Arbeitszeitregelung - Dienstvereinbarung Soll & Minder

Axel Brennicke


Editorial

(01.06.2006) Gibt es irgendwo eine Vorschrift, dass jeder Betrieb ab einer gewissen Größe eine Arbeitszeitvereinbarung haben muss? An der Universität Ulm zumindest haben sich mehrere hoch qualifizierte Leute zusammengesetzt, um eine solche auszuarbeiten – sehr zum Leidwesen derer, die ihre Arbeitszeit nicht über Formulare gebeugt verbringen wollen.

„Sehr geehrter Herr Brennicke, hiermit beantrage ich, am 3.6.2006 meine Mittagspause ausnahmsweise außerhalb der erlaubten Zeit erst um 14.30 – 15.00 Uhr nehmen zu dürfen, da ich während der Sollpausenzeit zwischen 11.30 – 14.00 Uhr eine Saccharosegradientenzentrifugation stoppen und Fraktionen abnehmen muss. Ich bitte um rechtzeitige Mitteilung Ihrer Entscheidung. Vielen Dank für Ihr Verständnis,
TA XX (BAT VI, Vollzeit)“

„Sehr geehrter Herr Brennicke, hiermit beantrage ich, am 3.6.2006 statt der mir erlaubten Arbeitszeit von 4 Stunden ausnahmsweise 8 Stunden arbeiten zu dürfen, da ich Gelanalysenläufe von RNA machen und diese Gele für Northern-Blots ansetzen muss. Dies wird leider mehr als 4 Stunden kontinuierlicher Arbeitszeit erfordern. Ich bitte um rechtzeitige Entscheidung. Vielen Dank.
Doktorand XY (BAT IIa, Halbzeit)“

Editorial

„Dear Axel, I do not understand what I have to do, can I still work here? Is it true that I can work only 4 hrs a day from now on? I want to work all day as usual and also come to the lab sometimes Saturdays and Sundays. I like working in the lab, this is why I am here. Work in the lab is better than TV. Will I get punished and thrown out of Germany?
Doktorand Kung Fu (BAT IIa by DFG via University, Half pay)“

Das Neue Leben

So beginnt ein typischer Tag in meinem neuen Leben ab dem 1.1.2006. Na ja, das ist nicht ganz richtig: Der interne Postverkehr brachte mit erst vier Wochen später die Nachricht, dass das Arbeiten an der Universität endlich geordnet wird. In dem Brief geht es um »Arbeitszeitregelung«. Schreiben und beigelegtes Merkblatt wurde gerichtet „An alle Beschäftigte“ und „gilt für alle Beschäftigten der Universität ... mit Ausnahme der Hochschullehrer“.

Da ich als Hochschullehrer (!?) klassifiziert werde, gilt diese Regelung nicht für mich, aber leider (?!) fungiere ich als Vorgesetzter für einige Angestellte und muss nun bei der Umsetzung dieser Dienstvereinbarung täglich mehrere Anträge wie die eingangs angeführten Beispiele prüfen und genehmigen oder ablehnen.

Außerdem muss ich die neuentwickelten Formulare nach dem Ausfüllen auf ihre Richtigkeit durchsehen – oder vielleicht nur unterschreiben? Das Zitat dazu: „Die Arbeitszeit ist von jedem Beschäftigten auf einem Arbeitszeiterfassungsbogen monatlich zu dokumentieren und vom Vorgesetzten abzuzeichnen.“ Vielleicht wird das in der Zukunft einmal klarer, man muss nur noch ein paar Monate Geduld haben und neue Regelungen nicht gleich ab dem Tag ihrer Gültigkeit befolgen wollen: „Nähere Erläuterungen reichen wir in Kürze nach.“ und „Der elektronische Vordruck wird derzeit überarbeitet und angepasst.“ Der jetzige, dem Brief beigelegte Vordruck, wirkt aber schon sehr professionell und könnte anderen Universitäten als Muster dienen und dort viele langwierige Diskussionen sparen.

