Editorial

"Ich will nicht Impact-Königin sein"

Nein, sie wolle eigentlich gar nicht über das Laborjournal-Ranking „Nicht-klinische Neurowissenschaften sprechen, auch wenn sie den Spitzenplatz belegt habe, sagte Marcella Rietschel. Sie hat es sich dann anders überlegt, denn sie hat eine Botschaft.
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(4. März 2014) Gleich zu Beginn unseres Gesprächs kam Rietschel, die am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim arbeitet, zu Sache: „Mein erster Reflex war wirklich: ich finde Rankings nicht gut, deshalb spreche ich auch nicht darüber.“ Noch bevor sich die Laborjournal-Mitarbeiterin von der Verblüffung erholen und nach dem Grund fragen konnte, fuhr Rietschel auch schon fort. Sie arbeite ja seit langem sehr erfolgreich in mehreren Forschungsverbünden. Eine sehr gute Positionierung in einem solchen Ranking betone die Leistung einzelner Personen viel zu sehr, anstatt die Bedeutung des gesamten Forschungsverbundes zu würdigen. Das sei auch in ihrem Fall so. Dabei sei sie doch so froh, dass man auch in der Psychiatrie und der Erforschung der genetischen Ursachen psychischer Erkrankungen endlich erkannt habe, wie wichtig solche Verbünde seien, und dass man diese Erkenntnis nun auch umsetze. „Aber andererseits wird die Leistung einzelner in den Verbünden eben oft nicht adäquat sichtbar. Das gilt insbesondere für die Arbeit der jungen Wissenschaftler“, sagt Rietschel. „Ich will nicht die 'Impact-Königin' sein, denn ich bin eher der Teamtyp und nicht der Individualist. Ich habe solche Positionen nie angestrebt, sondern mein Ziel und mein Antrieb war es immer, Hilfe für Patienten zu suchen.“

Chance ergriffen

Aber wer hätte denn sonst auf Platz 1 stehen sollen? „Natürlich Herr Propping, ganz klar“, antwortet Rietschel wie aus der Pistole geschossen. Peter Propping rangiert aber nur auf Platz 35. Der renommierte Humangenetiker ist nun auch schon 71 Jahre alt, Seniorprofessor an der Universität in Bonn und vermutlich weniger in der Forschung aktiv als früher. „Für mich ist er die Nummer eins. Viele der Personen, die jetzt die ersten Plätzen dieses Rankings belegen, kommen aus seiner Schule. Er vermittelt eine ganz große Liebe zur Wissenschaft und nimmt auch junge Mitarbeiter sehr ernst,“ sagt Rietschel.

Für sie war es der größte Glückfalls ihres (zumindest Forscherinnen-)Lebens, bei Peter Propping die Ausbildung zur psychiatrischen Genetikerin begonnen zu haben. „Ich erlebte damals den größten Frust meines Lebens, der noch lange nachgewirkt hat. Nämlich dass ich als Medizinerin mit Kind keine Stelle bekommen konnte, obwohl ich mich in mehreren Ländern und über Disziplinen hinweg beworben habe“, erzählt Rietschel. „Peter Propping gab mir damals eine Chance – und ich ergriff sie.“ Seit 1998 ist sie Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit Zusatzbezeichnung Medizinische Genetik.

Die Rolle der Gene bei psychischen Erkrankungen

Die vielen Punkte, die sie auf Platz eins katapultierten, machte Rietschel mit genetischen Untersuchungen vor allem zur Schizophrenie und Bipolaren Störungen. Zu den häufig zitierten Untersuchungen gehören Analysen struktureller genomischer Veränderungen (CNVs). Die Forscher um Rietschel fanden CNVs mit größeren Effekten, berechneten polygene Scores, identifizierten den Einfluss von Telomerlängen und analysierten auch einzelne Gene. Außerdem beschäftigten sie sich mit der Identifizierung symptombasierter Subgruppen von Erkrankungsbildern.

