"Big Data for Small Minds"

Axel Brennicke


Editorial

(15.09.2016) Der Wissenschaft droht ein neues Instrument zum Missbrauch durch ahnungslose Verwalter: der Kerndatensatz Forschung.

Das Finanzamt ist schon weiter als die Wissenschaft. Wir geben unsere Daten online ein und erfahren sofort, wie viel wir für die verantwortungsfreien Planer von Hauptstadtflughäfen und -bahnhöfen oder als Feinstaubzuschuss unter dem Mäntelchen „Steuern“ abdieseln dürfen. Jetzt kommt die überfällige Modernisierung in die Welt der Wissenschaft.

Endlich macht der Wissenschaftsrat (WR) die Räder dran. Die zeitraubende persönliche Gutachterei soll aufhören. Kein mühseliges, stunden- oder gar tagelanges Durchlesen, Nachlesen und Recherchieren für das Gutachten zu einem Antrag auf eine halbe Doktorandenstelle. Jetzt wird alles besser! Es wird eine Tabelle geben, in der können alle nachschauen, ob die Punktzahl des Antragstellers über der Gürtellinie der förderungswürdigen Wissenschaftler steht oder darunter. Auch der Antragsteller selbst.

Ist er darunter, braucht er sich gar nicht die Mühe zu machen, auch nur an einen Antrag zu denken, geschweige denn einen zu schreiben oder gar einzureichen. Wird abgelehnt. Muss abgelehnt werden. Punkte lügen nicht. Oder doch?

Editorial

So einfach ist es nicht, rudert der WR herum. Und dreht bei: Die Tabelle soll nicht zur Begutachtung dienen. Noch nicht. In der Liste sollen die Eckdaten jedes Forschers und seines Lebenswerkes in bundesweit vergleichbarer Form eingetragen und abrufbar sein. Die Pressemitteilung des WR hierzu redet euphemistisch von Standard und Kerndatensatz:

Mit seinen ‚Empfehlungen zur Spezifikation des Kerndatensatz Forschung’ legt der Wissenschaftsrat einen Standard vor, der es Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen ermöglicht, ihre Forschungsaktivitäten künftig in einheitlicher Weise zu dokumentieren. Damit wird für alle forschenden Einrichtungen, die regelmäßig und teils mit großem Aufwand für unterschiedliche Adressaten Berichte über ihre Tätigkeiten zusammenstellen müssen, der Arbeitsalltag deutlich einfacher werden.

Der Kerndatensatz Forschung deckt Angaben zu sechs inhaltlichen Bereichen ab: Beschäftigte, Nachwuchsförderung, Drittmittel und Finanzen, Patente und Ausgründungen, Publikationen sowie Forschungsinfrastrukturen. Die meisten dieser Angaben machen wissenschaftliche Einrichtungen auch heute schon. Durch eine Angleichung der Definitionen kann jedoch die Qualität der weiter gegebenen Daten und damit nicht zuletzt auch der Nutzen, den die Daten für die Einrichtungen selbst haben, erhöht werden.

Kann vielleicht nützlich sein? Eindeutig viel zu vage, als dass man da Arbeit und Zeit investieren möchte.

WR: „Damit wird für alle forschenden Einrichtungen […] der Arbeitsalltag deutlich einfacher werden.“ Wirklich? Wieso? Dazu heißt es in dem zugehörigen Bericht „Spezifikation für einen Kerndatensatz Forschung (Version 1.0)“ nüchtern:

Die Aggregatdaten des Kerndatensatz Forschung (d. h. die Kerndaten oder Daten aus der Schale des Kerndatensatzes mit bestimmten Ausdifferenzierungen und Aggregationsniveaus; siehe Abschnitt 2.1 oder Glossar für Erläuterungen) folgen allgemeinen Anforderungen an Berichte. Sie eignen sich damit nicht für alle konkreten Berichtsanlässe in gleicher Weise.

