Kapazität statt Qualität

Axel Brennicke


Editorial

(01.06.2007) Die Qualität der Ausbildung an deutschen Unis soll verbessert werden. Das ist gut. Der richtige Weg dorthin aber ist umstritten: mehr Studenten bei weniger Lehrenden, willkürliche Orientierungsprüfungen und Verlängerung der Studienzeit überzeugen nicht jeden.

Mit einstudiertem Standard-fotogenen Lächeln beschwören unsere Politiker die Qualität in der Lehre an den Universitäten und klopfen sich selbstzufrieden auf die Schultern, mit denen sie entscheidende Maßnahmen auf den Weg gestoßen haben wollen. In der Tat haben sie etwas erreicht: Rankings, Evaluierungen und Akkreditierungen bewerten Lehre und Lehrende und halten Letztere von Ersterem ab. Das System der Vorgaben und Meßmethoden ist inzwischen so kompliziert geworden, dass sich die Maßnahmen gegenseitig behindern.

Derzeit wird die Organisation des Studiums grundlegend geändert: Das Bachelor und Mastersystem wird eingeführt. Dessen Haupteffekt dürfte die Verlängerung der Studienzeit sein. Zum Master braucht man zehn Semester Regelstudienzeit, zum alten Diplom nur acht Semester. Zwar wollte man eigentlich das Gegenteil und dies schon seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erreichen, aber man soll nicht alles schwarz sehen: Die Verlängerung der Studienzeit könnte die Qualität der Ausbildung von Studenten an den deutschen Universitäten verbessern. Themen könnten vertieft, die Horizonte der Studenten erweitert werden; kurzum das deutsche Universitätssystem könnte den amerikanischen Professoren noch bessere Hilfskräfte liefern und damit das Ansehen Deutschlands steigern.

Editorial
Entscheidungshilfe

Mit der Verlängerung der Studienzeit ist es nun noch wichtiger geworden, den Studenten bei der Wahl des für sie am besten geeigneten Studienfachs zu helfen. Der von der zu Tränen gerührten Mutter gerahmte und vom stolzgeschwellten Vater im verlassenen Jugendzimmer aufgehängte Zettel mit der goldgeprägten Aufschrift „Abitur” gibt den Jungstudenten leider keine Hilfe bei der Entscheidung zwischen Studienfächern wie „Politische Steuerung und Koordination”, „Wirtschaftspädagogik” oder „Formierung der europäischen Moderne”.

Da kann es leicht geschehen, dass ein Student anfängt, Biologie zu studieren, weil sie oder er schon zwei Meerschweinchen, drei Zwerghasen und eine Schildkröte überlebt hat. Ihre oder seine Begabung liegt aber nicht im Ansetzen von molaren Lösungen, sondern in der „Slawistik” oder dem Studiengang „Medien und Kommunikation”. Eine gute Lehre sollte den frisch gebackenen Studenten diese Einsicht zu ermöglichen.

Zu diesem Problem wurde in den letzten Jahren in Baden-Württemberg eine politische Vorgabe etabliert, die im Prinzip eine gute Sache ist und dazu beitragen könnte, auch entscheidungsunfreudigen Studenten bei der Umorientierung zu helfen. Dies notfalls mit Gewalt. Es handelt sich um die so genannte „Orientierungsprüfung” nach dem zweiten Semester. Sie soll suboptimal orientierten Studenten zeigen, dass sie sich in einem anderen Studienfach besser verwirklichen können.

Die Orientierungsprüfung sichert auch die Qualität des Studiums. Sie verhindert, dass Studenten mit Begabungen, die außerhalb ihres Studienfachs liegen, durch Verständnisprobleme und daraus resultierender Unzufriedenheit das Niveau der Lehrveranstaltungen senken. Mit anderen Worten: Wer das Falsche studiert, wird oft zum Meckerer, und entwickelt das unstillbare Bedürfnis, auch andere zum Meckern zu bringen. Darunter leiden jene Studenten, die sich richtig entschieden haben. Die Orientierungsprüfung ist also eine gute Sache. Die Lehrkräfte an der Universität sind willig und bereit, den Studenten zu helfen und würden gerne das Niveau der Lehre an der Universität hochhalten beziehungsweise verbessern.

Doch in der Universitätspolitik wird eine gute Maßnahme oft von einer gutgemeinten konterkariert. Hier ist es das ministerialbürokratische Verständnis von „Qualitätssicherung”: Das Ministerium für Bildung und Forschung bemisst und „belohnt” die „Qualität” der Lehre über die Zahl der Studienabbrecher! Jeder Student, der vorzeitig sein Studium abbricht und nicht bis zum Diplom, Bachelor oder Master durchhält, ist eine rote Karte für die Lehre in diesem Fach. Für jeden Studienabbrecher weist das Ministerium der Universität erklecklich weniger Geld zu. Das Ministerium kassiert also ein Bußgeld für jeden Studenten, die oder der ihr oder sein Studium vorzeitig abbricht.

Fehlorientierter Nachwuchs

Da nun aber selbst Universitätslehrer über eine gewisse Restintelligenz verfügen, bedeutet das, dass sie bei der Orientierungsprüfung in die Versuchung geraten, zu schummeln. Sie werden einem ungeeigneten Studenten verschweigen, dass seine Begabung wahrscheinlich in einem anderen Fach liegt. Sie werden die Orientierungsprüfung so gestalten, bewerten und korrigieren, dass möglichst viele Studenten das Maximum an richtigen Antworten erreichen und nicht durchfallen. Das gleiche gilt natürlich für alle folgenden Prüfungen bis hin zum Diplom, Bachelor oder Master. Lehrende, die sich stur stellen und die Lehrqualität auf einem gewissen Niveau halten oder gar verbessern möchten, werden scheel angesehen. „Kollegenschwein”, ist das gängige Schimpfwort.

