Rückkehr der alten Muffigkeit

Axel Brennicke


Editorial

(08.02.2008) Verstaubte Zöpfe hervorziehen und als Fortschritt verkaufen scheint das Alleinstellungsmerkmal unserer Wissenschaftspolitik zu sein. Selbst die mittelalterlichen, nach altvorderem Schnittmuster in Auftrag gegebenen Talare kommen wieder in Mode: Bei den „neu“ eingeführten Zeremonien für die neuen „Bachelor“, die wundersam besonderen Master und die glorreich zu Ende gequälte Doktorarbeit.

Diese Investition in die auch privat – zum Beispiel an Fasching – nutzbaren Kleidungsstücke zahlt sich aus, da sie die Ehemaligen fester an die wieder ins Leben gerufenen Clubs der Alumni bindet, der Universität über die erhobenen Beiträge Geld bringen und einen gewissen Spendendruck erzeugen.

Vorwärts in die Vergangenheit

Medienwirksam hat sich die Wiedereinführung der Studiengebühren abgespielt. Vor etwa fünfzig Jahren waren die an der Leistung der Professoren orientierten „Kolleggelder“ abgeschafft worden, um gleiche Bildungschancen für alle Studenten zu gewährleisten (Siegfried Bär, „Die Zunft“, Lj-Verlag 2003, S. 320).

Editorial

Damals allerdings zahlten die Studenten für eine Vorlesung oder ein Seminar jeweils eine bestimmte Gebühr. Lehrer, die interessante Vorlesungen über genetische Manipulation von Tieren oder Pflanzen gestalteten, bekamen daher mehr Geld von den Studenten, als jene, die einschläfernd über die Nukleotidsequenz ihres letzten pUC-Plasmids oder den Generationswechsel eines Mooses aus der Tundra auf dem siebten Berg rechts neben dem Matterhorn vorlasen.

Die derzeit eingeführten pauschalen Studiengebühren leisten das nicht, dennoch werden sie als leistungsorientiert verkauft. Zudem bleibt bei ihnen unberücksichtigt, dass experimentelles Lernen wie in der Chemie oder Biologie teurer ist als eine Massenveranstaltung für Germanisten. Das wird die Bildungspolitiker nicht davon abhalten, die Gebühren nach und nach zu erhöhen und dies mit Phantasie entweder zu verstecken oder geschickt zu begründen: Die Geldnot wird sich durch weitere Kürzungen der Bildungs- und Ausbildungsetats verschärfen und nur durch Gebührenerhöhungen notdürftig ausgeglichen werden können.

Ein weiterer abgestaubter Zopf ist die Studienplatzvergabe durch die einzelne Uni. Vor nur vierzig Jahren, als immer mehr Studenten in die Unis drängten und diese massive Probleme mit den vielen Bewerbungen hatten, wurde zuerst für die Medizin eine zentrale Studienplatzvergabe eingeführt, bald umbenannt in die ZVS, die zentrale Vergabestelle für Studienplätze in Dortmund.

Vorteile der Zentralen Vergabe

Fächerspezifisch wurde zwischen 1967-1972 nach und nach die Flut der Bewerbungen zur ZVS gelenkt. Dort wurden die Leistungen der Bewerber einheitlich und standardisiert bewertet und nach für alle gleichen Kriterien gewichtet und sortiert. Dieses System hatte Vorteile:

  1. Der künftige Student musste seine Unterlagen und Wunschliste nur an eine Stelle senden. Das sparte ihm die Mehrfachbewerbungen an verschiedenen Unis für die gleichen Fächer. Vor der ZVS verschickte jeder Möchtegern-Student zwanzig bis dreißig Bewerbungen an ebensoviele Unis.
  2. Die angehenden Studenten wussten schon lange vor Beginn des Semesters, wo sie mit welchem Fach angekommen waren, in welcher Stadt sie sich ein Zimmer suchen mussten und welches Geschenk sie von dieser Stadt bekamen, wenn sie sie als Erstwohnsitz anmeldeten.
  3. Die ZVS garantierte Gerechtigkeit, da gleiche Parameter für alle Bewerber und für alle Unis galten. Die Verwandtschaft mit Lehrkräften an einer Uni gab keinen Vorteil mehr.
  4. Die ZVS bot den Studenten eine bessere Übersicht über die Studienmöglichkeiten und die Auswahlkriterien. Sie konnten besser abschätzen, wie ihre Chancen an welcher Uni stehen.
  5. Die ZVS lieferte eine klarere und bessere Übersicht über die Wünsche und Vorstellungen der angehenden Studenten für die Unis und für die Politik. Diese zeigte, welche Note in welcher Uni ausreichte, wie groß wo der Andrang war, wie viele Physiker, Chemiker oder Ingenieure es in den nächsten Jahren geben würde.

