Stillstand oder Turbozünder
(10.12.2020) Die Medikamenten-Entwicklung gegen COVID-19 ist gerade etwas ins Stocken geraten. Aicuris, Inflarx, Atriva und Immunic fordern Unterstützung.
Derzeit scheint sich die staatliche Strategie der Pandemie-Bekämpfung fast ausschließlich auf persönliche Maßnahmen, also Kontaktreduzierung, und Impfstoffe zu stützen. Ganze 750 Millionen Euro sind beispielsweise bislang in die Entwicklung Letzterer geflossen, vor allem an die drei großen Biotech-Firmen Biontech, Curevac und IDT Biologika aus Dessau. Und die haben oder werden noch liefern, keine Frage.
Offensichtlich hat man aber eine weitere wichtige Säule im Kampf gegen COVID-19 ein wenig aus den Augen verloren – nämlich die Medikamenten-Entwicklung. Momentan haben Ärzte in immer voller werdenden Krankenhäusern nämlich nur zwei offiziell zugelassene Wirkstoff-Optionen: Dexamethason und Remdesivir. Genau genommen nur eine, denn kürzlich sprach sich die WHO gegen Remdesivir zur Behandlung von COVID-19 bei hospitalisierten Patienten aus. Es gäbe keine Beweise für dessen Nützlichkeit – die Substanz ist sein Geld (etwa 2.000 Euro für die fünftägige Therapie) also absolut nicht wert.
Auf dem Weg
Glücklichweise waren einige Biotech-Firmen in den letzten Monaten nicht untätig und haben ihr Know-how auf die neue Herausforderung angewendet. Wirkstoff-Kandidaten von Aicuris, Atriva Therapeutics, Inflarx und Immunic haben den langen und steinigen Weg der klinischen Prüfung bereits angetreten. Allein, es fehlt am nötigen Kleingeld, das Ganze bis zum Ende durchzuziehen.
Deshalb haben sich die vier Mittelständler zusammengetan und Anfang Dezember die BEAT-COV (Biotech Emergency Alliance for Therapies against COVID-19)-Initiative gestartet: „Wir können lebenswichtige Medikamente zur Behandlung von COVID-19-Patienten zur Verfügung stellen, aber wir benötigen signifikante Unterstützung bei der Finanzierung der Entwicklungs- und Produktionskosten – jetzt!“ Denn oft, so sagen die vier, wären die verfügbaren finanziellen Mittel (von privaten Investoren und Wagniskapital-Gebern) für ihre ursprünglichen Wirkstoff-Programme reserviert und könnten nicht so einfach umgeleitet werden.
Hohes Risiko
„Einige (...) Unternehmen haben schon sehr früh in diesem Pandemie-Jahr reagiert und Studien aufgesetzt, um die Wirksamkeit ihrer Medikamente gegen SARS-CoV-2 zu prüfen (…) Als mittelständische Unternehmen sind wir und unsere Mitarbeiter dabei ein hohes Risiko und bis an die äußerste Grenze unserer Belastbarkeit gegangen,“ sagt etwa Rainer Lichtenberger, Mitgründer und CEO von Atriva Therapeutics, in einer Pressemitteilung. Das Frankfurter Unternehmen ist spezialisiert auf antivirale Therapien und hat prophetischerweise bereits eine Substanz namens ATR-002 entwickelt. Diese stört die Replikation vieler RNA-Viren (wie Influenza-, Hantavirus, SARS-CoV-2) und lenkt gleichzeitig das Immunsystem in die richtigen Bahnen. ATR-002 ist ein MEK-Inhibitor, der beispielsweise das Grippevirus daran hindert, neue funktionale Viruspartikel zu bilden. Die Substanz steht kurz vor der Phase-2-Prüfung bei COVID-19.
