E-Learning – Fortsetzung der Odyssee

Axel Brennicke


Editorial

(13.06.2009) Das Telefon klingelt, ich geh ran, habe ja sonst nix zu tun. Jemand von einer nam- haften deutschen Universität will mit mir über meinen vorletzten Bericht an dieser Stelle (LJ 4/2009) reden, über E-Learning mit Ilias. Aus gegebenem Anlass, sagt er. Mindestens drei Professoren an seiner Uni hätten sich geweigert, für das Ilias-System Beiträge zu liefern. Sie hätten sich auf den Bericht im Laborjournal berufen. Das tat mir erst mal gut und ich fand den Herrn Anrufer entsprechend sympathisch.

Aber dann meint er, ein wenig unsicher klingend, dass meine Ilias-Beschreibung doch sicher nur ein Einzelfall sei, der sich auf meine Uni beschränke. Bei ihm, an seiner traditionsreichen großen Uni, sei das System erfolgreich und etabliert. Da sei nämlich er zuständig und er würde den Dozenten helfen. Außerdem fände er die Anleitungen in Ilias gar nicht so dämlich, wie ich sie zitiert hätte. Er sagt natürlich nicht dämlich, drückt sich flüssig gewählter aus, klingt erfahren aus Routineüberredungen.

„In der Tat“, denke ich, „unverständlich und unfreiwillig komisch sind die Ilias-online-Beipackzettel nur für den Hilfesuchenden. Das aber überall. Von Einzelfall kann bei der deutschlandweiten Zwangsverbreitung dieser 1:1-Übersetzungen aus dem (Fach-)Chinesischen keine Rede sein.“ Doch ich komme nicht dazu, dies dem Anrufer mitzuteilen; dessen dringendes Bedürfnis mich weiter aufzuklären, lässt dies nicht zu.

Editorial

Es sei wirklich ganz einfach, mit Ilias seine Unterlagen einzustellen, sagt er dozierend. Ich müsse das ja nicht selbst machen, das könnten die Dozenten erledigen. Als ich ihn frage, wer denn „die Dozenten“ seien und ob ich keiner sei, obwohl ich Vorlesungen halte, drückte er sich um die Definition herum. Wahrscheinlich hatte er sich nur versprochen und meinte irgendwelche Unterlinge und Handlanger, wie er sie wohl von seiner Arbeitsstelle an der traditionsreichen großen Uni gewöhnt ist.

Bei ihm an der Uni sei das Ilias prima angenommen worden, versichert er. „Oh“, denke ich, „wie kommt es dann, dass gleich drei Kollegen meine Argumente aus dem LJ aufgriffen und Ilias die rote Karte zeigten und absagten?“. Aber wieder komme ich nicht zum Fragen, denn der Anrufer ist in Schwung: Bei ihm gebe es nämlich jede Menge Hilfestellung von der Uni und insbesondere von der UB. Dort stünden Fachleute bereit, den Dozenten zu helfen. Mindestens drei bis vier Mitarbeiter und er selbst seien in Vollzeit bereit, mit Ilias zu spielen und den Dozenten zu zeigen, wo es langgehe.

Aha, er hat „Mitarbeiter“! Wohl die Weisungsempfänger und Kaffeeholer, von denen er auf meine „Dozenten“ schließt. Aber bei ihm kämpften noch mehr Leute mit den Monstern der Ilias, sagt er stolz auf seine Bildung und spult jung-dynamisch in seinen selbstsicheren Überredungsmodus. Mir fällt sofort der trojanische Priester Laokoon ein, der mit seinen Söhnen von zwei von den Göttern gesandten Schlangen erwürgt wurde, weil er die Trojaner vor dem hölzernen Pferd warnte.

„Welch sinniges Bild“, denke ich. Laokoon und seine Söhne stehen für den Professor und seine Studenten, die Götter für die Bildungsministerin und das hohle, hölzerne Pferd für Ilias. Oder stehen die Schlangen für Ilias? Und woran erinnert mich ein von Holz umgebener Hohlraum? Der Anrufer stört meinen Gedankengang, denn er redet und redet: Da seien noch Hiwis, die das System kennen und jeden einzelnen Lehrenden unterstützen. Die würden aus den Studiengebühren bezahlt. So seien diese gut und richtig investiert.

„Dafür also werden den Studis die Studiengebühren aus den Taschen gezogen – für die Daten-Odyssee in Ilias“, denke ich. Stillschweigend unterstellt der Ilias-Übersetzer – er heißt übrigens nicht Johann Heinrich Voß und er ist mir inzwischen auch nicht mehr sympathisch – dass das System für die Studis besser sei als gar keine Online-Information.

Aber wozu gibt es die Uni? Warum machen wir uns die Mühe und stellen uns zu so genannten Vorlesungen in heruntergekommene zugige Hörsäle und erzählen was von Blumen und Bienen und vom Pferd? Die Studis könnten doch fein daheim bei Mama sitzen und sich über ihre schnelle Datenleitung die Infos zu Bienen und Blüten reinziehen. Dazu bräuchten sie keine Ilias, dazu wurden vor Jahrzehnten schon Systeme und „Plattformen“ etabliert. Dies nennt man altmodisch aber richtig „Fernstudium“.

Die Daten kamen früher per Post, heute per Klick – nationales Beispiel ist die Fernuniversität in Hagen. Sie hat angeb- lich 55.000 eingeschriebene Studis. Dort wird auch Forschung gemacht – heißt es jedenfalls auf der Netzseite: „Die FernUniversität in Hagen setzt auf Schwerpunkt- und Profilbildung in der Forschung“, und weiter „Kompetenzen werden gebündelt und wettbewerbsfähige Forschungsschwerpunkte etabliert. Die grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung ist zugleich Basis der Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses.“ Das liest sich wie eine Polithülse, die ein schlaffer beamteter Geldbeantrager für die Wissenschaftsministerialbürokraten entwässert und zur Perfektion recycled hat.