Die alte Leier

Jetzt kehrt man in die Zeit der Nierentische zurück. Mit dem Argument, dass die Unis die Freiheit haben sollten, sich die besten Studis selbst auszusuchen, werden die alten Probleme als Fortschritt deklariert und wieder angeschafft. Dabei wird nichts aber auch gar nichts verbessert, die Studis müssen sich wieder quer durch das Land bewerben, Porto zahlen und Papier versenden, und wissen Anfang Oktober, oft genug auch Ende Oktober noch nicht, wo sie ab Mitte Oktober lernen dürfen...

Diese Verzögerung kommt wie vor fünfzig Jahren dadurch zustande, dass von hundert potenziellen Studenten, die sich an zehn Unis bewerben, an allen zehn Unis die gleichen zehn Besten erkannt werden und einen Zulassungsbescheid zugeschickt bekommen. Nach einer angemessenen Frist von einigen Wochen müssen diese zehn besten Bewerber den Unis ihrer Wahl eine Zusage schicken. Das machen sie bei einer Uni, den anderen neun schicken sie entweder eine Absage oder nichts. Wenn diese neun Unis gemerkt haben, dass keiner kommt, schicken sie an die zehn zweitbesten Bewerber eine Zusage und das Spiel geht von vorne los. Wie bei manchen Kinderspielen ist der letzte der Dumme.

Hier sind es gleich zwei: Die letzte Uni und die Studenten, die auf einem strengeren Gymnasium waren, wo es keinen Durchschnitt von 1,0 gab. Sie werden erst in der dritten, vierten oder fünften Runde von den Unis angeschrieben. Dann ist der Sommer vorbei und die jungen Leute haben bei der ersten großen eigenständigen Planung ihres Lebensweges die deutsche Bürokratie kennen gelernt.

Die Flut kehrt zurück

Natürlich schicken die potenziellen Studenten heute wie vor vierzig Jahren zwanzig bis dreißig Bewerbungen parallel los. Das kann ihnen niemand verdenken. Das habe ich damals auch gemacht. Schließlich kann man nie wissen, ob die Lieblings-Uni einen auch in dem Lieblingsfach haben will.

Die Zahlen sind nicht aus der Luft gegriffen. An der Ulmer Uni sind zum letzten Semester für 80 Studienplätze mehr als 800 Bewerbungen eingegangen. Dabei muss man berücksichtigen, dass traditionsreiche und Eliteunis attraktiver sind als die gerade mal vierzig Jahre alte Hochschule, an der vorwiegend Schwaben in Schwäbisch unterrichtet werden.

Zum Glück haben an den Unis die Schwierigkeiten mit der Bewerbungsflut derart überhandgenommen, dass jetzt diskutiert wird, ob man sich nicht freiwillig wieder bei der ZVS anmeldet. Einige Unis wie Aachen und Münster sind so schlau gewesen, dies von vornherein zu tun.

Waren die Argumente für die Einrichtung der ZVS und die Leute, die sie erdacht haben, blöd? Oder sind es die Erfinder der heutigen dezentralen Bewerbung? Kommen Sie mir nicht damit, dass man heute viel weiter sei als damals und die Situation ganz anders. Zwei und Drei gibt Fünf – heute genauso wie vor vierzig Jahren.

Intelligent wäre es, die Vorteile der Entscheidungsgewalt der Unis mit den Vorteilen der zentralen Registrierung zu verbinden. Aber dazu fällt anscheinend niemandem etwas ein.

Auf die Presse ist auch kein Verlass mehr, nicht einmal auf Zeitungen, die von sich behaupten, sie hätten einen hohen Anspruch. So erschien in Die Zeit am 25.10.2007 ein Artikel unter der Überschrift: „Chaos! Seit sich die Universitäten ihre Studenten selbst aussuchen können, bewerben die sich doppelt und dreifach – mit unerwarteten Folgen.“

Unerwartete Folgen? Wer so etwas schreibt, hat sich keine Gedanken gemacht oder Angst, sich unbeliebt zu machen und nicht mehr mit vorgekauten Nachrichten versorgt zu werden und diese selbst recherchieren zu müssen. Vielleicht hat er auch keine Zeit für langwierige Recherchen, weil die Artikel zu schlecht bezahlt werden. Also Hirn abgeschaltet und was runtergerotzt.

Beispiel? Neulich erschien im British Medical Journal (2007,335:1320) ein als Parodie gemeinter Artikel eines „einradfahrenden Humorforschers“ über den Zusammenhang von Testosteron und Humor. Die Wissenschaftsjournalisten der „besten“ Medien Spiegel, Süddeutsche und Die Welt fielen darauf herein. Nachzulesen unter www.wissenswerkstatt.net, Rubrik „Wissenschaft“ vom 9. Januar 2008.

Das einzige Argument für die Abschaffung der ZVS ist die Änderung an sich: Es kann sich wieder jemand eine „Neuerung“ auf seine Fahnen schreiben und auffallen.