Editorial

Die Sache mit dem Chromatin

(21.10.15) Im Oktoberheft geht es um Artefakte in der Mikroskopie. Ein guter Anlass, noch mal die Sache mit dem Chromatin aufzugreifen: Das rollt sich zu 30nm-Fasern auf, sagen die Lehrbücher. Stimmt das?
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© Hügößel

Wie bekommt man eine zwei Meter lange Schnur in einen menschlichen Zellkern? Wir könnten ihn in zwei mal 23 Stücke zerschneiden und jeden Einzelfaden dann zu einem handlichen Knäuel aufwickeln. Der Autor dieses Beitrags denkt in diesem Moment an seinen Computer, den Drucker, Scanner, die PC-Boxen, das Telefon und die zugehörigen Kabel, die hinter dem Schreibtisch vernuddelt sind. Wozu gehört noch mal dieses USB-Kabel?

Doch im Gegensatz zum Kabelsalat des Laborjournal-Autors knüllt sich DNA im Zellkern nicht einfach irgendwie zusammen. Der Erbgut-Faden wickelt sich um Histone und bildet mit diesen eine perlenkettenartige, 10 Nanometer (nm) dicke Struktur. Die einzelnen Perlen bezeichnet man als Nukleosomen. So weit, so gut.

Doch diese 10nm-Fasern sollen sich noch weiter aufrollen, sagen die Lehrbücher. Nämlich zu Fasern mit einer Dicke von 30nm. Dabei lagern sich mehrere Nukleosomen nach einem definierten Muster zu Solenoiden oder einem „Zigzag“-Muster zusammen; damit lässt sich Chromatin noch dichter verpacken und auch dem Zugriff von Transkriptionsfaktoren entziehen. Über die Chromatinkondensation kann man also auch auf die Genexpression einwirken und einiges veranstalten, was heute unter der Überschrift „Epigenetik“ läuft.


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So etwa könnte die 30nm-Faser aussehen. Aber gibt es sie wirklich? (Grafik: Captain-Tucker, CC-BY)

Wo sind die 30nm-Fasern?

Was Biologiestudenten in ihren Genetik-Wälzern über das Chromatin lernen, wird derzeit aber von einigen Forschern angezweifelt. Bereits 2012 hatten wir im Laborjournal-Blog darüber berichtet. Anlass war ein Paper von Eden Fussner et al., die in Mäuse-Fibroblasten Chromosomen unter die Lupe genommen hatten (EMBO Rep 6: 992-6). Die Forscher kombinierten verschiedene elektronenmikroskopische Verfahren, um die Chromatinstruktur intakter, schockgefrorener Zellen dreidimensional aufzulösen. Dabei fanden sie jedoch keine 30nm-Fasern, sondern bloß DNA, die zu den 10nm-Nukleosomen aufgewickelt war. Und sie waren nicht die ersten, die am Chromatinmodell rüttelten. Bereits 2008 hatten Mikhail Eltsov et al. berichtet, dass sie in HeLa-Zellen vergeblich per Elektronenmikroskopie nach 30nm-Fasern gesucht hatten (PNAS 105: 19732-7).

Doch wie kam man überhaupt auf die Idee, dass 10nm-Chromatin weiter zu definierten 30nm-Strukturen kondensiert? Werfen wir einen kurzen Blick auf die Methoden: Kryoelektronenmikroskopie an unbehandelten Proben ist heute das Mittel der Wahl, um Zellstrukturen im Elektronenmikroskop möglichst lebensnah sichtbar zu machen. Dafür wird das Material schockgefroren und bei niedrigsten Temperaturen geschnitten. Die Herausforderung dabei: Man muss mit einem geringen Kontrast klarkommen, und es brauchte einige Jahrzehnte, bis die Methode weit genug war und ihren Einzug in die Lebenswissenschaften fand. Davor dominierten die klassischen Verfahren, bei denen man erst mal alles Mögliche mit den Zellen anstellen musste, um etwas sehen zu können. Metallatome zur Kontrasterhöhung waren Standard, Proben wurden fixiert, Membranen zerstört, Wasser entzogen – so konnte man sich nicht darauf verlassen, dass das, was im Elektronenstrahl sichtbar wurde, noch den Zustand im lebenden Organismus repräsentierte.

Wie DNA mit den Histonen interagiert und sich aufwickelt, hatten Forscher damals vor allem an isolierten Chromosomen studiert, die sich nicht mehr in der lebenden Zelle befanden – eben weil sich dieses in vitro-Material viel leichter präparieren und elektronenmikroskopieren lässt. Dann sieht man tatsächlich, dass Chromatin 30nm-Fasern bildet; das Aufwickeln der DNA im Reagenzglas lässt sich über die Salzkonzentration steuern.