Also doch nicht so Standard, wie die Propaganda des WR reißerisch vorgaukelt: „Genauso, wie man weiß, dass A4-Papier in einen C4-Umschlag passt, so wissen Hochschulen und Forschungsinstitute künftig, wie sie auf eine Frage nach der Zahl ihrer strukturierten Promotionsprogramme antworten können. Und derjenige, der diese Daten erfragt, weiß, wie die Antwort auf diese Frage zu verstehen ist.

Unsere Uni weiß jetzt also, dass sie auf die Frage nach der Zahl der strukturierten Promotionsprogramme mit „1“ oder „3“ antworten kann. Wäre sonst niemand drauf gekommen, war ja bisher total uneinheitlich. Und endlich versteht man auch die Antwort richtig: „2“ bedeutet also zwei Promotionsprogramme. Man sieht, es ist wirklich nötig und gut, dass sich hochkarätige Denker mit solchen Verwaltungsaufgaben auseinander setzen und sich bemühen, den Verwaltungen das Leben zu erleichtern.

Aber haben sie dabei auch an die Wissenschaft und deren Macher gedacht? Offensichtlich nicht, denn dort wird effektiv mehr Arbeit notwendig. „Gute Arbeit“ für wen? Nur für die lebensferne Welt der Bürokratie. Malen Sie sich ganz einfach aus, wie dieser ‚Kerndatensatz Forschung‘ in der Praxis umgesetzt wird. Jede Uni-Verwaltung wird ein neues Formular entwerfen, in das wir Wissenschaftler alle Daten eintragen müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Daten einheitlich und standardisiert in der Verwaltung lesbar sind. Ganz selbstverständlich müssen wir auch solche Daten neu eintragen, die die Verwaltung längst hat – beispielsweise die Details zu DFG- und anderen Projektmitteln. Das kennen wir etwa zuletzt aus dem WissZeitVG, wo wir neben den verwaltungseigenen Nummern, den Laufzeiten, den bewilligten Mitteln, usw. sogar Teilabschnitte angeben sollen, die es im Antrag gar nicht gibt (siehe diese Kolumne in LJ 4 und 5/2016).

Allerdings – und das betonte der Vorsitzende des Wissenschaftsrates ausdrücklich – kann der Kerndatensatz Forschung keine Leistungsbewertungen vornehmen oder gar ersetzen. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates: ‚Es bleibt dabei, dass Forschung nur von einschlägig qualifizierten Peers bewertet werden kann. Ihnen bietet der Kerndatensatz eine belastbare Datengrundlage für ihre Tätigkeit.’

Das riecht nach einer gefährlichen Lach- und Heulnummer. Gefährlich, weil das Ranking nach Zahlen noch einfacher wird (das ist ja auch Absicht!) und damit eben keine „belastbare Datengrundlage“ für die qualifizierten Gutachter hergibt. Nur für die unqualifizierten. Und die werden das weidlich ausnutzen. So wird der Kanzler der Uni nachfragen, wieso Platz eins der Berufungsliste nur 47 Punkte erreicht, während Platz fünf 52 Punkte auf dem Konto hat – und die Liste ablehnen. Wenn auch nur, um Macht zu demonstrieren. Das läuft dann so, wie jetzt schon das Geschlecht in Ranking und Punkte einfließt. Ganz dem Grundgesetz entsprechend.

Die Deutsche Universitätszeitung (DUZ) macht sich zu Recht die klassischen Sorgen der Über-einen-Kamm-Schererei mit den Kerndaten: „Gesammelt werden sollen Kerndaten zunächst in fünf Kategorien: Beschäftigte, Nachwuchsförderung, Drittmittel/Finanzen, Patente, Publikationen. Letztere finden sich in erstaunlicher Vielzahl; zu den klassischen Veröffentlichungen gesellen sich Konferenzposter, bewegte Bilder, Nennung in Massenmedien und vieles mehr. ‚Es gibt Disziplinen, in denen weder Patente noch klassische Publikationen eine große Rolle spielen’, erklärt Beiratsvorsitzende Doris Wedlich, ‚das haben wir berücksichtigt.’ Mit der Betonung der Publikationen insgesamt, fügt Stefan Hornbostel hinzu, sei vor allem eine ‚Transferebene’ für Geistes- und Sozialwissenschaftler entstanden, die mit Patenten naturgemäß nicht punkten könnten. Doch irgendwie soll die Forschungsleistung ja bewertet werden.

