Editorial

Knut und Ingelfinger: beide tot

(11.9.15) Man soll das Fell des Bären erst verteilen, wenn er erlegt ist. Nun ist Eisbär Knut, damals eine Sensation des Berliner Zoos, schon seit 2011 tot. Trotzdem gab es jetzt noch einmal Streit um die (wissenschaftliche Aus-)Beute.
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Ein Team um den Neurowissenschaftler Harald Prüß hat herausgefunden, woran Knut so früh gestorben war, nämlich an einer seltenen Form der Gehirnentzündung. Die Ergebnisse der molekularen Kadaverschau publizierten die Forscher am 27. August im Nature-Ableger Scientific Reports. Zeitgleich zum Erscheinungstermin war die Weltpresse geladen, den Ausführungen der Eisbär-Pathologen zu lauschen.

Zu diesem Zeitpunkt waren aber ein paar freche Lokaljournalisten schon vorangestürmt. Schon drei Tage vor der offiziellen Publikation, am 24. August, hatten Berliner Kurier und Berliner Zeitung die Nachricht gebracht. Der Forschungsverbund Berlin hatte die Infos ja auch schon einige Tage vorher an Journalisten herausgegeben, allerdings mit einer Sperrfrist versehen. Veröffentlichen sollten die Journalisten bitteschön erst nach der Pressekonferenz zu dieser “Glanzleistung kooperativer Forschung” (so der Forschungsverbund Berlin).

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Dreist ignoriert

Dass die Lokalredakteure die Sperrfrist dreist ignorierten, mag daran liegen, dass sie nicht mit den Sitten der Kollegen aus dem Wissensressort vertraut waren. Das erklärte dem Portal Meedia zufolge die Mediengruppe DuMont, Eigentümerin der beiden Zeitungen.

Jedenfalls haben sich die ungeduldigen Journalisten nicht wie Gentlemen verhalten. Denn nichts anderes ist eine Sperrfrist: Ein Gentlemen's Agreement. Falls Forscher und Pressestellen den Embargo-Brechern in Zukunft keine Vorab-Neuigkeiten mehr zustecken, dürfen sie sich nicht wundern. Auch dass die Nature Publishing Group eine sechsmonatige Vorabinfo-Sperre über die Journalisten des Berliner Verlags verhängt hat, kann man nachvollziehen. Spielregeln sind Spielregeln.

Aber davon abgesehen: Welchen Schaden haben die Journalisten denn angerichtet? Ein sorgfältig orchestriertes PR-Feuerwerk haben sie gestört, indem sie schon vor dem Startböller des Zeremonienmeisters ihre Raketen abgeschossen hatten. Es ist das gute Recht der Forscher, des Zoos und des Journals, den Knuddel-Knut-Effekt für einen weiteren Marketing-Wumms auszuschlachten, vielleicht ein allerletztes Mal. Die Embargo-Brecher haben ihnen dabei in die Suppe gespuckt. Das war unfein und unfair.

Das war's dann aber auch schon fast.

Müssen wegen dieser vergleichsweise läppischen Angelegenheit gleich die Spitzen des Forschungsmanagements tätig werden und einen erbosten Brief verfassen? Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, Matthias Kleiner, sein ehemaliger Kollege von der Helmholtz-Gemeinschaft Jürgen Mlynek (im Amt bis 31. August), der Charité-Vorstandsvorsitzende Karl Max Einhäupl und Pierluigi Nicotera vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen: Sie alle zeigten sich „bestürzt“ über das Bärchen-Affärchen. Beim Presserat habe man Beschwerde eingelegt.

Akute Gefahr

In hochtrabendem Ton schreiben die Unterzeichner, es hätte „akute Gefahr“ bestanden, dass die Nature Publishing Group das Manuskript als bereits veröffentlicht hätte zurückweisen können: „Die jahrelange Forschung unserer international renommierten Arbeitsgruppen wäre [durch den Embargo-Bruch] entwertet worden.“

Mit Verlaub, das ist ziemlicher Blödsinn.

Zwar ist richtig, dass sich die Autoren ihrerseits gegenüber dem Journal verpflichten, ein vereinbartes Presse-Embargo einzuhalten.

Aber nein, Scientific Reports hätte kaum in letzter Minute auf eine Publikation verzichtet, weil die Ursache des Bärentodes ganze drei Tage vorher verkündet worden ist, in der bei Eisbärologen renommierten Fachzeitschrift Berliner Kurier. Nein, eine Nachricht in der Presse ist keine wissenschaftliche Veröffentlichung, die den Forschern ihren Anspruch auf Priorität stehlen würde. Nein, zukünftige wissenschaftliche Arbeiten über Knuts Hirnerkrankung werden nicht den Lokalredakteur der Berliner Zeitung zitieren müssen, sondern doch eher Prüß' Artikel in Scientific Reports.

