Einschleichende Bürokratie

Axel Brennicke


Editorial

(30.04.2011) Wir dürfen die Intelligenz der Bürokratie nicht unterschätzen. Dort sind viele, sehr viele kluge, freundliche und verbindliche Menschen aktiv. Es ist verständlich und nur zu menschlich, dass diese zuerst an sich denken und versuchen, das Wesen der bürokratischen Herrschaft und Ordnung überall durchzusetzen. Leider wird damit das praktische und reale Leben immer komplizierter und unmenschlicher, unpersönlicher.

Wir sind an den Universitäten manchmal weiter, meist jedoch nicht ganz so weit wie die offiziellen Behörden. Von diesen kann die Universitätsbürokratie durchaus noch lernen. Daher möchte ich hier eine kleine Anregung geben, wie sich Dienstreisen leicht komplexer und bürokratischer handhaben lassen. An anderen Dienststellen des Landes Baden-Württemberg sind nämlich bei dem Antrag zu der Genehmigung einer Reise eine ganze Menge Kriterien anzulegen.

Wenn Sie dort als Wissenschaftler oder Ingenieur arbeiten und wenn Sie exzellent sind, kann es passieren, dass Sie zu einem Vortrag eingeladen werden, vielleicht sogar in einem anderen Bundesland oder als Experte auf einer Fachtagung. Ebenso kann es passieren, dass Sie an eine Universität gebeten werden, um angewandte Arbeiten den Studenten vorzustellen. Nun müssen Sie den Vorgesetzten in Ihrer Landesbehörde auf einem Formular – wie sonst – genau erläutern, was es mit dieser Einladung zu einem Vortrag auf sich hat.

Editorial

Das Formular hat vier Ebenen, gemäß dem Rang der Ausfüller. Auf der ersten stellt der Antragsteller den Antrag: „Name, Dienstbezeichnung, Org.-Einheit“ sind wichtig, klar; „Thema des Vortrags“ klingt auch noch vernünftig, ebenso „Auftraggeber“. Die „zeitliche Inanspruchnahme durch die Vortragstätigkeit (incl. Vorbereitungszeit)“ soll man in Stunden angeben – ob da Idee und Powerpointverbesserung am Samstagmorgen sowie die Fahrt von München nach Rostock dazu gehören? Die „Vergütung“ wird erst dann relevant, wenn man mal nicht von einer normalen Universität, Fachhochschule oder Berufsakademie geholt wird, sondern von einem Unternehmen, das dem Antragsteller exorbitante Vergütungen zahlt und sich nicht mit der Erstattung läppischer Reisekosten gegen Vorlage des Busfahrscheins abgibt. Wehe aber, wenn man „geldwerte Vorteile“, etwa einen Kaffee oder gekauftes Wasser, annimmt und das nicht angibt!

Bei dem durchgehenden inhärenten Misstrauen der Bürokratie, das in einem Antragsteller immer einen Delinquenten vermutet und immer a priori unlautere Absichten unterstellt, ist der Vortragende erst mal schuldig. Sie oder er könnte ja auch in der Behörde bleiben und die Zeit absitzen, wie es vernünftige Leute tun, die sich nicht für Vorträge qualifizieren. Und womöglich noch beantragen, „im Rahmen der Vortragstätigkeit [...] Material, Personal, Einrichtungen [...] in Anspruch nehmen zu dürfen“.

Jetzt kommen auf diesem Formular die nächsten Ebenen, die an den Universitäten dringend eingeführt werden müssen. Diese sind nicht vom Antragsteller auszufüllen, sondern von den nächsten Dienstebenen. Zuerst nimmt der Abteilungsleiter Stellung. Und das nicht nur durch Unterschrift, wie an den Unis, sondern mit Kreuzchen und Stolperkreuzchen. So muss er einmal kundtun, ob „dienstliches Interesse“ vorliegt, und ob „dienstliche Interessen beeinträchtigt“ werden. Und ganz wichtig, eine Ja/Nein-Option: „Der Ausübung des Vortrags während der Arbeitszeit stehen dienstliche Gründe entgegen.“ Wer also kocht und bringt dem Abteilungsleiter Kaffee während der Vortragsabwesenheit des Antragstellers?

Über die dritte Ebene verfügt der Präsident: „Der Vortrag erfolgt auf Verlangen, Vorschlag oder Veranlassung des Dienstvorgesetzten oder im dienstlichen Interesse“ und „ Öffentliches Interesse am Abhalten des Vortrags wird anerkannt“ oder „Es besteht kein dienstliches oder öffentliches Interesse“. Eine dieser Alternativen bestätigt der Präsident durch Unterschrift. Gut, dass der Abteilungsleiter kontrolliert wird. Doch das Misstrauen lauert auf allen Ebenen, natürlich auch dem Präsidenten gegenüber. Die nächste Stufe gehört Referat 9.