Durchfallzeitregistrierung

Was in die Spalten einzutragen ist, möchten Sie gern wissen? Das ist ganz einfach: 1 ist der Tag, der schon von 1 bis 31 durchnumeriert ist. In die Spalten 2 und 3 muss der Untergebene den Beginn beziehungsweise das Ende der Arbeitszeit am jeweiligen Vormittag eintragen, in die Spalten 4 und 5 entsprechend für den Nachmittag. Aus den Spalten 2, 3, 4 und 5 errechnet man nun die Tagesarbeitszeit für Spalte 6. In Spalte 7 ist die »Ausfallzeit« einzutragen (dieser Schreibfehler wird sicher in dem überarbeiteten Fragebogen zu dem logischen »Durchfallzeit« korrigiert werden). In Spalte 8 ist ein »Grund« einzutragen, wobei unklar bleibt, wofür dieser Grund dienen soll. In Spalte 9 ist jeweils die Sollarbeitszeit einzutragen, wobei unklar bleibt, was sich dabei von Tag zu Tag außer an den Wochenenden verändern soll.

Auf dem Formular gibt es auch noch mehrere Unterschriftenmöglichkeiten, wovon, wie es sich gehört, den Bediensteten nur eine Unterschrift zusteht, während der jeweilige Einrichtungsleiter zweimal genehmigen und einmal ein »Gesehen« bestätigen kann, und so auf insgesamt drei Unterschriften pro Blatt Arbeitszeitnachweis kommt.

Keine Angst, ich will Ihnen nicht den ganzen neunseitigen Text der Dienstvereinbarung, nicht den zweiseitigen Brief und auch nicht das ungekürzte Merkblatt zumuten und zitieren, die eigentlich ohne zusätzliche Kommentare hier stehen könnten. Ich bin nur froh, dass ich endlich die wichtigsten Kernbegriffe zur Arbeitszeit gelernt habe. Jetzt kann ich souverän unterscheiden zwischen: Arbeitszeit, Sollarbeitszeit, Kernarbeitszeit, Rahmenarbeitszeit, Mehrarbeitszeit und gleitender Arbeitszeit und weiß, dass Minderarbeitszeit was ganz anderes ist als Mindestarbeitszeit.

Ich habe aber auch gelernt, dass ich für einige Kernpunkte leider zu minderbemittelt bin und sie erst durch erhebliche Mehrarbeitszeit verstehen werde. Wie zum Beispiel der Arbeitszeitausgleich funktioniert, werde ich sicher erst in den nächsten Monaten anhand von praktischen Beispielen kennen lernen: „In die Kernarbeitszeit darf monatlich 10 Mal eingegriffen werden; wobei 1 Tag gleich 2 Eingriffen entspricht. Maximal dürfen 5 ganze Tage im Monat und 24 ganze Tage im Kalenderjahr genommen werden.“

Hatte da jemand nebenher im Katalog für Herrenwäsche geblättert und sich in das Wort Eingriff verliebt? Die Autoren waren sich der Komplexität der Materie zum Glück bewusst und so finden sich in dem »Merkblatt« weitere Erläuterungen dazu: „Ein Arbeitszeitausgleich unter Inanspruchnahme der Kernarbeitszeit ist bis zu zehnmal monatlich zulässig. Der Arbeitszeitausgleich kann bis zu fünf ganzen Tagen zusammengefasst werden [???]. Innerhalb des Kalenderjahres dürfen höchstens 24 ganze Tage als Arbeitszeitausgleich genommen werden [was denn nun, 5 oder 24?]. Wird an einem Tag auf Grund von Arbeitsausgleich [Arbeitsausgleich oder Arbeitszeitausgleich?] kein Dienst geleistet, sind zwei Ausgleichsmöglichkeiten nach Satz 1 verbraucht [???]. Dies gilt auch für Freitage.“ [Am Freitag hat man auch zwei Ausgleichsmöglichkeiten nach Satz 1 verbraucht? Einfach futsch?].

