Der ewige Doktorand

Axel Brennicke


Editorial

(18.11.2011) Sie werden jedes Jahr älter? Und Sie sind immer noch Doktorand? Nicht nur drei, nicht nur vier, womöglich fünf Jahre sind schon vorbei und Sie sind immer noch Doktorand. Inzwischen ist Ihr Diplom oder Master schon so lange her, dass Sie sich nicht mehr erinnern, was Ihnen peinlicherweise in den Prüfungen wie weißer, unstrukturierter Nebel im Kopf lag.

Jetzt pipettieren Sie und planen die nächsten Experimente – das ist der Dauerzustand. Sie kennen es nicht anders, als mit dem exorbitanten halben TVL-Gehalt auszukommen. Wieso auch nicht? Ist doch deutlich mehr als während des Studiums.

Seit fünf Jahren sind Sie Doktorand. Wie andere in Ihrer Labormannschaft auch. Nur Ihre ehemaligen Kumpel aus dem gleichen Semester sind schon seit zwei Jahren fertige Doktoren. Der eine liegt als Post-Doc am Strand von Hawaii und beobachtet Drosophila und andere Fliegen. Der andere hat schon wieder einen neuen Dienst-Audi von seiner Firma bekommen. Dabei ist er nicht einmal Mediziner-Klinkenputzer, sondern macht die Mikrobiologie in der Qualitätskontrolle. Beileibe nicht als Chef, nein, als ganz normaler promovierter Dr.-Mitarbeiter.

Editorial

An schlechten Tagen fragen Sie sich, wieso Sie nicht auch schon diesen blöden Schein in der Tasche haben. Dann überlegen Sie, Ihren Chef zu fragen, ob Sie nicht endlich zusammenschreiben könnten. Ihr Chef ist auch ganz freundlich, verständnisvoll und mitfühlend, als Sie Ihren Mut zusammengenommen haben. Eigentlich, sagt der Chef, eigentlich können Sie schon zusammenschreiben. Sie haben ja immerhin zwei Koautorenschaften auf Publikationen, davon eine als Erstautor, und noch ein paar Poster und dies und jenes.

ABER, sagt er dann – und es schmerzt ihn ganz offensichtlich, so bekümmert ist er –, aber ein paar weitere Experimente wären nicht schlecht, die würden die Geschichte abrunden und ein zweites Erstautorenpaper bringen. Ein paar kleine Experimente, die sollten schnell gehen. Und dann, dann können Sie Ihre Doktorarbeit schreiben.

Irgendwie kommt Ihnen das bekannt vor. Déjà-vu. Diese Szene spielte doch in diesem schlechten Film vor einem Jahr und vor zwei Jahren. Und Sie waren der Nebendarsteller. Ihr Doktorvater sagte Ihnen schon damals, dass sie eine ganz tolle Publikation erreichen können, wenn sie noch diese und jene Experimente weitermachen. Und die Daten noch bringen. Und diese und jene Gele noch machen.

Das mag richtig sein. Aber diese Daten könnten sie genauso gut mit dem vollen Gehalt als Post-Doc herausfinden. Das hat Ihr Doktorvater vergessen, Ihnen zu sagen. Vielleicht behauptet er, dass die Konkurrenz auch nicht schläft und daher im Moment keine Zeit dafür ist, dass Sie Ihre Arbeit zusammenschreiben. Mag sein. Aber es ist Ihr Leben, nicht seins.

Ihr Doktorvater sagt vielleicht, dass durch diese neue Publikation Ihre Dissertation viel besser wird und Sie dafür eine sehr gute Note bekommen werden. Dieses Argument ist jetzt aber wirklich so falsch, dass es schon an Betrug grenzt. Wenn Sie Ihre Arbeit einreichen, wird im Promotionskomitee sofort die Frage auftauchen, warum Sie so lange gebraucht haben. Jemand, der fünf Jahre für seine Promotionsarbeit benötigt, kann nicht so gut sein wie jemand, der sie schon nach drei Jahren vorlegt. Sie werden auch kaum eine so gute Note für Ihre Dissertation bekommen wie Ihre Kollegen, die nach drei Jahren abgeschlossen haben.

Doch wie können Sie in drei Jahren im Labor genügend neue Erkenntnisse für eine Promotion zusammenpipettieren? Zum einen sollten Sie darauf achten, dass Sie nicht in Hochrisiko-Experimenten verheizt werden und zwei Jahre lang nur herausbekommen, dass es so nicht geht.

Sie sollten versuchen, zweigleisig zu fahren. Achten sie darauf, dass Sie ein Sicherheitsprojekt haben, in dem Sie mit großer Wahrscheinlichkeit Daten bekommen. Genug, um Ihnen eine solide Grundlage zu liefern, auch wenn die Ergebnisse nicht so atemberaubend neu sein werden, dass sie für eine Publikation in den internationalen Top-Journals ausreichen.