Ingelfinger-Regel: Fast so tot wie Knut

Warum also das Theater? Die Forschungsbosse beziehen sich mit ihrem Popanz implizit auf die sogenannte „Ingelfinger-Regel“. Eine wichtige Durchsage:

Die Ingelfinger-Regel ist in der Praxis fast genauso tot wie Eisbär Knut.

Franz J. Ingelfinger, Editor beim New England Journal of Medicine, hatte die später nach ihm benannte Regel 1969 für seine Zeitschrift aufgestellt, und fast alle Fachjournale haben sich in der Folge darauf verpflichtet. Er hatte dabei lobenswerte Ziele:

Forschungsergebnisse dürfen nicht mehrmals publiziert werden. Dieser Teil der Regel ist nach wie vor sinnvoll und akzeptiert. Die Leser müssen wissen, ob Autoren ihre Daten in einem Fachartikel zum allerersten Mal berichten, oder ob sie sich auf schon anderswo publizierte Ergebnisse beziehen. Wer seine Daten zweimal unabhängig, ohne Querverweis, in zwei verschiedenen Journalen publiziert, begeht wissenschaftliches Fehlverhalten.

Dabei geht es aber um die Fachliteratur, nicht um Zeitungsmeldungen im Panorama-Teil?

In der früher - und zumindest theoretisch auch heute noch - üblichen Variante reichte die Ingelfinger-Regel jedoch tatsächlich weiter: Vor der Erstpublikation in einem wissenschaftlichen Journal, mit Peer Review, durfte niemand über die Ergebnisse berichten. Dieser strengen Interpretation zufolge dürften Journal-Editoren ein Manuskript nicht mehr annehmen, wenn dessen Ergebnisse vorab in die Presse gelangt waren.

Die strengen Sitten verfallen

Diese strengen Sitten sind aber seit Jahren quasi überall vorbei oder im Niedergang. Fast alle Journale, so auch Scientific Reports, erlauben beispielsweise die Vorab-Publikation bei sogenannten Preprint-Servern wie ArXiv oder BioArXiv. Auf diesen Servern liegen Manuskripte, die jeder einsehen kann, obwohl sie noch nicht begutachtet wurden. Preprints sind also publik, aber im akademischen Sinne nicht „publiziert“.

Physiker und Mathematiker stellen regelmäßig Preprints ein, im Gegensatz zu den meisten Biologen.

Und sobald Manuskripte auf einem Preprint-Server liegen, können Journalisten auch darüber berichten. Wenn sie sorgfältig arbeiten, schreiben sie dazu, dass das Manuskript noch nicht "richtig" veröffentlicht wurde und die Ergebnisse deshalb vorläufig sind.

Absurderweise raten manche Journale, so auch z. B. Scientific Reports, ihren Autoren aber immer noch ausdrücklich davon ab, mit Journalisten über unveröffentlichte Daten und frei zugängliche Preprints zu sprechen ("do not encourage premature publication by discussion with the press", steht in den Richtlinien für Autoren).

In der Praxis schwindet jedoch der kategorische Unterschied zwischen Preprint und Veröffentlichung. So erschien neulich bei Nature News ein langer journalistischer Artikel über neue Erkenntnisse zu mysteriösen Quanteneffekten. Das dazugehörige Paper ist noch nicht einmal bei einem Journal eingereicht, geschweige denn begutachtet. Das Manuskript liegt bisher nur auf dem ArXiv-Server. Die spätere Publikation in einem „richtigen“ Journal behindert diese Vorab-Berichterstattung aber offensichtlich nicht.

Nun standen die Ergebnisse über Knuts Todesursache allerdings nicht vorab auf einem Preprint-Server, sondern nur in einer Presseinformation – mit Sperrvermerk. Sich daran nicht zu halten, das war gar nicht nett.

Aber generell kann man mal darüber nachdenken: Wenn der unbeschwertere Umgang mit nicht veröffentlichten Daten bei Physikern und Mathematikern so gut funktioniert, wieso sollten dann für Biologen und Mediziner andere Regeln gelten?

 

Hans Zauner

Foto: Alandeus, via Wikipedia; Lizenz: CC-BY



Letzte Änderungen: 14.01.2016