Der Beihilfe bezichtigt

Axel Brennicke


Editorial

(20.12.2009) Zum Schlimmsten, was einem passieren kann, gehören ein Unfall oder eine Krankheit. Zum einen wegen der körperlichen Verletzung, zum anderen wegen des Psychoterrors um die Frage, wer Heiler und Heilung bezahlt. Damit man nicht für die Herzoperation Haus und Hof verkaufen muss, schließt man besser schon in gesunder Verfassung eine Versicherung ab. Um sicher zu gehen, dass die Versicherungen trotz einzelner teurer Schadensfälle gute bis sehr gute Gewinne machen, hat es die Lobby der Versicherer durchgesetzt, dass jeder lebende Mensch irgendwie irgendwo gegen Krankheit und Unfälle bei der Arbeit versichert ist. Dieses wo und wie ist manchmal nicht zu durchschauen und bereitet dem Verletzten, besonders bei einem Arbeitsunfall, zusätzlich zu seinen Beschwerden auch noch Kopfschmerzen.

Dabei ist es gleich, ob man als Beamter oder als Angestellter von der Leiter fällt. Als Beamter hat man immer zwei halbe Versicherungen, die auch noch unterschiedliche Probleme machen. Die sogenannte Beihilfe des Landes hilft dem Beamten mit 50 Prozent bei, die andere Hälfte versichert ihm eine Kra(n)ken-Kasse. Diese halbseid/tige Sicherung kostet einen ähnlichen Betrag wie ihn Angestellte oder Arbeiter abdrücken müssen, denen der Arbeitgeber die Hälfte zu den vollen Beiträgen gibt. Angestellter und Arbeiter wissen nicht, was der Arzt kassiert. Der Beamte zahlt die volle Arztrechnung selbst, dann darf er probieren, diese Kosten zu je 50 Prozent bei Beihilfe und Kasse einzutreiben. Die generöse Beihilfe zieht pro Jahr 100 bis 200 Euro von ihren 50 Prozent Erstattung als Kostendämpfungspauschale ab. Das dämpft die Laune des Beigeholfenen alle Jahre wieder. Aber als Beamter hat man ja Zeit, solche Kleinigkeiten wenn nicht zu lösen so doch wenigstens zu bearbeiten. Bei einem Unfall mischt noch die Unfallversicherung mit, dann sind es also schon drei und keiner will zahlen.

Editorial

Ein Beispiel: Ein beamteter Kollege von der Universität wollte eben da hinfahren. Auf dem Weg zu seinem zugeparkten Auto rutschte er aus, fiel und brach sich ein Bein. Mit dem Handy rief er den Krankenwagen, der auch zuverlässig kam. Die freundlichen Sanitäter fuhren ihn zur Unfallambulanz. Dort wurde das Bein geschient, der Bruch heilte und er ging wieder zur Arbeit.

Dann kamen die Rechnungen. Der Gebrochene zahlt und schickt sie zusammen mit anderen Arztquittungen an diese Beihilfe, die vom sogenannten Landes-Besoldungs-Verein LBV verwaltet wird. Die LBV-Beihilfe teilt ihm mit, dass sie nicht für einen Unfall zuständig sei und daher nicht zahle. Dafür sei erst mal die Arbeitsstelle und dann entweder die Unfallversicherung oder der LBV zuständig, aber dort jemand anders. Er müsse die Quittungen, Rechnungen und die Geschichte des Unfalls bei seiner personalverwaltenden Stelle an der Uni (=Dienststelle) einreichen. Diese würde dann den Unfall bestätigen, auch wenn sie nicht dabei war, und die Unterlagen an den LBV weiterleiten. Dort aber nicht an die Abteilung Beihilfe, sondern an die Abteilung Gehalt. Die Abteilung Gehalt würde dann eine Information an die Abteilung Beihilfe schicken, damit diese die Arztrechnungen nicht doppelt bezahlt: das Unfallsopfer könnte ja versuchen, da noch mal Kopien von den Rechnungen einzureichen.

Dem Gefallenen wird also unterstellt, dass er mit seinem Unfall betrügerisch Geld verdienen will, womöglich diesen Unfall und die Arztrechnungen nur vorgetäuscht hat, damit er sein laut der vorgelegten Rechnungen vorgestrecktes Geld zur Hälfte vom LBV ein bis zwei Mal auf sein Konto bekommt.

