Schwergeprüfte Prüfer

Axel Brennicke


Editorial

(24.07.2008) Alle an den Universitäten stöhnen über die zunehmende Arbeit an und mit der Verwaltung. Ist das nur Gerede, vorbeugendes Jammern über unangenehme Aufgaben? Die Antwort ist ein eindeutiges Nein.

Unter dem modischen Schlagwort Outsourcing wird tatsächlich immer mehr Verwaltungsarbeit auf die akademischen Lehrer und Forscher abgewälzt. Die sind ohnmächtig. Nicht zuletzt deshalb, weil sie für den ordnungsgemäßen Ablauf von Lehre und Forschung gerade stehen müssen. Das Aufsatteln von Verwaltungsarbeit auf die Lehrer und Forscher – also auf die, die die eigentliche Aufgabe der Universität erfüllen – wird geschickt verpackt. Mit dem Etikett „Neuerung, Modernisierung und Fortschritt“ verklebt man die Münder der Kritiker und macht jede Verwaltungsvorschrift unwidersprechbar.

Ein eklatantes erstes Beispiel sind die Prüfungen, ihre Dokumentation und die Prüfungsordnungen. Durch das Bachelor-Mastersystem nimmt die Zahl der Prüfungen exponentiell zu. Unter der (wahrscheinlich) vernünftigen und (ganz sicher) unwidersprechbaren dogmatischen Prämisse, dass es für die Studenten besser sei, wenn sie statt einer großen Prüfung am Ende ihres Studiums vielmehr Semester-begleitend ständig kleine Prüfungen über die jeweils abgeleisteten Inhalte ablegen, wurden Prüfungen für jedes Praktikum, jede Vorlesung und jedes Seminar eingeführt. Diese Mikroexamina müssen vorbereitet, durchgeführt und korrigiert werden.

Editorial

Für diese Mehrarbeit wurde und wird kein zusätzliches Personal eingestellt, denn es wird nicht den wachsenden Verwaltungen aufgebürdet, sondern der schrumpfenden Zahl der akademischen Forscher und Lehrer. Dies mit der durchaus eingängien Begründung, dass Prüfen zur Lehre gehöre, und wer einen Bleistift anspitzen könne, noch lange nicht fähig sei die kryptischen Antworten von Drittsemestern zu enträtseln. Da aber die Forscher und Lehrer mit Forschen und Lehren voll ausgelastet sind, müssen sie für die zusätzlichen Prüfungen Sonderschichten einlegen. Kein Wunder, dass dabei die Lehre schlechter wird und die Forschung an den Universitäten immer mehr zu wünschen übrig lässt.

Wohl bemerkt, auch die Studentensekretariate und Prüfungsämter haben mehr Arbeit, die Mitarbeiter dort sind ja auch nur Ausführende. Aber die sitzen mit 40-Stundenwoche auf festen Stellen, haben nie etwas anderes als Verwaltungsarbeit erwartet und auch keine anderen Pflichten. Mit anderen Worten: Sie leben in der Zivilisation, der Forscher und Lehrer lebt im Urwald.

Zweitens nimmt nicht nur die Zahl der Prüfungen zu, sondern auch die Zahl der Prüflinge. Bisher gab es nur die Prüfungen am Ende des Grundstudiums beziehungsweise des Hauptstudiums. Bis zum Vordiplom hatte sich die Zahl der Studenten und damit die Zahl der Prüflinge bereits um 30% gegenüber den Frischlingen im ersten Semester reduziert. Entsprechend weniger Prüfungen waren durchzuführen und zu dokumentieren. An den Diplom-Prüfungen nahmen nur noch 50% der Studienanfänger teil, die anderen hatten und haben inzwischen gemerkt, dass ihre Begabungen auf anderen Gebieten liegen. Jetzt müssen schon am Ende des ersten Semesters mündliche Prüfungen über jedes „Modul“ durchgezogen werden, ebenso nach dem zweiten und dem dritten usw. – jeweils mit viel mehr zu Prüfenden als nach dem vierten. Zusätzlich müssen für viele Teilveranstaltungen eines „Moduls“ Klausuren geschrieben werden – ebenfalls ab dem ersten, zweiten, dritten Semester.

Drittens stieg der Aufwand für die Durchführung und rechtlich unangreifbare Dokumentation dieser Prüfungen exorbitant an. Für jede Prüfung ist nicht mehr nur ein Blatt Papier mit einem kurzen Stichwortprotokoll an das Prüfungsamt weiterzuleiten, inzwischen wollen zwei, manchmal sogar drei DIN A4-Seiten ausgefüllt, unterschrieben und bestätigt werden. Bei schriftlichen Prüfungen sind die Fragen verwaltungstechnisch korrekt zu entwerfen, exakt zu bewerten und gegebenenfalls Begründungen für die Vergabe der Punkte zu liefern. Die endlosen Prüfungsnachweise müssen jahrelang aufbewahrt werden. Was sich nämlich nicht geändert hat, ist, dass manchen Studenten nach zwei, drei oder auch fünf Jahren auffällt, dass sie den Nachweis über ein abgeleistetes Praktikum und eine entsprechende Prüfung nicht abgeholt oder verloren haben und dann um Ausstellung einer neuen Bescheinigung bitten.