Auch Inflarx aus Jena kann auf Vorwissen zurückgreifen. Allerdings liegt die Expertise der Thüringer nicht in der Behandlung von Virus-Infektionen, sondern von Entzündungserkrankungen wie Hidradenitis Suppurativa. Dafür manipulieren sie das körpereigene Komplement-System und zwar mit einem monoklonalen Antikörper (IFX-1 oder Vilobelimab) gegen die Komplementkomponente C5a, die, wenn losgelassen, das Immunsystem gehörig durcheinanderbringt. Im September ging’s in die Phase 3. Und „um diese notwendigen klinischen Studien schnellstmöglich zum Ende zu führen“, fordert CEO und Inflarx-Gründer Niels Riedemann, eine finanzielle Unterstützung von der Politik. „In der aktuellen Situation – mit steigender Belegung der Intensivstationen, langen Liegezeiten und kaum wirklich wirksamen Medikamenten – müssen wir schnell handeln und bereits vor der Zulassung eines Medikaments mit dem Aufbau von Produktionskapazitäten und Marktvorbereitungen beginnen.“
Ein Millionen-Fonds
Wie viel wäre nötig? Davon hat Aicuris-Geschäftsführer Holger Zimmermann eine genauere Vorstellung und empfiehlt die Einrichtung eines Fonds in Höhe von 500 bis 750 Millionen Euro. „Eine interdisziplinäre Expertenkommission soll die therapeutischen Projekte im Hinblick auf eine schnelle Umsetzbarkeit zugunsten erkrankter Patienten evaluieren“, schlägt er vor.
Aircuris selbst steht kurz vor Phase 2 mit dem Immunmodulator AIC649, der eigentlich das Hepatitis-B-Virus in Schach halten soll. Der Modulator ist eine, wie es auf Firmenseite heißt, „inactivated parapoxvirus particle preparation“ und stärkt das Immunsystem gegen eine Reihe von Viren aus unterschiedlichsten Familien. In einer früheren klinischen Studie mit Patienten, die an chronischer Hepatitis B leiden, erhöhte eine einmalige Gabe des Präparats die Plasma-Level immun-regulatorischer Cytokine wie IL-1β, IL-6, IL-8 und IFN-γ und senkte IL-10-Level. Aicuris betont, dass der Immunmodulator vor allem bei asymptomatischen Virusträgern eingesetzt werden könnte.
Glück mit einer baldigen Finanzierung könnten die Vierten im Bunde, Immunic, haben. Denn nur einen Tag vor der Veröffentlichung ihrer BEAT-COV-Initiative forderten CSU und Freie Wähler in einem Dringlichkeitsantrag, dass im Freistaat endlich der „Forschungsturbo in Sachen Medikamenten-Entwicklung gezündet“ wird. Und zwar mit 50 Millionen Euro für Firmen und Forschungseinrichtungen in Bayern.
COVID statt Colitis
Immunics Hauptquartier ist zwar, nach einem spektakulären Reverse Takeover letztes Jahr, in New York – die eigentlichen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten finden aber in Gräfelding, nahe München, statt. Und dort tüftelt man seit einiger Zeit an IMU-838, einem oral verfügbaren, selektiven Immunmodulator, der den intrazellulären Metabolismus aktivierter T- und B-Zellen inhibiert und zwar, indem er das Enzym Dihydroorotat-Dehydrogenase hemmt. Ursprünglich gedacht für die Behandlung chronisch entzündlicher Erkrankungen wie Multipler Sklerose und Colitis Ulcerosa, zeigte der Enzymblocker auch antivirale Fähigkeiten. Grund genug, ihn in einer Phase-2-Studie gegen eine moderate Form von COVID-19 zu testen. Ergebnisse werden im Frühjahr 2021 erwartet.
Bis dahin könnten mit bayrischer Staatshilfe womöglich weitere Unternehmen und universitäre Forschungsgruppen in die Fußstapfen von Immunic, Aicuris, Inflarx und Atriva treten. Vielleicht schließt sich auch noch das ein oder andere Bundesland oder gar der Bund an, damit weitere Turbos gezündet werden können. In diesem Sinne: VROUM!
Kathleen Gransalke
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