Dieser Unterstellung der LBV-Beihilfe liegen leider die eingeschickten Rechnungen nicht bei. Diese hat sie behalten aber nicht vergessen, denn sie teilt mit, dass innerhalb der LBV eine Weiterleitung seiner eingereichten Rechnungen von der Beihilfestelle an die Personalstelle nicht möglich sei.

Ein anderer Kollege schlägt sich seit seiner Kindheit mit Neurodermitis herum. Die Krankheit ist unheilbar und kein Mensch weiß, was dabei schief läuft: Das ideale Zielgebiet für Scharlatane und alle möglichen und unmöglichen Wundermittelchen (siehe LJ 11/2009). Das einzige, das vielen, beileibe auch nicht allen Leidenden hilft, ist wenig Stress, frische Luft und viel Sonne. Künstliche Sonne lindert kurzfristig ein bisschen, echte Sonne wirkt länger. Im Winter, wenn keine Sonne scheint und man nicht mit bloßer Haut nach draußen gehen kann, sind Neurodermitiskranke besonders schlimm dran.

Unser Kollege fand nun, wie viele andere Kranke auch, dass drei bis vier Wochen in der UV-abgereicherten Sonne des Toten Meeres, 400 Meter unter dem Meeresspiegel, zusammen mit dessen Salz für mehrere Monate Ruhe vor dem Jucken und Wundkratzen verschaffen, so dass er relativ gut durch das Jahr kam. Dies wurde ihm seit Jahren vom Hautarzt und Amtsarzt bestätigt. Die Bescheinigungen überzeugten auch die LBV-Beihilfe und sie unterstützte diese Kuraufenthalte großzügig mit dem halben Reisepreis und 9 bis 12 Euro pro Tag Unkostenzuschuss zum Hotel.

Bei der ersten Testreise vor mehr als zehn Jahren hatte der Kollege bemerkt, dass die empfohlene Kurklinik am Toten Meer ihm 500 Mark, heute 500 Euro, dafür abnahm, dass sie ihm riet, sich in die Sonne zu legen, ihm ein handgerührtes Töpfchen mit Hautcreme aus Avocadoöl und Aloe vera-Extrakt in Paraffinöl in die Hand drückte und ihm nach dreieinhalb Wochen bescheinigte, dass es ihm besser ginge und er unbedingt wiederkommen müsse.

Das empfand unser Kollege als Abzocke und wollte dem LBV und sich die Kosten ersparen. Bei seinem zweiten Aufenthalt ignorierte er das „Deutsch-Medizinische-Zentrum“ vor Ort und kam ohne dessen Bescheinigung zurück. Der LBV fand dies Verhalten zuerst seltsam. Doch nachdem unser Kollege seine Eindrücke dargelegt hatte und darauf hinwies, dass der LBV Geld sparen könnte, nämlich die LBV-250-Euro-Hälfte für die billigste Creme und einen Zettel mit Standardausdruck, gab der LBV nach und überwies großzügig den 12 DM-Tagegeldzuschuss in Höhe von etwa zehn Prozent der Hotelkosten. Das ging so mehr als zehn Jahre gut.

Jetzt, in 2009, vermutlich ausgelöst durch eine Sparanweisung aus einem Ministerium oder einen Personalwechsel, meinte der LBV, das „Deutsch-MedizinischeZentrum“ sei doch zu besuchen und die 500 Euro zu bezahlen. Anderenfalls gäbe es keinen Zuschuss. Unser Kollege befragte die freundliche LBV-Sachbearbeiterin um Rat. Diese empfahl, er möge Widerspruch gegen die Ablehnung einlegen und die Sache schriftlich erläutern.

Unser Kollege schrieb den Widerspruch, schrieb auch die zehn Jahre alten Argumente dazu, steckte alles in einen Umschlag und gab diesen zur Post. Nachdem er zwei Monate nichts gehört hatte, fragte er telefonisch bei der freundlichen Sachbearbeiterin nach, ob es schon Neues dazu gebe. Dieses sagte, sie habe seinen Widerspruch im Moment nicht vorliegen, möglicherweise liege er bei ihrer Vorgesetzten auf dem Schreibtisch. Diese aber sei gerade in Urlaub und käme erst übernächste Woche wieder. Er möge doch dann noch einmal nachfragen.