Referat 9 hat die schwer wiegenden, endgültigen Entscheidungen zu fällen. Zwischen drei Möglichkeiten muss in „Verfügung Referat 9“ gewählt werden: In der für den Antragsteller freundlichsten Version entscheidet sich das Referat für diese Möglichkeit: „Die Vortragstätigkeit darf innerhalb der Arbeitszeit ausgeübt werden.“ Die zweite Möglichkeit ist da schon ein bisschen komplizierter und nicht sofort verständlich: „Die Vortragstätigkeit darf nur ohne Anrechnung auf die Arbeitszeit ausgeübt werden.“ Dies gilt es zudem abzugrenzen von der dritten Möglichkeit: „Die Vortragstätigkeit darf nur außerhalb der Arbeitszeit ausgeübt werden. Dienstliche Verpflichtungen dürfen nicht beeinträchtigt werden.“

Dazu muss man noch wissen, was jeder Antragsteller einer solchen Behörde schnell lernt, dass nämlich in einer Landesanstalt die Reise mit Bahn, Auto oder Fahrrad zum Vortrag offiziell nicht als Arbeitszeit anerkannt wird. Damit wird eine solche Vortragsreise endgültig zum Urlaubsvergnügen – öffentliches Interesse hin oder her.

Unklar bleibt, warum das Referat 9 überhaupt etwas anzukreuzeln hat. Intern gibt es nämlich klare Vorgaben für die Ankreuzungen, wenn der Präsident sein Häkchen bei 1, 2 oder 3 gemacht hat.

Der feine Unterschied zwischen dienstlichem und öffentlichem Interesse dürfte eigentlich nicht existieren – ein Landesamt ist wie die Uni dem öffentlichen Steuerzahler verpflichtet. Damit ist öffentliches immer auch dienstliches Interesse. Denkt man so.

An den Universitäten hört man schon mal das Vorschieben von versicherungstechnischen Gründen, auf einer Dienstreise oder einer Reise im dienstlichen Interesse sei man über den Arbeitgeber, die Universität, versichert, auf einer Reise im privaten Interesse eben nicht. Vielleicht versteckt sich so was hinter der obskuren Unterscheidung im Referat 9 zwischen „ohne Anrechnung auf die Arbeitszeit“ und „außerhalb der Arbeitszeit“. Meint letzteres nur das, was es sagt, dass nämlich der Vortrag nur abends, nachts, am Wochenende oder im Urlaub stattfinden darf? Und ersteres schon mittags sein darf, aber die Arbeitszeit vor- oder nachgearbeitet oder etwa auch Urlaub genommen werden muss?

Bei dem neuen Formular ist hier Schluss, denn bei der Neufassung des Antragsblattes wurde eine weitere Option der letzten Jahrzehnte weggelassen. Da gab es für das Referat 9 im nebligen Nirgendwo noch: „Es sind bis zu vier Stunden für während der regelmäßigen Arbeitszeit abgehaltene Vorlesungen pro Semesterwoche (einschließlich eventueller Vorbereitungs- und Reisezeit) auf die zu leistende Arbeitszeit anzurechnen.“ Das alte Formular war aber auch noch freundlich betitelt als „Anzeige eines Vortrages gem. §§ 83, 84 LBG, 11 BAT“, während das neue „Antrag auf Genehmigung eines Vortrages“ einen deutlich schärferen Ton reinbringt. Noch mehr Misstrauen gegenüber den eigenen Mitarbeitern. Dabei haben die gar keine Gelegenheit, die Bundeswehr für Urlaubsflüge und die Dienstwagen für die Kinderbetreuung zu nutzen.

Diese Vorverurteilung der eigenen Mitarbeiter ist an den Universitäten gar nicht weit genug ausgebildet. Diese sollten daher dringend Formulare und Ankreuzungsoptionen von den Landesbehörden übernehmen, müssen dabei nur aufpassen, dass ihren Präsidenten etwas Mitspracherecht bleibt und dieses nicht vollständig von den verschiedenen Dezernaten, Referaten oder Verwaltungsabteilungen übernommen wird. Aber da habe ich keine Sorge, wenn die Kontrollformulare zielgerichtet zur Kriminalisierung der eigenen Mitarbeiter eingeführt werden.