Die vierte Stufe der Arbeitseskalation für die vergreisenden und sich lichtenden Reihen der akademischen Forscher und Lehrer wird unter dem Deckmäntelchen der Arbeitserleichterung verkauft. Die angebliche Arbeitserleichterung besteht in der Einführung von elektronisch geführten Studentenregistrierungs- und Prüfungslisten. Alle Daten sollen verschlüsselt werden und mit Zugangscode über das WWW abrufbar sein. „Damit wird alles leichter werden“, versichern uns die Arbeitsvereinfacher, „und alles besser: für die Studenten, für die Verwalter der Studenten und für die Prüfer“.

Wer aber füttert die Prüfungsdaten in die elektronischen Dokumentationen ein? Logischerweise jene, die urheberisch diese Noten bestimmen und festlegen. Also wieder die akademischen Forscher und Lehrer, die schwergeprüften Prüfer. Unglückseligerweise hat die Uni-Zentren für Informationsverarbeitung in dieser Sache der Ehrgeiz gepackt. Sie wollten endlich einmal zeigen, was sie drauf haben: „Die maulenden und stöhnenden Prüfer sollen sehen, was für Koryphäen in den Rechenzentren der Unis rumsitzen.“ Ja, sie haben es sich nicht einfach gemacht mit den elektronischen Datenblättern, sich selbst nicht und den anderen noch weniger. Da wird mit Sub-Menüs, Zwischendateien, Pop-Ups und FAQs jongliert, dass einem die Augen flattern. Die Studentenverwaltung online wurde so kompliziert, dass man Anleitungen braucht und das Verfahren mühsam erlernen muss. Das belegt ein universitäres Rundschreiben zum Thema:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

wie Sie wissen wird die Verwaltung von Prüfungen seit diesem Jahr Web-basiert durchgeführt. D.h. Studierende melden sich für Prüfungen oder auch für Leistungsnachweise („Scheine“) online an und die Prüfer können aus dem Netz Teilnehmerlisten erstellen, Noten eingeben bzw. Leistungsnachweise als „bestanden“ oder „nicht bestanden“ verbuchen. Diese Funktionen können die Prüfer selbst durchführen oder an Mitarbeiter oder die Sekretariate abgeben, also Vertreter benennen. Herr Breitmaier vom KIZ wird Schulungen anbieten, die einen halben Tag in Anspruch nehmen, um die künftigen Nutzer mit diesem System vertraut zu machen. Der erste Termin, den er hierfür anbietet ist schon kommende Woche […]. Es werden noch weitere Termine angeboten, die wir Ihnen dann mitteilen. Bitte senden Sie Herrn Breitmaier eine kurze Mail, wenn Sie den Termin nächste Woche wahrnehmen möchten.

Vielen Dank für Ihre Mitarbeit.“

Es ist wirklich wahr! Sie brauchen einen halben Tag Schulung, um zu lernen, wie Sie die Namen der Studenten und die Noten ihrer Prüfungen einzugeben haben. Wie da im Einfachen das Vielfache wirrt und sich aus dem Simplen das Komplexe strickt, ist für einen evolutionsbiologisch Interessierten faszinierend zu beobachten. Dennoch ist es gut, dass man Stellvertreter benennen darf. Das kann das Sekretariat machen? Das gibt es schon lange nicht mehr. Die ehemaligen Sekretariate sind Verwaltungsbüros, Schnittstellen zwischen nicht funktionierenden SAP-Systemen, unbezahlten Rechnungen und Umbuchungen des Personals von einer Dritt-mittelstelle auf eine andere, um ein bisschen Geld für Chemikalien, Reparaturen, Handschuhe und Plastikgefäße zu retten.

War das Leben noch einfach, bevor es die Heerscharen von Formularerfindern und Arbeitserleichterern gab!

Warum gibt es davon so viele? Warum haben sie so viel Zeit, sich fortschrittliche Irrwege auszudenken? Es sind nicht nur die universitätsinternen Auswirkungen der Parkinsonschen Gesetze. Hauptschuldige sind die Politiker und Juristen, bzw. der Zwang, der auf ihnen lastet, und die Sucht, die in ihnen wurmt, sich immer wieder in Erinnerung zu bringen: Eine Negativauslese von Leuten, deren eigentliches Metier Durchsetzungstechniken in Seilschaften sind, die darob keine Zeit hatten – vom Interesse ganz zu schweigen –, sich Fachkenntnisse anzueignen und die auch die Konsequenzen ihres Tuns weder tragen müssen noch zur Kenntnis nehmen.

Diesen Leuten ist die Universität ein Sandkasten, indem sie mit Spucke und trüben Wässern Denkmäler ihrer selbst bauen, die schon Stunden später zu zerbröseln beginnen. Aus diesen Quellen brodeln die Vorschriften, Erlasse und Gesetze zu den vielen und noch mehr Prüfungen. Daher weht der Taifun zur Abschaffung der produktiven Arbeiterklasse an den Unis. Daher braust der Tsunami an Paragraphen und Ausführungsbestimmungen, über deren Bedeutung sich so trefflich und so wichtig tage- und nächtelang diskutieren lässt. Von dort werden Formulare und Berichte einbefohlen – zur Dokumentation von tagesaktuellen Nicht-Ereignissen an den Universitäten. Und Parkinson lächelt still vor sich hin.