Parallel dazu läuft Ihr Hochrisikoprojekt, das, wenn es funktioniert, einen wichtigen Fortschritt bringt und Sie auf einen Schlag berühmt macht. Da daran aber schon viele Leute gescheitert sind, besteht durchaus die reale Chance, dass sogar Sie diesen experimentellen Ansatz nicht hinbekommen und eine Reihe von negativen Informationen ansammeln, die Ihnen zeigen, wie es nicht geht. Aber auch die bringen Ihnen nach drei Jahren genügend Stoff für die schriftliche Abfassung.

Was können die Profs tun, um solche Exzesse zu verhindern? Wie können wir es diesen Ausbeutern der Doktoranden schwieriger, wenn nicht unmöglich machen, Geld für das Gehalt zu sparen und die jungen Wissenschaftler mit halben Stellen auszunutzen?

Durchgehende Mentorensysteme sind in etablierten Programmen wie Graduiertenschulen zweckmäßig und sollten dort zur Pflicht gemacht werden. Generell zur Pflicht der Doktoranden kann man das wahrscheinlich nicht einrichten, denn es muss auch weiterhin möglich sein, eine Doktorarbeit erst dann anzumelden, wenn sie im Prinzip fertig ist. Nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern auch in den Naturwissenschaften.

Auch der eifrige Pilzsammler, der sich zum Kenner entwickelt, und ebenso der Insektenfänger, der in zehn oder fünfzehn Jahren akribischer Untersuchung im Freiland neben der normalen Arbeit einige neue Arten entdeckt hat, muss die Möglichkeit haben, diese Studien an der Universität vorlegen zu dürfen und – wenn diese Arbeit wissenschaftlichen Standards entspricht – promoviert zu werden.

Also bleibt als wichtigste Vorsichtsmaßnahme für die frischgebackenen Naturwissenschaftler, dass sie sich als angehende Doktoranden genau erkundigen, wie lange ihre Vorgänger für die Arbeit im Labor benötigt haben. Und zwar bevor sie mit der Doktorarbeit anfangen. Sie sollten im Wunschlabor die fertigen Doktorarbeiten anschauen und durch die Lebensläufe der Kandidaten blättern. Eine Zeit-überschreitende Ausnahme mag vorkommen, wenn der Kandidat eine mehrjährige Väterzeit genommen hat oder zwei linke Hände hatte. Solange die anderen fünf Doktoranden in den letzten Jahren im Schnitt in drei bis dreieinhalb Jahren fertig wurden, ist eine solche Ausnahme möglich. Liegt der Schnitt aber bei fünf Jahren Promotion und eine Ausnahme ist mit sechs Jahren dabei, sollte man sich als angehender Doktorand lieber ganz dringend nach anderen Möglichkeiten umschauen. Wissenschaftliche Exzellenz hin oder her, es gibt auch gute Wissenschaftler, die den Nachwuchs nicht ausnutzen und nicht über Gebühr Unterdruck setzen.

Gleichzeitig sollten die fast oder ganz fertigen Doktoranden die zivile Verantwortung ernst nehmen, die jungen Studenten, ihre potentiellen Nachfolger, freundlich und heimlich davor zu warnen, dass sie in diesem Labor ihre Seele für mehr Jahre verkaufen als normal ist.

Sind Sie doch unbedarft in einem solchen Labor gefangen und haben schon zu viel Zeit investiert, um zu wechseln, lassen Sie sich nicht vertrösten – schreiben Sie einfach nach zweieinhalb bis drei Jahren zusammen, was Sie an Ergebnissen haben. Lassen Sie sich nicht abwimmeln, schreiben Sie. Ihr Chef wird dann schon mitmachen. Und wenn nicht, geben Sie Ihre Ergüsse einfach im Promotionskomitee ab. Dafür gibt es diese Ausschüsse und auch dort gibt es vernünftige Kollegen. Die sorgen normalerweise dafür, dass Ihre Arbeit durchgeht. Bin ich zu optimistisch? Ich hoffe nicht.

Haben Sie keine Angst, dass Ihr Chef Ihnen eine schlechte Note in der Promotion gibt: danach fragt später niemand. Sie bekommen in einem anderen Labor, in der Wirtschaft oder Industrie keine bessere Stelle, wenn Sie mit „summa cum laude 1+“ oder „magna cum laude 1“ statt nur mit normalem Lob „cum laude 2“ promovieren. Besser, Sie sind zwei Jahre jünger. Falls Sie wirklich gefragt werden, können Sie die Note immer noch erklären. Ohne über Ihren Doktorvater unangenehm herzuziehen.

Es ist wichtig, solche Sklaven-haltenden Labors auszutrocknen und den Sklaventreibern zu zeigen, dass diese Ausbeutungsmentalität nicht mehr funktioniert.