Also soll nach WR-Beirat dieser Kerndatensatz doch für die Bewertung der Forschungsleistung ausgenutzt werden. Ganz natürlich und offensichtlich zielt alles auf eine Bewertung der Forscher und ihrer Leistung durch Nicht-Fachleute wie die Verwaltungen und Politiker hin, auch wenn der WR selbst das noch nicht zugeben will. Daraus folgt, Masse statt Klasse zählt in Zukunft noch mehr als heute schon.

Wie geht es dabei eigentlich dem wissenschaftlichen Nachwuchs? Denjenigen mit den genialen Ideen, aber ganz ohne Punkte? Dazu schweigt sich der WR elegant aus. Und ignoriert dabei dezent, dass der Kerndatensatz von ahnungslosen Verwaltern ziemlich sicher auch als belastbare Bewertungsgrundlage der jüngsten Forscherin missbraucht werden wird.

Was kostet dieser Kerndatensatz Forschung eigentlich uns Steuerzahler? Auch dazu vornehme Stille bei WR und Co. Auf jeden Fall kostet er uns Wissenschaftler – und damit die Wissenschaft – viel mehr Zeit und Geld als alle anderen. Aber die Lobby der Wissenschaftler ist zu klein, da meckert niemand. Kann ja auch nicht sein – wir Wissenschaftler haben doch viel zu viel anderes zu tun (Citation Index Punkte sammeln, Hirsch berechnen und verbessern und jetzt noch unsere Arbeit nach dem Kerndatensatz Forschung ausrichten), als dass wir uns über solche „Big Data for Small Minds“ aufregen können. (Außer mir vielleicht.)

Die andere Seite, die Verwaltung, hat dagegen Zeit und Muße, um solche Kosten abzuschätzen und vor allem dafür zu sorgen, dass diese auch bezahlt werden. An die Verwaltung natürlich. Nicht an Forschung und Lehre, die ursprünglichen Kernaufgaben der Universität – letzteres ist lange her. Genaue Zahlen habe ich zwar nicht gefunden, an die traut sich wohl keiner öffentlich heran, aber für die parallel anlaufende Doktorandenstatistik (und ein paar andere Daten), die im und am WissZeitVG beteiligt ist, stehen folgende Euros in der Gesetzesvorlage der Regierung an den Bundestag (2016): einmalig etwa 7,2 Millionen Euro und jährlich 980.000 Euro. Und das Ganze wird nur deshalb so billig, weil zwei andere Statistiken wegfallen – die Stellenstatistik und die Gasthörerstatistik.

Wir wollen aber nicht unterschlagen, dass neben den Doktoranden noch anderes damit finanziert wird: „Durch die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für eine zentrale Auswertungsdatenbank wird die flexible und zeitnahe Erstellung von Standard- und Sonderauswertungen gesichert.“ Obwohl: das ist ja erst „die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für“, aber lange noch keine konkrete „zentrale Auswertungsdatenbank“.

Teuer wird es immer mit mehr Zahlen und Verwaltung – klar! Unsere Steuern werden steigen müssen, das wird kaum anders gehen. Und klar ist auch, dass die Wissenschaftler einen Großteil der Arbeit liefern müssen – die Daten nämlich –, das gesamte Geld aber von Bund und Land zur Kompensation dieser Mehrarbeit in der Verwaltung versacken wird. Auch wenn die nur die Daten in Form bringt. Millionen Euro werden formatiert:

Der Kerndatensatz Forschung deckt Angaben zu sechs inhaltlichen Bereichen ab: Beschäftigte, Nachwuchsförderung, Drittmittel und Finanzen, Patente und Ausgründungen, Publikationen sowie Forschungsinfrastrukturen. Die meisten dieser Angaben machen wissenschaftliche Einrichtungen auch heute schon.