Wahrscheinlich unbedenklich
(21.12.2020) Es häufen sich Berichte über Autoimmunität nach SARS-CoV-2-Infektionen. Im Verdacht stehen Antikörper im Spenderplasma von Rekonvaleszenten.
Was macht COVID-19 so unberechenbar? Klar, das Protein ACE2, das vom SARS-2-Virus als Türöffner missbraucht wird, kommt in verschiedensten Zellen unterschiedlicher Organe vor. Damit hatte man eine plausible Erklärung zur Hand, warum COVID-19 sich häufig auch jenseits der Atemwege bemerkbar macht. Das war zu Beginn der Pandemie. Schnell aber war umstritten, inwiefern das Virus tatsächlich andere Organe befällt und dort repliziert. Umso mehr geriet das Immunsystem als Mittäter in den Fokus der Forscher.
Inzwischen gilt als sicher, dass das Immunsystem selbst bei milden Verläufen noch monatelang auf Trab gehalten werden kann. Dem gehen wir in einem aktuellen Hintergrundartikel auf den Grund und stellen fest: Mehrere Fachpublikationen finden in den letzten Monaten Autoantikörper nach SARS-CoV-2-Infektionen. Diese könnten eine mögliche Erklärung liefern für Schädigungen an Organen, an die das Virus direkt wahrscheinlich nicht herankommt.
Doch gerade in jene Antikörper im Plasma genesener Patienten setzen Mediziner derzeit große Hoffnungen. Genauer: Es geht um die neutralisierenden Immunglobuline G (IgG), die einige Wochen nach einer Infektion in größerer Menge gebildet werden. Verabreicht man diese Antikörper rechtzeitig einem an COVID-19 erkrankten Patienten, sollte man eigentlich die Symptomatik abmildern und schwere Verläufe verhindern können. Was aber, wenn genau solche neutralisierenden IgG ganz nebenher auch an körpereigenes Gewebe binden und dort die Immunabwehr auf den Plan rufen? Könnte Rekonvaleszenten-Plasma die COVID-19-Symptome gar verschlimmern?
Den besten Antikörper finden
Beunruhigend liest sich in diesem Licht eine Arbeit aus Berlin: Ein Forscherteam hatte im Plasma genesener COVID-19-Patienten nach IgG gesucht, die SARS-CoV-2 möglichst gut neutralisieren können. Zehn Probanden spendeten Blut, und daraus gewannen die Forscher insgesamt 598 verschiedene Zellklone, die jeweils einen monoklonalen IgG gegen das neue Coronavirus produzieren. 40 dieser Antikörper erwiesen sich als hochwirksam gegen SARS-CoV-2. Diese Wirksamkeit lässt sich über Neutralisationstests zeigen: Man schaut, ob und wie effizient ein Antikörper die Infektion menschlicher Zellen mit dem Virus verhindert. An Mausgeweben entdeckten die Berliner Wissenschaftler aber auch, dass einige dieser neutralisierenden Antikörper an Gewebe aus dem Gehirn, Darm, Niere oder Herz binden. Möglicherweise zeigen diese IgG also auch im Menschen eine Autoimmunität (Cell, 183(4): 1058–69).
„Diese Entdeckung war ein interessanter Nebenbefund unserer Studie“, ordnet Erstautor Jakob Kreye die Daten ein und stellt klar: „Unsere Arbeit zielte primär darauf ab, die Antikörper zu identifizieren, die sich für eine therapeutische Anwendung am besten eignen könnten. Dabei selektierten wir nach ihren biophysikalischen Eigenschaften und wollten zusätzlich frühzeitig eine Bindung an körpereigenem Gewebe ausschließen.“ Tatsächlich fand das Team zahlreiche stark neutralisierende IgG ohne messbare Bindung an säugertypische Antigene. Und mit dem besten dieser Kandidaten wollen sie nun weiterarbeiten, um diesen für therapeutische Zwecke zu optimieren.
Kreye weist auf einen wichtigen Unterschied zwischen Rekonvaleszenten-Plasma und einem monoklonalen Antikörper hin: „Mit dem Rekonvaleszenten-Plasma werden ja sehr viele Antikörper in jeweils geringen Konzentrationen übertragen.“ Einzelne kreuzreaktive Antikörper wären dann wahrscheinlich zu vernachlässigen. Weil jeder Spender einen individuellen Antikörper-Cocktail produziert, gibt es nicht das Rekonvaleszenten-Plasma gegen COVID-19, eine immer gleiche Qualität lässt sich nicht sicherstellen.
Anders bei einem monoklonalen Antikörper, der sich theoretisch über lange Zeit in größeren Mengen herstellen lässt: Hier hat man einen definierten Wirkstoff in hoher Konzentration statt vieler gering konzentrierter Antikörper mit unterschiedlichen Eigenschaften. Aber: „Wenn ich den falschen monoklonalen Antikörper auswähle, könnte der natürlich auch mögliche Nebenwirkungen sehr potent entfalten“, so Kreye. Somit ist das genaue Wirkprofil mit allen möglichen unerwünschten Effekten bei monoklonalen Antikörpern besonders wichtig. Ob und inwiefern kreuzreaktive Antikörper aber für einzelne Symptome bei COVID-19 relevant sind, lasse sich allein aus dieser Publikation nicht schlussfolgern, betont Kreye: „Es gibt diese Antikörper, aber wir wissen noch nicht, welche Rolle sie spielen.
