Editorial

Raus aus der Kuschelecke

(30.10.2014) Je mehr Neuro- und Verhaltensforscher über Empathie, Spiegelneuronen und Oxytocin herausfinden, desto schillernder wird das Bild ihrer Rolle im Sozialleben.


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Wenn Hirnforscher, Psychologen und Philosophen heute über die biologische Seite des menschlichen Einfühlungsvermögens referieren, klingt vieles verhaltener und ambivalenter als noch vor zehn Jahren. Beim Nürnberger Turm der Sinne-Symposium Ende September war es so manchen Vortragenden wichtig, das rosarote Bild, das der Öffentlichkeit vermittelt wurde, durch ein realistischeres zu ersetzen.

Das Kuschel- und Liebeshormon Oxytocin galt vor zehn Jahren noch als reiner Förderer der Familienbande. Wird es doch beim Stillen genauso ausgeschüttet wie nach dem Orgasmus. Es sorgt für das wohlige Verbundenheitsgefühl, das wir mit engen Vertrauten genießen. Neuere Studien zeigen allerdings, dass die Oxytocin-Wirkung noch eine andere Seite hat.

Das Kuschelhormon verstärkt Missgunst und Neid

So kann eine experimentelle Erhöhung des Oxytocin-Levels auch Aggression fördern, je nach Kontext. Wenn Säuger-Mütter ihren Nachwuchs schützen oder wenn dominante Männchen mit hierarchisch unter ihnen stehenden interagieren, steigert ein experimentell erhöhter Oxytocin-Spiegel ihr Droh- und Kampfverhalten. Und in ungerechten Situationen verstärkt Oxytocin beim Menschen Gefühle von Neid und Missgunst gegenüber konkurrierenden Gruppen.

Auch das Bild von Spiegelneuronen ändert sich. Seit ihrer Entdeckung vor 20 Jahren wurden diese Nerventypen von vielen enthusiastisch zum Sitz des Einfühlungsvermögens erklärt. Fachwelt und Öffentlichkeit feierten sie als neuronales Korrelat einer Fülle von Eigenschaften, die uns und unsere Primatenverwandten befähigen, Absichten, Wünsche und Gefühle der Anderen zu lesen.

In letzter Zeit jedoch mehren sich Stimmen, die diese Deutungen als Überinterpretationen in Frage stellen und die Spiegelneuronen lieber ausschließlich da verorten wollen, wo die experimentellen Befunde sie ursprünglich fanden: auf einer funktional tiefen Ebene bei der Berechnung von eigener und fremder Motorik.

Die genaue Kategorisierung davon, wie sich ein Anderer bewegt, ist sicherlich ein wichtiger Baustein für die soziale Wahrnehmung. Aber Kritiker geben zu bedenken, dass das nicht gleichgesetzt werden kann mit einem Verständnis für die Intentionen des Anderen. Auch ergeben sich daraus noch keine Rückschlüsse auf emotionale Bewertungen durch den Beobachtenden. Wo und wie finden diese hierarchisch höheren Auswertungen im Hirn statt? Das sind derzeit intensiv bearbeitete Forschungsfelder.

Die Doppelnatur sozialer Fähigkeiten

Aber nicht nur unser Bild von Oxytocin und Spiegelneuronen, auch allgemein unsere Vorstellung von sozialer Wahrnehmung wird durch die neuere Forschung komplexer und vielschichtiger. Hatte man Empathie früher meist nur als Voraussetzung dafür dargestellt, sich trösten und beistehen, sich gegenseitig helfen und in komplexen Sozialgefügen kooperieren zu können, ist nun immer öfter von der Doppelnatur sozialer Fähigkeiten die Rede.

Entgegen gängiger Vorurteile zeigt die Erforschung von Empathie und seiner biologischen Grundlage nämlich generell, dass das Wissen über die inneren Vorgänge und Beziehungen der Anderen nicht nur zu prosozialem Verhalten führt, sondern ebenso oft auch gegen Andere eingesetzt wird.

Evidenz aus so verschiedenen Richtungen wie der Primatenforschung, der Entwicklungspsychologie und der Psychiatrie deutet darauf hin, dass genau die gleichen Fähigkeiten zur sozialen Wahrnehmung, die es uns erlauben komplexe Beziehungsgefüge zu pflegen, uns auch dazu befähigen, Andere zu täuschen und zu manipulieren.

Über diese Doppelnatur sozialer Kognition wurde seit Ende der 70er Jahre im Umfeld der Primatenforschung unter dem Stichwort der 'Machiavellischen Intelligenz' diskutiert. Dabei ging es etwa darum, dass die Intelligenz der Menschenaffen nur in wechselnden Koalitionen zwischen Kooperation und Konkurrenz verständlich ist.

Soziale Gehirne

Im letzten Jahrzehnt entzündete sich diese Debatte auf breiterer Front neu, anlässlich von Robin Dunbars 'Social Brain'-Hypothese. Der vergleichende Psychologe erregte Aufmerksamkeit mit der Entdeckung, dass die Hirngröße von Affen mit der Größe der sozialen Gruppe korreliert, in der sie typischerweise leben.

Dunbar postulierte daraufhin, dass der Selektionsdruck hin zu größeren und leistungsfähigeren Primatengehirnen nicht etwa von ökologischen Bedingungen wie schwierigerer Futtersuche oder zunehmender Bedrohung durch Fressfeinde erzeugt wurde, sondern vielmehr von sozialen Herausforderungen in der eigenen Gruppe, deren Komplexität mit der Gruppengröße anwächst.

Für den Gießener Soziobiologen Eckart Voland wirft Dunbars Hypothese auch ein neues Licht auf die evolutionäre Entstehung des menschlichen Selbstbewusstseins. Er warb beim Nürnberger Symposiums-Publikum für seine Analyse, dass evolutionär erst das Verständnis für den Anderen entstanden sein muss und erst später das Eigenverstehen folgte – als eine Art Transferleistung des Fremdverstehens.

Wie weit diese Konzepte tragen, wird sich zeigen. Doch die Auseinandersetzung mit der schillernden Natur sozialer Wahrnehmung erweist sich schon jetzt als fruchtbar für eine ganze Reihe von unterschiedlichen Disziplinen. Je weniger verklärt der Blick auf Empathie wird, desto klarer scheinen neue Aspekte in Evolution und Entwicklungspsychologie des menschlichen Geistes sichtbar zu werden. Nicht zuletzt werden die neuen Erkenntnisse helfen, die Ursachen von Pathologien in der Verarbeitung sozialer Informationen zu ergründen, wie des Autismus oder der Psychopathie.

Aber auch Forscher lässt die Doppelnatur der Empathie emotional nicht unberührt, knüpfen sich doch an die Empathiefähigkeit des Menschen auch politische Hoffnungen auf Zivilisiertheit unserer Gesellschaften. Die aktuelle Erkenntnislage nährt diese Hoffnungen nicht gerade. Denn wie Josef Reichholf beim Turm der Sinne-Symposium ernüchternd feststellte, ist unsere Empathie wie eine Münze mit zwei Seiten: „Es scheint zu gelten: Je sozialer innerhalb der Gruppe, desto schlimmer nach außen.“

 

Brynja Adam-Radmanic


Illustration: © carlosgardel  / Fotolia



Letzte Änderungen: 05.11.2014