„Wer hätte jemals gedacht, dass wir genetische Ursachen für psychische Erkrankungen finden können? Als ich in der Psychiatrie anfing, hatten wir schon genug damit zu tun, die Erkrankungen mit ihren verschiedenen Symptomen und Verläufen für genetische Untersuchungen überhaupt richtig zu erfassen. Und dann kamen die molekulargenetischen Fortschritte und ermöglichten systematische Untersuchungen wie beispielsweise genomweite Assoziationsuntersuchungen (GWAs) und genomweite Untersuchungen auf strukturelle genomische Veränderungen – und die Forschung ist regelrecht explodiert. Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch erlebe, dass wir mit der Ursachenforschung so weit kommen. Heute wissen wir: Eine Erkrankung wie Schizophrenie ist eine somatische Störung, die sich in psychischen Symptomen manifestiert. Sie ist erblich, aber ob sie zum Ausbruch kommt oder nicht, hängt wesentlich von der Umwelt ab.“ Da sehen sich die ewigen Kontrahenten Nature und Nuture plötzlich vereint. Es hängt also auch von äußeren Einflüssen wie Lebenserfahrungen oder Ernährung ab, ob aus einer angeborenen „Schwäche“ eine Krankheit wird? „So kann man das sehen“, sagt Rietschel. Bisher allerdings konnten auch die GWA-Studien nur Korrelationen zwischen Krankheit und Genvarianten dokumentieren – der Nachweis kausaler Ursachen steht noch aus.

Im Zenit ihrer Arbeit

Rietschel sieht sich jetzt im Zenit ihrer Arbeit – am liebsten würde sie exakt jetzt in Rente gehen oder zumindest mal eine Auszeit nehmen. Das Privatleben kam doch all die Jahre viel zu kurz, vor allem, als die Kinder noch klein waren. Das habe ihr ziemlich missfallen und auch oft sehr leid getan. Leider ist auch heute noch Karriere und Familie für Frauen, insbesondere auch in der Medizin, sehr schwierig, was sich unter anderem an den geringen Zahlen von Ärztinnen in höheren Rängen in Kliniken dokumentiert.

Tja, aber Frührente? 1957 geboren, muss sie, um in den Verdienst voller Pensionsbezüge zu kommen, sogar 65 Jahre und elf Monate arbeiten. Und so quirlig und engagiert, wie sie über die Wissenschaft erzählt, kann man auch nicht glauben, dass sie die Forschung einfach an den Nagel hängen kann. Was also sind die nächsten Schritte? „Die Politik muss sich ändern, es gilt die Tragweite psychischer Störungen zu begreifen. Immerhin sind erste Schritte in der Erkenntnis, dass psychische Erkrankungen ernst zu nehmen sind, ja gemacht worden. Früher hat man hier ja nur an Demenzforschung gedacht, inzwischen ist das Spektrum breiter“, freut sie sich. „Und zweitens müssen wir in Deutschland diese Forschung noch mehr vernetzen und die Auswertung von Patientendaten verbessern.“ Natürlich sei die Arbeit in großen Verbünden nicht immer reibungslos. „Man verliert einen Teil seiner Eigenbestimmtheit was die Forschung angeht. Das ist manchmal schon frustrierend, aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Möglichkeiten basierend auf den Erkenntnissen neue Hypothesen zu generieren und eigenständige Forschung voranzutreiben sind so phantastisch, dass man das aus- und durchhalten muss“, ist sie überzeugt.

Das klingt nicht nach viel mehr Freizeit als bisher – also wird sie kein Buch schreiben? Da lacht sie. Nein, für ein Buch habe sie wirklich keine Zeit. Das bisschen, das ihr neben der Wissenschaft bleibe, investiere sie in die ethische Forschung, auf dass die Wissenschaft nicht am Menschen vorbei wirke. Denn zwar sei Forschung wichtig und spannend, aber man müsse sich auch klar darüber werden, was das alles für den Mensch, für das Menschenbild bedeute. Wo sie wohl bei einem Ranking „Ethische Forschung“ landen würde?

 


Karin Hollricher



Foto: Marcella Rietschel,  Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim



Letzte Änderungen: 30.04.2014