Bekanntes Phänomen
In Berlin arbeitet Kreye am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und als Arzt in der Charité. Im normalen Arbeitsleben fernab der Pandemie interessieren ihn genau solche Immunprozesse, die sich gegen den eigenen Organismus richten. „Eigentlich beschäftige ich mich mit Autoantikörpern im zentralen Nervensystem“, erklärt er und bestätigt, dass man tatsächlich Erreger kenne, die die Bildung funktionell relevanter Autoantikörper provozieren können. So löse eine Infektion mit Campylobacter-Bakterien manchmal das sogenannte Guillain-Barré-Syndrom aus. „Das ist eine neurologische Erkrankung, bei der es zu einer aufsteigenden Paralyse, also wenn man so will, zu einer aufsteigenden Muskelschwäche kommt“, fasst Kreye zusammen.
Auf besagten Bakterien sitzen Moleküle, die körpereigenen Strukturen ähneln und es wohl damit den Immunzellen erschweren, die Eindringlinge zu erkennen. Man spricht von molekularer Mimikry. Reagiert das Immunsystem dennoch auf jene Antigene, können die darauf passenden Antikörper auch an körpereigene, in diesem Fall neuronale Strukturen binden und so die Immunabwehr auf den Plan rufen. Für SARS-CoV-2 ist solch eine Mimikry aber bislang nicht gezeigt. Grundsätzlich seien autoreaktive Antikörper kurz nach einer Infektion nicht zwangsläufig dramatisch, beruhigt Kreye. „Das Immunsystem entscheidet immer wieder neu, welche Antikörper erhalten bleiben, welche modifiziert und welche herausselektiert werden.“
Auch Thomas Kreil hält die Gabe von Rekonvaleszenten-Plasma für unbedenklich. Kreil leitet bei Takeda die Abteilung Globale Pathogensicherheit in Wien und hat uns bereits im Frühjahr vom Plan berichtet, aus Plasma Antikörper zu gewinnen und gegen COVID-19 einzusetzen. Takeda setzt dabei weder auf monoklonale Antikörper noch auf die Gabe von Rekonvaleszenten-Plasma. Stattdessen reichern sie Immunglobuline aus dem Plasma vieler hundert Spender an. Kreil spricht von einem „Hyper-Immunglobulin“. Auch wenn sich die exakte Zusammensetzung dieses Cocktails über die Monate ändert, lasse sich eine gleichbleibende Qualität halten, versichert Kreil: „Wir definieren die Wirkmächtigkeit unseres Hyper-Immunglobulins über die Konzentration neutralisierender Antikörper. Unser Produkt muss diesbezüglich innerhalb einer engen Spannbreite liegen, und damit stellen wir sicher, dass wir reproduzierbar ein Medizinprodukt mit gleicher Wirkmächtigkeit bekommen.“ Zu möglichen autoimmunen IgG erklärt Kreil, dass diese jeweils massiv verdünnt seien.
Risikoarmes Plasma
Die Plattform für die Produktion des Antikörper-Präparats existiert schon seit 15 Jahren, erklärt Kreil. Die Zulassung für Studien mit COVID-19-Patienten waren daher auch unproblematisch, da ja ein zuvor etabliertes Medizinprodukt zum Einsatz kommen sollte. Allerdings musste erst einmal genügend Spenderplasma genesener COVID-19-Patienten zusammenkommen. „Im Oktober haben wir den ersten Patienten mit dieser neuen Medikation behandelt“, freut sich Kreil. Einen Zwischenstand zur Wirksamkeit kennt Kreil derzeit aber noch nicht, weil die Studie doppelblind läuft.
Wären autoimmune IgG bei Plasmaspenden tatsächlich relevant, hätte das Phänomen aber bereits auffallen müssen, stellt Kreil im Hinblick auf aktuelle Publikationen zu Antikörpern gegen Interferon-1 fest (z.B. Science, 370(6515): eabd4585). Personen mit diesen Antikörpern sind wohl häufiger von schweren COVID-19-Verläufen betroffen, allerdings produzieren sie diese IgG von Geburt an. „Solche Antikörper hätten wir also im normalen Spenderplasma auch vor der Pandemie schon gehabt, und daher ist das sicherlich nicht bedeutsam für die Sicherheit dieser Präparate.“ Mit Blick in die USA merkt Kreil an: „Dort sind mittlerweile über 100.000 Transfusionen mit Rekonvaleszenten-Plasma durchgeführt worden, und bislang gibt es keinerlei Evidenz für irgendwelche autoimmunen Zwischenfälle.“
Es liegen also durchaus plausible Indizien auf dem Tisch, dass Autoimmunität vor allem im Zusammenhang mit schweren COVID-19-Verläufen eine Rolle spielt. Beweise stehen aber noch aus. Nach den bisherigen Erkenntnissen stellen Antikörper gegen eigene Gewebe aber wohl keine Gefahr für den Empfänger von Rekonvaleszenten-Plasma oder daraus gewonnenen Antikörper-Cocktails dar. Für Wirkstoffe aus monoklonalen Antikörpern muss man eine mögliche Autoimmunität aber auf jeden Fall ausschließen.
Mario Rembold
Bild: Uniklinikum Jena/Rodigast