Reagenzglas vs. Zelle

Was bedeutet das nun? Ist alles Lehrbuchwissen über das 30nm-Chromatin falsch? Wer auf Pubmed nach Papern zum Thema sucht, findet noch immer aktuelle Studien, in denen Forscher die 30nm-Fasern unter die Lupe und damit offenbar auch ernst nehmen. „30nm-Chromatinfasern sind zwar noch immer nicht in Säugerzellen gefunden wurden“, räumt Guohong Li von der Chinese Academy of Sciences in Peking ein, „aber unsere in vitro-rekonstituierten Chromatinfasern zeigen bei Kryo-EM, dass die 30nm durchaus fundamentale Prinzipien widerspiegeln, wie sie auch in vivo auftauchen könnten.“ Li und seine Mitstreiter finden nämlich auch mit modernen EM-Methoden 30nm-Chromatin und haben genau analysiert, wie und unter welchen Bedingungen die DNA sich entsprechend aufrollt (Science 344: 376-80). Es sei eine intrinsische biophysikalische und biochemische Eigenschaft der DNA, zusammen mit Histonen 30-nm-Fasern zu bilden, sind sich die Pekinger Forscher sicher.

Also gibt es sie doch, die 30nm-Fasern!

Nur nicht in lebenden Zellen. Li widerspricht: „30nm-Fasern hat man sehr wohl gefunden, und zwar in Seestern-Spermien und den Kernen von Hühner-Erythrozyten – mit Kryo-EM!“ Das ist auch den Autoren der eingangs erwähnten Paper bewusst, die in Säugerzellen kein 30nm-Chromatin fanden. Sie verwendeten Seestern-Spermien sogar als Kontrolle, um zu zeigen, dass vorhandene 30nm-Strukturen nicht durch ihre Aufbereitungs- und Analysemethoden zerstört werden. Das Lehrbuchwissen scheint hier also nicht komplett daneben zu liegen. Andererseits ist die vorbildhafte Chromatinkondensation den neueren Erkenntnissen nach wohl ganz und gar nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. Man bedenke, dass Spermien ohnehin nur die Funktion haben, Erbgut energiesparend auf engstem Raum zu transportieren. Und rote Blutkörperchen scheinen auch nicht besonders auf Genexpression angewiesen zu sein – schließlich kommen Säuger-Erythrozyten sogar komplett ohne Zellkern aus.

Dynamisches Chromatin

Kazuhiro Maeshima et al. fragen sich 2014 in einem Review-Artikel unter anderem, warum man die Lehrbuch-Version der hierarchischen Chromatinpackung in vitro immer wieder beobachtet, obwohl sie in lebenden Zellen wohl ein Sonderfall ist (Chromosoma 123: 225-37). Die Autoren sprechen von einem „in vitro-Artefakt“ – die negativ geladene DNA streckt sich im Reagenzglas aus; auch wenn sich Nukleosomen gebildet haben, die die negative Ladung teilweise kompensieren, ist es immer noch unwahrscheinlich, dass weiter auseinanderliegende Regionen des Strangs aufeinanderstoßen. So interagieren nur benachbarte Nukleosomen und formen eine vorbildlich strukturierte 30nm dicke Solenoid- oder Zigzag-Struktur. Im Zellkern hingegen kann sich DNA nicht so bequem ausstrecken, und auch die lokalen Salzkonzentrationen sind anders als im Reagenzglas.

Die Autoren glauben daher, dass sich 10nm-Chromatin unregelmäßiger aufwickelt. Dichte und weniger dichte Chromatin-Regionen existieren demnach sehr wohl, nur wäre ein DNA-Strang dann sehr viel dynamischer und weniger streng organisiert, als es im Lehrbuch steht. Vielleicht ist der Kabelsalat hinter dem Schreibtisch also doch näher an der Natur als gedacht...

 

Mario Rembold

Foto:(c) Gregor Inkret /iStockPhoto


In der Laborjournal-Online-Reihe "Lehrbuchwissen hinterfragt" gehen wir der Frage nach, ob denn wirklich alles stimmt, was den Studenten im Studium erzählt wird. Gerne nehmen wir Themenvorschläge für diese lockere Reihe entgegen - Kontakt hier oder auch z.B. via Twitter (dort sind wir unter @lab_journal anzutreffen).

Bisher in der Reihe erschienen:

"Phineas Cage und die Eisenstange"
"Schwestergene und Nächstenliebe"

 



Letzte Änderungen: 14.01.2016