elemente fließen in die asiatische Märchentradition ein.

Eine Gemeinsamkeit haben alle Rotkäppchen-Variationen: Die Absicht des Erzählers läuft meist darauf heraus, dass die Kinder den weisen Ratschlägen der Eltern bedingungslos gehorchen müssen, da sonst Unheil droht. Aber trotz der unzähligen Permutationen des „Rotkäppchens“ schießen Kinder die Ratschläge der Alten seit Jahrhunderten regelmäßig in den Wind – das ist doch irgendwie auch beruhigend.

 



                                            Hans Zauner

Illustration : Carl Offterdinger, 19. Jhdt. (leicht modifiziert)


Quelle:

Jamshid J. Tehrani, The Phylogeny of Little Red Riding Hood.

PLoS ONE 8(11): e78871. doi:10.1371/journal.pone.0078871


 



Letzte Änderungen: 10.01.2014