Tabletten made in Thüringen

(05.03.2020) Schweinegalle, Staatsdoping, Sex. Das Unternehmen Jenapharm blickt 2020 auf 70 Jahre bewegte Geschichte zurück.
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Editorial

Angefangen hat alles Ende der 1930er Jahre mit Penicillin. Von Alexander Fleming 1928 eher zufällig entdeckt, isolierten rund 10 Jahre später drei britische Wissenschaftler die antibiotische Substanz. Etwa gleichzeitig begann sich auch ein deutscher Mikrobiologe in Diensten des Jenaer Glaswerks Schott & Gen. für Penicillin zu interessieren. Hans Knöll wollte damit allerdings keine Bakterien auslöschen, sondern Krebszellen. Tatsächlich gelang es ihm 1942, den Wirkstoff in Pulverform im Labor-Maßstab herzustellen. Zum Glück für einen Fabrikarbeiter mit einer eiternden Handverletzung – dieser bekam das frisch in Jena produzierte Penicillin-Pulver und genas.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fanden sich Schott und Knöll in der sowjetischen Besatzungszone wieder. Und sogleich befahl die neue Obrigkeit, die Produktion von Penicillin hochzufahren. Dafür brauchte man riesige Fermenter und viel Platz, den Knöll und Co. von der Firma Carl Zeiss in Form eines leeren Fabrikgebäudes zur Verfügung gestellt bekamen. Notgedrungen baute man sogar Eisenbahn-Tankwagons zu Fermentern um. Schließlich reichte auch das nicht mehr aus und eine komplett neue Produktionsanlage wurde errichtet – die Fermentationsabteilung bekam 1947 den Namen Jenapharm.

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Kollegiale Wracks

Drei Jahre später, am 1. Januar 1950, wurde aus der Fermentationsabteilung der volkseigene Betrieb (VEB) Jenapharm und Knöll dessen Direktor. Mehrere hundert Menschen arbeiteten damals bereits in der Firma, allerdings vor allem ungelernte. „Weil es damals keine Arbeiter mit einer technischen Ausbildung gab, bestand die Gründungsgeneration von Jenapharm hauptsächlich aus Menschen, die aus den Ostgebieten, die früher unter deutscher Kontrolle standen, vertrieben wurden; aus Lehrern und Verwaltungsbeamten, die wegen ihrer politischen Vergangenheit entlassen worden waren; aus ehemaligen Berufssoldaten der Armee, arbeitslosen Schauspielern und anderen menschlichen ‚Wracks‘ des Krieges“, erinnern sich die Jenapharm-Chemiker Sigfrid Schwarz und Dieter Onken sowie der ehemalige Forschungsleiter Alfred Schubert (der Ende 1967 wegen Patentstreitigkeiten vor die Tür gesetzt wurde) in einem Artikel von 1999. Neben Penicillin produzierte der VEB Jenapharm auch bald Streptomycin, Schmerzmittel, Vitamine, Transfusionslösungen und Impfstoffe – wie den BCG-Impfstoff gegen Tuberkulose, den Jenapharm ab 1952 für die gesamte DDR produzierte.

Anfang der 50er Jahre wurden Steroide als entzündungshemmende Wirkstoffe immer wichtiger. Aber die DDR hatte ein Problem. Der damals gebräuchlichste Ausgangsstoff, den man für die Synthese benötigte, Diosgenin aus der tropischen, in Mexiko-beheimateten Yamswurzel, war unerreichbar und Importe zu teuer. Was gab es also für Alternativen vor Ort? Forschungsleiter Schubert schlug Schweinegalle (die in Schlachthöfen anfiel) vor, aus der tatsächlich ein kristalliner Hyodes­oxychol­säureester als Steroid-Grundkörper isoliert werden konnte. Nach mehreren Syntheseschritten entstand am Ende das Gelbkörperhormon Progesteron, welches sich wiederum in Testosteron umwandeln ließ. „Schweinegallenverfahren“ nennt sich diese Synthese in der Patentschrift (für DDR und BRD) von 1953.