Doch sucht man die Naturwissenschaften an der FernUni in Hagen vergeblich. Warum wohl? Könnte es sein, dass es nicht reicht, Chemie, Physik und Biologie am Bildschirm herunterzuscrollen? Dass diese Wissenschaften praktisch vermittelt werden müssen? Ist persönlicher Kontakt mit dem Stoff und einigen Dozenten vielleicht doch wichtig, damit etwas hängen bleibt? Und selbst auf die Gefahr hin, dass sich jetzt einige Ilias-Beauftragte aus dem Fenster stürzen, muss ich doch die umstürzlerische Frage aufwerfen: Sind Bücher praktischer als ein Bildschirm?

Für die Pflanzenphysiologie zum Beispiel gibt es mindestens ein ganz tolles Buch – Vorsicht Eigenwerbung! – den Schopfer/Brennicke. Wozu sollen Herr Schopfer und ich den ins Netz stellen? Wir haben zusammen mit dem Verlag darauf geachtet, dass der 700 Seiten-Schinken für die Studenten erschwinglich ist. Gut, die Papierqualität ist mies – irgendwo musste der Verlag sparen – aber es liest sich immer noch besser als auf einem Bildschirm, und Strom braucht das Buch auch nicht.

Der Ilias-Mann am Telefon meint ablenkend dazu, dass das Wunderbare an dem Ilias-E-Learning sei, dass es ein geschlossenes System bilde, in dem es kein Copyright gäbe. Ich könne mein Buch also ohne Verhandlungen mit dem Verlag reinstellen. Der Zugang sei auf einen geschlossenen Kreis von Nutzern an der jeweiligen Uni beschränkt. In seinen Anpreisungen ist er eloquent und selbstsicher, ernsthaftes Nachdenken scheint aber zu schwierig, wäre ja auch gefährlich für seinen Job.

„Ein dämliches Argument“, denke ich. Jede Uni, jeder Kollege soll selbst die Grundlagen der Pflanzenphysiologie in sein geschlossenes Ilias-System eingeben, an den etwa fünfzig Unis in Deutschland die gleichen Abbildungen also fünfzigmal separat. Das Rad wird hier fünfzigmal neu erfunden. Eine ABM-Maßnahme?

Zudem: „geschlossener Kreis von Nutzern“ bedeutet, dass ich nicht vergleichen kann, wie die Kollegen in Kiel, Freiburg, Hannover und Berlin die Grundlagen der Photosynthese und die Besonderheiten der Archaea erklären. Ich weiß auch nicht, welche Bilder sie am besten fanden. Ich darf also von Null anfangen. Das System hat nur einen Vorteil: Niemand kann mich auf meine Fehler hinweisen, ich darf mich in der Illusion sonnen, unfehlbar zu sein.

In einem deutschlandweiten Zentrum könnten die Grundlagen der Embryogenese von Fliegen und der Aufbau des Innenohres bei Säugetieren ein einziges Mal aus einem guten Lehrbuch eingescannt werden. Allerdings ist nicht einmal der Aufwand notwendig: kommerziell vertriebene Lehrbücher enthalten seit einiger Zeit CDs, auf denen die Abbildungen, zusätzliche Fragen und andere didaktische Feinheiten aufbereitet sind.

Viele Standardlehrwerke haben diese CDs aber schon wieder aufgegeben. Die Verlage haben gemerkt, dass die Studis lieber unter zwei Kilogramm Lehrbuch einschlafen als morgens den sirrenden Laptop aus der in Albträumen von Membranen und Signaltransduktionswegen zerwühlten Bettwäsche zu pulen. Merkwürdig!

Der Ilias-Mann hat sich indes weiter über seine mikrotechnischen Details verbreitet, die alte Taktik, den Zuhörer so lange mit unverständlichen Akronymen zu verwirren, bis dieser erschöpft zustimmt, Geld gibt oder nur beeindruckt ist und annimmt, dass das gut sei. Doch seine Mühen sind vergebens: Ich bin so hoffnungslos altmodisch und zurückgeblieben, dass ich die Vorteile von Ilias nicht verstehe.

Ilias ist Quark: Rausgeschmissene Arbeit, vergeudetes Steuergeld, verschwendete Studiengebühren und mein Anrufer ein Patroklos in der Rüstung des Achilles. Homerseidank steht meine Uni hinter mir. Jedenfalls hat sie noch keine Forschungsstellen in Ilias-Beauftragte umgewidmet. Vielleicht ist sie auch so unmodern wie ich, doch ich vermute, sie benötigt die laufenden Umwidmungen für andere bürokratische Feinheiten.

Als altmodischer Mensch bin ich auch höflich und verschweige meine Gedanken vor Patroklos. Das fällt mir nicht leicht. Ich hätte ihm gerne klar gemacht, dass von jedem einzelnen seiner endlos ausgezahlten Monatsgehälter genügend Lehrbücher gekauft werden könnten, um jedem meiner Studenten eines zu schenken. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass er besser daheim bliebe und nicht Leute belästigte, die Vorlesungen halten und Forschung machen sollen. Aber ich bleibe Philosoph und sage „Hmmm“ und „Nun, ja“ und zum Schluss „Auf Wiederhören“.

Patroklos legt beruhigt auf.