Innovative Wortungetüme

Axel Brennicke


Editorial

(09.08.2010) „Auch eine Destabilisierung der Telomere bei suffizienter Telomerlänge, zum Beispiel durch Modifikation der Telomersequenz oder Suppression der stabilisierenden Proteine, induziert einen Verlust der Schutzfunktion mit Aktivierung des Seneszenz-Programms“, schreiben Henning Wege und Tim Brümmendorf in BIO spektrum (2010, 3:271-3).

Alles klar? Nein? Dann sollten Sie bei suffizienter Destabilisierung der Harndrangsinsuffizienz ein BIOspektrum akquirieren, damit auf eine Klobrille retirieren und dort konsekutiv bis zur Suffizienz lesen.

Eine „akzelerierte Telomerverkürzung“ könne auch „prognostisch relevant“ sein, versichern Wege und Brümmendorf in ihrem Artikel des weiteren. „Prognostisch?“ Was heißt nun das schon wieder?

Gnostiker, das weiß ich noch aus dem Griechischunterricht, besitzen eine religiöse Geheimlehre. Prognostiker wären dann solche, die ein solches Wissen gerne hätten und weil sie’s nicht haben so daherreden, als ob sie’s hätten. Prognostisch relevant wären dann Wörter wie „defizient“, „aplastische Anämie“ oder „konsekutive Induktion“, denn sie vermitteln dem Leser den Eindruck, der Schreiber weiß was, was er, der Leser, nicht mal dem Namen nach kennt. Mit anderen Worten: der Leser kommt sich klein und dumm vor. Ein Nachteil der prognostischen Schreibweise ist freilich: sie strengt den Leser an und viele dieser faulen Schlingel verzichten aufs Weiterlesen, was den prognostischen Effekt minimiert.

Editorial

Ich wollte dennoch den Wege-Brümmendorf-Artikel lesen, um Neues zu den Chromosomenenden, den Telomeren, zu erfahren. Telomere interessieren mich, weil Freunde sich mit den Problemen von Mikro- und Makronukleus in Stylonychia beschäftigen. Stylonychia, auch Waffentierchen genannt, sind bakterienfressende Einzeller und vermehren ihre Telomere im Makronukleus für die vielen Minichromosomen.

Also strenge ich mich an und lese: „Humane Hepatocyten wurden mit TERT transduziert und im Vergleich zu einer Zellkontrolle und einer Vektorkontrolle in Langzeitkultur expandiert.“ Ein einfaches Sätzchen, aber es reizt zum Nachdenken. Wie haben die Herren wohl ihre Leberzellen ausgedehnt – durch Ziehen oder Blasen? Kann man bei der DFG eine Luftpumpe beantragen? Oder ist das nur falsch aus dem Medizinischen ins Deutsche übersetzt?

Dabei sind die Formulierkünste Weges und Brümmendorfs noch bescheiden. Andere Sätze im „Magazin für Biowissenschaften“ besitzen den Komplexitätsgrad eines Strickmusters für Herrensocken, z.B.: „Die Characterisierung der stimulatorischen und inhibitorischen NK-Zell-Rezeptoren (natural cytotoxicity receptors, NCRs, und killer immunoglobulin-like receptors, KIRs) hat neue Perspektiven eröffnet für die therapeutische Entscheidung, NK-Zell-Alloreaktivität zur Unterstützung des graft-versus-tumor und des graft-versus- leukemia-Effekts (GvT/GvL) über die Granzym-B- und Perforin-Signalkaskade zu nutzen“ (ibid. S.322).

Diese Formulierkunst macht mir gleich doppelt Angst. Zum einen, weil mich spätestens beim dritten Lesen das Gefühl beschleicht, mit meinem Hirn stimme etwas nicht (Insuffizienz oder Demenz?), und zweitens weil ich unter gar keinen Umständen am graft-versus-leukemia- Effekt erkranken möchte. Mein Hausarzt wäre damit überfordert und die Apotheke könnte, mit unabsehbaren Folgen, das GvT mit dem GvL verwechseln.

