Editorial

Eine TA am Abgrund

Während Stephen Hawking mit der Theorie der schwarzen Löcher hadert, wundert sich unsere TA über ganz irdische, aber nicht weniger mysteriöse Löcher im Linoleum. Aus der Reihe Erlebnisse einer anderen TA.
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(24. Februar 2014) Letztes Jahr im Herbst kamen zwei Männer, betrachteten seufzend unseren Fußbodenbelag, krochen ein bisschen darauf herum, schnitten auf jeder Flurseite ein tablettgroßes Stück heraus und machten sich damit davon. Warum? Das erfuhren wir nicht. Trophäenjäger waren es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Unser Linoleum dürfte sich an der Wand einer Professorenvilla nicht besonders gut machen.

Mehrere Monate lebten wir mit zwei Löchern im Linoleum, gleichmäßig verteilt auf jeder Flurseite eines. Bis letzte Woche.

Da kam ein Handwerker und verbrachte den Tag kniend an dem auf der Büroseite gelegenen Loch. Wann immer ich vorbeikam, starrte er regungslos in die Kluft. Beim dritten Mal kam mir der Gedanke, dass er sich vielleicht erst bewegt, wenn man Geld in das Loch wirft. Da in meinen Kitteltaschen aber kein einziger Cent steckte, konnte ich meine Hypothese nicht überprüfen. Irgendwann musste der gute Mann aber gearbeitet haben, brachte der nächste Morgen doch eine Überraschung.

Das Loch hatte sich nämlich um das vierfache vergrößert. Damit keiner in die 0,3 Zentimeter tiefe Grube hineinstürzen konnte, spannte sich darüber ein Kreuz aus rot-weißem Absperrband.
Gehorsam übersprangen wir fortan auf dem Weg in die Küche eine Distanz von annähernd einem Meter. Handwerker ließen sich in den folgenden Wochen keine blicken, somit blieb die Sprunggrube unverändert.

Warum auch nicht? Unvollendete Großbaustellen sind ja schwer angesagt zur Zeit. Berlin hat seinen Flughafen, Stuttgart seinen Bahnhof, warum sollen wir nicht mit unserem Linoleumboden für Frankfurt in die Bresche springen?

Dann, eines schönen Tages, ich saß gemütlich am Computer und glich Sequenzen ab, erhob sich auf dem Flur unvermittelt ein Gebrumm. Es klang wie eine mit einem Zahnarztbohrer gekreuzte Riesenhornisse. Zaghaft öffnete ich die Tür einen Spalt breit und linste hinaus. Ein junger Bursche fräste die Klebstoffreste vom Boden des Laborflurlochs. Im Gegensatz zu seinem vorangegangenen Kollegen legte er immensen Arbeitseifer an den Tag.

Nach einem Tag lebhaften Gebrumms waren beide Löcher nicht nur sauber ausgefräst, sie hatten auch Zuwachs bekommen. Im Laborflurlinoleum klaffen seitdem vier Löcher, alle sauber ausgefräst.

Die exponentielle Lochzunahme erinnert mich auf beunruhigende Weise an das Betragen des Nichts in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“. Zuerst materialisiert es sich in Form vereinzelter Löcher hier und da, welche sich ausdehnen, sich ganze Städte und Landstriche einverleiben und schlussendlich das gesamte phantasische Reich verschlingen. Bis auf ein Sandkorn.

Unsere Handlanger des Nichts sind bislang nicht zurückgekehrt. Sollten sie es eines Tages doch tun, erwartet uns gewiss das gleiche Schicksal wie Endes Phantasien. Zuerst wird das Büroflurlinoleum Nachwuchs bekommen, dann werden sich die Löcher Stück für Stück ausdehnen und uns alle mitsamt unseren Zentrifugen und Pipetten verschlingen.  

 

Maike Ruprecht



Letzte Änderungen: 23.04.2014