Vorsicht und entsprechende Warnungen sind dagegen angebracht, wenn in kleinen, fast unmerklichen Schritten die Universitäten von Verwaltungsbürokratien verschiedenster Couleur – eben auch von solchen Landesbehörden – unterwandert und bestimmt werden sollen. So war neulich zum Beispiel ein sehr freundlicher, sympathischer und gediegener Herr vom Landeslehrerprüfungsamt an den Universitäten unterwegs, um dort dafür zu werben, dass die schriftlichen wie auch die mündlichen Prüfungen im Staatsexamen für die angehenden Gymnasiallehrer zwischen den einzelnen Universitäten vergleichbarer gemacht werden. Dieser Herr ist das äußerst geschickt angegangen, der Schritt zur nächsten Stufe der Bürokratisierung war nur sehr schwer festzumachen.

Als Aufhänger hatte er eingereichte Prüfungsfragen abgelehnt. Nicht aus sachlichen Gründen, sondern weil die Erläuterungen keinen Erwartungshorizont vorgäben und somit eine Vergleichbarkeit mit den Fragen von anderen Universitäten nicht einfach möglich sei. Und wie Bürokratien, die durch Vorschriften wie obiges Formular schuldig kriminalisiert und in Furcht vor Vorgesetzten erstarrt sind, schob er Angst-Argumente vor, diesmal jedoch keine versicherungstechnischen Gründe, sondern die beliebten potenziellen juristischen Angriffsmöglichkeiten.

Seit vielen Jahren schon müssen alle Universitäten die Themen der schriftlichen Arbeit lange vor dem eigentlichen Termin im Prüfungsamt des Landes einreichen. Neben dem Thema soll auch mit ein paar Stichworten die erwartete Komplexität der Antwort umrissen werden. Wie man das machte, war bisher für Prüfer und Professor relativ frei gelassen. Manche haben das für sich selber recht ausführlich gemacht und angegeben, wie viele Punkte sie für welchen Teil Antwort vergeben würden. Andere haben lediglich ein paar Stichworte formuliert und beispielsweise klar gemacht, dass sie unter dem Thema „Evolution des Menschen“ nicht nur eine grobe Reihenfolge der verschiedenen Hominiden erwarten, sondern in ihre Vorlesungen auch Informationen über die molekularbiologischen Entwicklungen und die Ähnlichkeiten der Genomsequenzen zwischen Homo sapiens und Homo neandertalensis einbauten.

Nun schlug der freundliche Mann vom Landeslehrerprüfungsamt vor, dass es doch ein schöner Kompromiss sei, wenn alle Hochschullehrer an allen Universitäten des Landes bei der Einreichung ihrer Themen die äußere Form übernähmen, die er vorschlägt. Für mögliche juristische Anfechtungen von Seiten der Studenten sei es nämlich besser, und überhaupt sei es vergleichbarer, wenn zu den vorgeschlagenen Hauptprüfungsfragen und den Unterfragen jeweils die vorgesehene Punktzahl angegeben und außerdem ein ausführlicher Erwartungshorizont mitgeliefert würde.

Dieser Pseudokompromiss hört sich sehr logisch und vernünftig an, man merkt erst einmal gar nicht, dass die Freiheit der Professoren in der Lehre beschnitten wird. Wieder einmal. Und nicht nur das, auch die Arbeit, die neben Forschung und Lehre zu leisten ist, wird vermehrt. Erst kürzlich hat Der Spiegel unter der Überschrift „Abgelenkte Professoren“ festgestellt, dass der Anteil von Tätigkeiten außerhalb von Forschung und Lehre in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Dabei bleibt natürlich immer weniger Zeit für Forschung und Lehre übrig. Während in unserem Land an den Lehrveranstaltungen eines Professors 112 Studenten teilnehmen, so sind es in den USA nur 39 Studenten, schreibt das Wochenblatt.

Eigentlich wäre es nur vernünftig, die Studenten an den Universitäten ganz abzuschaffen, dann könnte die Bürokratie aufatmen, denn die Professoren und die wissenschaftlichen Mitarbeiter (falls es sie noch gibt) könnten sich dann voll und ganz dem Ausfüllen von Formularen und Vorgaben widmen. Aber wir sind ja auf dem besten Wege dahin, das Landeslehrerprüfungsamt wird uns demnächst auch schön vorbereitete Formulare für die Einreichung von Themen, Subthemen, Unter- und Zwischenthemen, Erwartungshorizonten und – wie an den Gymnasien schon längst geschehen – eine völlig überflüssige zusätzliche Benotung und Verpunktierung vorgeben. Nur weiter so!