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Olympische „Erfolge“

Dieses Verfahren war auch die Grundlage für das erste eigene Produkt des volkseigenen Pharmabetriebs. 1961 kam Chloro­dehydro­methyl­testosteron auf den Markt, ein Testosteron-Derivat – später bei Apothekern bekannt unter den Namen Oral-Turinabol, bei Leistungssportlern der DDR als „blauer Blitz“. Richtig, Doping!

Eigentlich entwickelt, um den Muskelaufbau nach einem Unfall oder einer OP zu fördern, brachte die Wirkungsweise des Präparats die DDR-Führung auf krumme Gedanken. Wenn schon nicht durch eine demokratische, menschenwürdige Gesellschaftsordnung, so wollte man doch wenigstens bei prestigeträchtigen, sportlichen Wettbewerben international glänzen. Nach einem erfolgreichen Test bei den Olympischen Spielen in Mexiko (1968) wurde Oral-Turinabol systematisch im Leistungssport eingesetzt – oft ohne das Wissen der Athleten.

Erst Mitte der 1990er Jahre stellte Jenapharm die Produktion des Testosteron-Präparats wegen Leber-schädigender Wirkung ein. Weitere 10 Jahre später erhielten ehemalige DDR-Sportler eine – mickrige – Entschädigung von knapp 10.000 Euro pro Person.

Als echtes Erfolgsprodukt stellte sich hingegen die selbst entwickelte Antibabypille heraus. Anfang der 1960er hatte die BRD vorgelegt und das erste in Europa entwickelte hormonale Verhütungsmittel auf den Markt gebracht. Die DDR musste also nachziehen. Tatsächlich gelang es Jenapharm in wenigen Jahren ein solches Präparat (Ovosiston) zu entwickeln – und damit sogar auf der Leipziger Messe 1965 eine Goldmedaille zu gewinnen. Bis heute gehören Verhütungsmittel zum Hauptgeschäft des Unternehmens.

Kartoffelkraut und Zuckerrohr

Obwohl durch ministerielle Verfügung in allen Schlachthöfen der DDR Schweinegalle für die Steroidsynthese gesammelt wurde, reichte die Menge bald nicht mehr aus. Wieder waren Alternativen gefragt – wie zuvor, mussten diese im Inland oder bei befreundeten, sozialistischen Bruderstaaten zu haben sein. Man testete Solanum-Alkaloide aus Kartoffelkraut und Zuckerrohr aus Kuba. Nichts rechnete sich wirklich: für die Synthese von einem Kilogramm Prednisolon wäre beispielsweise eine Kartoffel-Anbaufläche von einem Hektar nötig gewesen. So stieg man Mitte der 1960er Jahre auf die Totalsynthese um. Zum Glück gab es dafür bereits ein Verfahren, entwickelt vom russischen Chemiker Igor Torgov, das nicht patentiert und somit frei verfügbar war.

Ende der 1980er Jahre hatte Jenapharm 1.700 Angestellte, vier Produktionsanlagen in Jena, Erfurt, Naumburg und Magdeburg sowie einen Umsatz von 200 Millionen DM. Dann kam die Wiedervereinigung mit der BRD. Die Treuhand verkaufte die Firma an den Stuttgarter Pharma-Großhändler Gehe. Im Laufe der Jahre sicherte sich die Berliner Schering AG immer mehr Anteile an Jenapharm und wurde schließlich 2001 Haupteigentümer. Fünf Jahre später übernahm Bayer wiederum Schering und damit wanderte auch Jenapharm ins Firmennetz der Leverkusener.

Heute ist Jenapharm „Spezialist für Liebe, Leben und Gesundheit – mit speziellen Lösungen für besondere Bedürfnisse“. Im Mittelpunkt stehen Produkte zur Verhütung, im Sortiment sind aber auch Präparate bei Beschwerden in den Wechseljahren, bei Endometriose oder Testosteronmangel. Man ist sich also treu geblieben. 2018 arbeiteten von den einst über 1.000 Mitarbeitern nur noch 130 für das Unternehmen, der Umsatz lag bei 142 Millionen Euro.

Kathleen Gransalke

Foto: DDR-Museum