Glücklicherweise wird im gleichen Heft eine Therapie mitgeliefert: nicht für den graft-versus-leukemia-Effekt aber für das Demenzgefühl. Ich meine die Artikel von Lothar Jaenicke. Die verstehe ich auf Anhieb, ja Jaenickes Schreibe erscheint mir elegant. Vielleicht liegt es daran, dass Jaenicke Deutsch beherrscht, vielleicht gibt er sich nur Mühe, aber wahrscheinlich liegt es daran, dass er auch schon ein älteres Semester ist und (?) nicht mehr Eindruck schinden muss. Seine Texte erscheinen mir jedenfalls wie eine Oase in der biospektralen Bleiwüste.

Dabei kann ich auch Medizinisch − mindestens so gut wie Wege und Brümmendorf, ja so gut, dass ich mein Geschreibsel am nächsten Tag selber nicht mehr verstehe.

Ein bisschen anstrengen und schon gelingen so fein ziselierte Wortgetürme wie diese Überschrift: „Sporadisches Parkinson-Syndrom: genetische Risikofaktoren für sporadische und atypische Parkinson-Syndrome“. Oder informative Textteilchen wie „Die Erkrankung manifestiert sich mit den Kardinalsymptomen Rigor, Akinese, Tremor sowie posturale Instabilität. Neben diesen motorischen Charakteristika weisen viele Patienten nicht-motorische Symp tome wie etwa Riechstörung, Demenz, Depression und autonome Störungen auf.“ (aus dem BIOspektrum, S. 264 bzw. 260).

Nur leider kann ich hier damit nicht glänzen, denn die Redakteure vom Laborjournal eliminieren meine innovativen Wortverschöpfungen und -deformungen mit geradezu fanatischem Eifer. Zudem manifestiert sich bei mir bei deren Realisierung autonom ein posturaler Tremor im instabilen, nicht-motorisierten Kardinal zum akinetischen Rigor.

Man muss gerecht sein: Mediziner wurden Mediziner, weil sie unter anderem mit Deutsch Schwierigkeiten hatten (Endlich mal ein Vorurteil, das stimmt!). Nach dem Abitur war Schluss mit deutschem Aufsatz − was waren wir froh! − und ab in ein Fach wo Schwurbeln zum guten Ton gehört, Unverständlichkeit für Geistestiefe gilt und die sprachliche Verschachtelung − neben gutem Benehmen − den Erfolg garantiert.

Doch wie alles, so hat auch dies Nachteile. Etwa wenn Tante Laura und Onkel Willi am zweiten Weihnachtstag bei der Skatrunde wissen wollen, was denn gegen die Rückenschmerzen zu tun wäre, die Tante Laura seit Jahren quälen. Der angehende Mediziner lässt schwitzend ein Brimborium an Fachausdrücken durch sein Zahngehege tösen, das Onkel Willi dann auf die Worte „Also nix genaues weiß man nicht!“ zusammendrückt. Schlimm auch, wenn Onkel Willi anschließend − mit deutlichem Misstrauen in der Stimme − fragt, was das Mädchen oder der Junge denn so macht als Mediziner. Was bleibt Onkel Willi nach fünfminütigem Monolog seines studierten Verwandten anderes übrig, als endlich sein überreiztes Spiel als Null durchzuziehen?

Letzteres kann natürlich auch Biologen oder Biochemikern geschehen: Die Begriffe Doppelstrangbruch und heterochromatische Proteine wirken auf Laien ähnlich erleuchtend wie Milzatrophie und Humanmalignom.

Eindruck schinden kann man nicht nur mit Fremdwörtern, auch deutsche Schöpfungen können Geistestiefe andeuten. Nicht umsonst ist das Wörtchen „Bereich“ so ungemein beliebt. Aber auch „mithilfe von“ leistet gute Dienste. Dies sagt zwar nichts anderes als „mit“, löst aber im Leser tautologische Blähungen aus.