Ein anderes Beispiel für politische Fehlsteuerungen der Lehrqualität ist das Verhältnis der Zahl der Lehrenden zur Zahl der Lernenden. Je mehr (gute) Lehrende auf einen Lernenden kommen, umso intensiver und damit besser ist die Ausbildung der Studenten. Die Wirklichkeit sieht an den Universitäten (ebenso wie an den Schulen) anders aus: Obwohl im Nachklang zu Pisa der Prozentsatz an Studierenden eines Jahrgangs gesteigert werden soll, wird gleichzeitig die Zahl der Lehrenden an den Universitäten verringert: Insgesamt sind in Deutschland in den letzten Jahren 1.500 Professorenstellen weggefallen. So wurde zum Beispiel an meiner Universität allein im letzten Jahr die Zahl der Professoren in der Botanik um die Hälfte verringert.

Strafe für gute Lehre?

Bürokratische Tricks erlaubten es, dennoch mehr Studenten auf die Universitäten loszulassen. Der einfachste und bekannteste Trick ist, den Anteil der Lehre an den Kernaufgaben der Hochschullehrer und gleichzeitig ihre Wochenarbeitszeit zu erhöhen. Eine solche Verlängerung der Arbeitszeit für die Lehrenden können sich nur Leute ausgedacht haben, die einen Neun-bis-fünf-Arbeitstag haben und nie in die Versuchung kamen, sich auf eine Stelle als Hochschullehrer zu bewerben. Weder mit 37,5 noch mit 42 Stunden Wochenarbeitszeit wird sich irgendjemand mit einem IQ von weniger als Einstein für eine Hochschullehrerstelle qualifizieren können.

Die Arbeitszeit in der Lehre wurde nur verlängert, um bei weniger Lehrpersonal mehr Studenten aufnehmen zu können. Nach den berüchtigten, hochkomplexen Kapazitätsverordnungen wird die Studentenkapazität einer Universität oder eines Faches in schwierigen Kalkulationen nach der Zahl der Professoren des jeweiligen Fachs berechnet. Diese Kapazitätsberechnung ist so kompliziert, dass spezialisierte Anwälte besonders in den medizinischen Fächern immer wieder die Gerichte über-fordern und regelmäßig zu unterschiedlichen Urteilen provozieren können.

In der Kapazitätsberechnung lassen sich daher leicht weitere Tricks verstecken. Ihr Vorteil ist, dass sie den zahlenden Studenten nicht auffallen. Ein kleines Beispiel: Es gibt hervorragende Lehrer und Forscher die, wegen der vielen weggefallenen Professorenstellen oder weil sie die mit einer Professorenstelle verbundene überbordende Bürokratie scheuen, lieber als wissenschaftliche Angestellte arbeiten und so die Qualität von Lehre und Forschung an der Universität hochhalten. Diesen Leuten kann die Universität für ihre gute Arbeit und ihr Engagement den Titel eines außerplanmäßigen Professors verleihen.

Diese Anerkennung kann aber dank der Kapazitätsberechnung ein Problem für das Fach, die Universität und die Qualität in der Lehre werden: Der in den Kernaufgaben Lehre und Forschung besonders gute Mitarbeiter war gestern wissenschaftlicher Angestellter und ist heute als apl. Prof. immer noch wissenschaftlicher Angestellter mit einem gleich langen Tag. Nach den Kapazitätsvorgaben des Ministeriums für Wissenschaft und Forschung aber steigt durch einen apl. Prof. die Lehrkapazität und es werden für dieses Studienfach mehr Studenten zugelassen.

Mit anderen Worten: die Universität und besonders die betreffende Fakultät werden dafür bestraft, dass sie gute wissenschaftliche Mitarbeiter für die Universität gewonnen und gehalten haben: Alle müssen mehr Studenten unterrichten. Auch die Studenten werden dafür bestraft, dass sie an dieser Universität bisher gut unterrichtet wurden. Die Klassen werden vergrößert, die Einrichtung in den Praktikumsräumen bleibt aber die alte; es steht kein Mikroskop und keine Pipette mehr zur Verfügung als vor der Anerkennung der besonderen Leistung eines Lehrers durch die Verleihung des Titels apl. Prof.

Laut Verordnung (LVVO) müssen Assistenten im Schnitt vier Stunden Lehre machen, die Professoren aber neun Stunden, wobei Letztere ausschlaggebend für die Zahl der Studenten sind. Die Studenten, deren Universitäten Schlaffis als Assis geheuert haben, sind theoretisch besser dran. Die Schlaffis mit ihren vier Stunden Lehre könnten die gleiche Zahl Studenten intensiver betreuen – wenn sie eben keine Schlaffis wären. An den deutschen Universitäten ist offensichtlich ein die Lehrqualität selbst regulierendes System eingebaut worden – dumm nur, dass es nach unten reguliert.

Interessanterweise zählen apl. Profs., die nicht als wissenschaftliche Mitarbeiter an der Universität angestellt sind, sondern den Titel für ihr Engagement für die Hochschule oder für Spenden erhielten, nicht für die Kapazitätsberechnungen. Solche apl. Profs kann die Universität also beliebig viele verleihen – aber leider bekommen die Studenten dafür auch keine Hilfe in der Lehre und Ausbildung.