Verkompliziertes System

Genug! Jetzt habe ich auch noch Ihre Zeit mit diesem typisch deutschen Unfug gestohlen. Was soll das alles? Wahrscheinlich gibt es irgendwo eine Vorschrift, dass jeder Betrieb ab einer gewissen Größe eine Arbeitszeitvereinbarung haben muss. Und nun haben sich an der Universität mehrere hoch qualifizierte Leute Stunden und Tage zusammengesetzt, um diese Glosse auszuarbeiten. Ich kann nur vermuten, dass der Sinn sein soll, mehr Kontrolle über die Mitarbeiter zu bekommen.

Dabei wird typisch deutsch vergessen, dass zu viel Kontrolle gegen das mögliche Ausnutzen einer gewissen Freiheit durch Wenige unendlich Viele lahm legt. Der spießig-deutsche Anspruch, perfekt zu sein, alles bis in die letzte Minute organisieren zu können, schießt weit über Ziel hinaus.

Wie überall wird das vernünftige Maß vergessen, dass Kontrolle bis in das kleinste Detail viel zu aufwendig und kompliziert ist: Analoges wird lautstark gerade bei den Hartz-Gesetzen und – eher verschwiegen und heimlich – beim Eintreiben der Steuern durchgeführt. Und das bei Hartz- und Steuergesetzen, die so kompliziert sind, dass nicht einmal die Fachleute in den Finanzämtern oder ABM-/ALG-Zentralen durchblicken.

Wie überall werden auch an der Universität die wenigen Arbeitsunwilligen beliebig viel Energie einsetzen, um auch die kompliziertesten Regeln zu umgehen. Das darf man nie vergessen: es sind wirklich nur wenige. Natürlich sehen diese dabei nicht ein, dass es weniger Arbeit (und Nerven) erfordert, normal zu arbeiten, als sich trickreich um eine Stunde hier und eine Stunde dort zu drücken. Aber das ist ein anderer Aspekt. Dagegen muss man von den Gesetzgebern und Regelmachern wenigstens soviel Reflexion und Denkfähigkeit erwarten dürfen, dass sie einigermaßen objektiv die Verhältnismäßigkeit der Mittel beurteilen können.

Autonome ABM-Maßnahmen

Irgendwo haben offensichtlich einige Leute zu viel Zeit und zu wenig zu tun: autonome ABM-Maßnahmen. Das Schlimme ist, dass andere, die sowieso genügend (hoffentlich produktivere) Arbeit vorhaben, für diese Selbst-Beschäftigungen zusätzlich arbeiten müssen.

Was soll ich tun? Ich bin nur ein kleiner Ausführender der Verwaltungsvorschriften, der unter Eid zugesagt hat, dem Staat zu dienen, und jetzt zufällig ein paar Untergebene hat, die er nun bis in die letzte Minute ausspionieren soll (formal Untergebene, in Wirklichkeit sind die meisten viel dynamischer und pfiffiger als der jammernd vergreisende Lehrstuhlbesetzer).

Aber jetzt kommt endlich wieder Dynamik in das Geplänkel: der nächste Brief mit einem neuen Antrag eines meiner Untergebenen (mir war an meinem Schreibtisch über der Arbeitszeitvereinbarung und den Formularen schon richtig langweilig geworden):

„Sehr geehrter Herr Brennicke, hiermit beantrage ich, am 3.6.2006 ausnahmsweise mehr arbeiten zu dürfen, da die Vorbereitungen für das anstehende Praktikum mit 115 Studenten während der normalen Sollarbeitszeit nicht zu schaffen sind. Bei dem Arbeitszeitausgleich dieser Mehrarbeit versichere ich, mich an die entsprechenden Vorschriften zu halten, insbesondere den §: „Minderarbeitszeiten sind bis zur Höhe der individuellen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit zulässig.“ Letztere werde ich durch die Minderarbeit nicht überschreiten.

Hochachtungsvoll [kleiner Scherz, oder?], TA XX (BAT VII, Halbzeit)“.