Unser Kollege rief also nach 14 Tagen wieder bei der freundlichen Sachbearbeiterin an. Sie wolle bei ihrer Vorgesetzten nachfragen, wo sein Schreiben geblieben sei. Er solle doch in ein paar Tagen wieder anrufen. Unser Kollege rief nach ein paar Tagen wieder an. Inzwischen waren mehr als drei Monate vergangen.

Die freundliche Sachbearbeiterin teilte ihm mit, dass sein Schreiben nicht zu finden sei. Daraufhin schlug sie vor, er könne es per Fax noch einmal durchsenden. Unser Kollege druckte die Datei aus und sandte das Fax an die Sachbearbeiterin. Nach etwa 14 Tagen bekam er ein Schreiben von der Rechtsabteilung des LBV, die ihm mitteilte, dass er die Widerspruchsfrist von drei Monaten überschritten habe, da sein Widerspruch per Fax erst nach dieser Frist eingegangen sei.

Merkwürdig berührte unseren Kollegen, dass dieses das erste Schreiben in mehr als 20 Jahren gewesen ist, das auf dem Weg zum LBV verloren gegangen sein sollte. Per Einschreiben legte er Widerspruch gegen diese Information ein, versicherte, dass er dieses Schreiben zweieinhalb Monate vor Ablauf der Frist am Computer geschrieben, ausgedruckt und versandt habe und bot an, die Historie dieser Datei an seinem Computer überprüfen zu lassen.

Per Einschreiben antwortete die Rechtsabteilung des LBV innerhalb einer Woche, dass die Dokumentation seiner Datei und das Datum des Verfassens kein Beleg dafür seien, dass er diesen Widerspruch tatsächlich rechtzeitig an den LBV abgesandt habe. Überhaupt würde sein Widerspruch sowieso abgelehnt werden, da er bei seiner Kur die Klinik nicht aufgesucht habe. Jetzt, teilte man ihm mit, könne er bei dem Verwaltungsgericht eine Klage einreichen. Die sei aber ohne Beistand eines einschlägig erfahrenen Rechtsanwaltes sowieso sinnlos, in jedem Fall würde ihn die Klage mindestens eine Vorauskasse von mehreren tausend Euro kosten. Unser Kollege schüttelte den Kopf, legte die Sache zu den Akten und dachte: „Nur gut, dass ich ’nen Billigflug und ein Pauschalarrangement eines einschlägigen Touristikkonzerns gebucht habe.“ Er erzählte mir die Geschichte und schläft seitdem wieder ruhig.

Immer noch unruhig schläft dagegen ein Kollege, der nicht beamtet ist, sondern als Angestellter einen Unfall während der Arbeit hatte. Hier streiten sich die Unfallversicherung und die Krankenversicherung, ob die Kopfund Rückenschmerzen des Verunglückten tatsächlich von dem Fall von der Leiter stammen oder ob sie eine Krankheit seien.

Zusätzliche Kopfschmerzen verursacht dem Leidenden sein Unverständnis über diesen Streit, da er vor dem Sturz von der Leiter nur gelegentliche post vinum Kopfschmerzen spürte, nicht aber den heutigen permanenten Druck im Schädel. Das Unfallopfer muss Briefe schreiben an die Unfallversicherung, andere Briefe an die Krankenversicherung, muss betteln um Genehmigung zu einer zusätzlichen Untersuchung, um Zulassung zu einer Kur, entschieden wird nichts, den Versicherungen fallen immer wieder neue Aufgaben für den Leidenden ein.

Leider reden die Versicherungen nicht miteinander, und wenn, dann versichern sie sich wohl nur gegenseitig „Zahlen? Ich nicht!“. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Schriftsteller Franz Kafka lange Jahre (von 1908 bis 1922) bei der „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“ tätig war, bevor er seine „kafkaesken“ Romane schrieb. Er soll über diese Zeit geschrieben haben: „Mein Dienst ist lächerlich und kläglich leicht... ich weiß nicht, wofür ich das Geld bekomme“.

Daran hat sich bis heute wohl nicht viel verändert.