Mithilfe von „mithilfe von“ füllt sich der Text mithilfe von nachdenkensfreien Worthülsen. Zudem lassen sich Zeilen schinden und Honorare aufblasen. Im letzten Heft des obigen Wissenschaftsblättchens tauchte „mithilfe von“ bei fast jedem dritten Artikel, den ich angelesen habe, mindestens einmal auf. In diesem Heft benutzte es auch die Vorbildschreiberin des Editorials.

Zugegeben: Sprache wäre langweilig ohne Modeworte. Jedes Jahr blühen frische Schöpfungen oder Neuanwendungen auf. So hat sich ein Wort aus dem Gewichthebersport bis in die Wirtschaftsteile der überregionalen Blätter geschummelt. Es werden nicht nur 100 kg gestemmt, sondern ein Arbeitslosenpaket. Sogar Milliarden für die kaputten Universitäten könnten gestemmt werden, wenn dies Wählerstimmen versprechen würde − tut es aber anscheinend nicht.

Unterhaltsam mutet es auch an, wenn aus dem deutschen Behördendeutsch krampfhaft ins Ausländische übersetzt wird. Man lernt: Behördendeutsch wird im Denglischen nicht besser.

Einige Beispiele: An einer prominenten Säule im Empfang meiner Uni hängt ein Poster. Überschrift: „Veranstaltungsreihe Ausländerstudium“, „Information for international students and other interested“. Das macht neugierig – was ist wohl ein „Ausländerstudium“? Studiere ich da Ausländer? Und um wen mag es sich wohl bei den „other interested“ handeln?

In einem Vortrag wird wichtige Information zu „Ausländer- und arbeitsrechtlichen Regelungen für internationale Studierende“ versprochen. Die aber gibt es nur auf Deutsch, das heißt wirklich nur auf deutsch, nicht einmal auf Englischdeutsch. Warum? Die Antwort gibt eine andere Veranstaltung dieser Reihe namens: „Wie bewerbe ich mich richtig? This workshop covers everything about job applications“, denn dort steht als Zusatz: „deutsch/Questions in english possible“.

Englisch wie Deutsch sind sowohl in dem bemühten English wie auch im Deutschen orthographisch falsch mit kleinen Anfangsbuchstaben geschrieben. Man muss daraus schließen, dass die Referentin aus dem Arbeitsamt Fragen auf Englisch verstehen und beantworten kann, der Referent aus dem Auslandsamt der Universität jedoch kein Englisch versteht.

Gibt es so was? An einer Universität? Im Auslandsamt einer Universität?

Nicht zu fassen. Jedoch, vielleicht täusche ich mich in den Beweggründen des Mannes. Vielleicht handelt es sich um einen Patrioten, der aus Rache für die zunehmende Denglisierung des Deutschen die englische Sprache verhunzt. So hat er den letzten Veranstaltungstitel im Semester: „Studium beendet, was nun?“ folgendermaßen ins Englische übersetzt (Vorsicht, festhalten):

„Perspectives after finish study in Germany?“ Wenn ich es mir recht überlege, muss auch die Patriotentheorie nicht zutreffen. Der Referent aus dem „Centrum für internationale Migration und Entwicklung (CIM)“ könnte auch ein Skandinavien-Fan sein und über Perspektiven nach dem Finnisch-Studium informieren wollen.

Die Übersetzung eines anderen Titels aus dieser Reihe ist ebenfalls ungemein geistvoll. Ein Referent aus dem „CNS“ übersetzt das Unisprechwörtchen „Praktika“ mit „Work Experience“. Wahrscheinlich beredet und beschwört er seine Arbeitserfahrung als Praktikant, vermutlich im Zentralnervensystem der Uni.

Wahrlich, so eine Universität ist eine Stätte der Anregung und der Denkanstöße. (Nicht immer nur auf meiner Uni herumhacken...)