Zertifiziert familienfreundlich

Axel Brennicke


Editorial

(13.10.2016) Geld für Forschung und Lehre ist notorisch knapp an unseren Unis. Nicht aber offenbar für zweifelhafte Zertifizierungen, die nicht einmal die Realität korrekt widerspiegeln.

Jubel, Trubel, Heiterkeit allenthalben. Nicht nur an meiner Universität. Nein, viele hundert Unis hämmern sich jedes Jahr tarzanmäßig auf ihre Brust. Nun, vielleicht nicht die gesamte „Universität“ – laut Webseite aber auf jeden Fall die Verwaltung. Ob auch Forschung und Lehre begeistert sein können? Worum es geht? Also, die Verwaltungen von fast 300 Universitäten berichten übereinstimmend in analogen Formulierungen stolz:

Familiengerechte Hochschule! Uni Ulm zum dritten Mal zertifiziert.

Am Montag wurde der Universität Ulm zum dritten Mal das Zertifikat „audit familiengerechte hochschule“ verliehen. […]

Wir freuen uns, dass sich die Uni Ulm erneut das Prädikat ‚familiengerechte hochschule‘ erarbeitet hat. […] Die erneute Zertifizierung zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind. Hiervon profitieren nicht nur unsere Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Beschäftigten, sondern schließlich auch die Uni selbst. Im Wettbewerb um die besten Köpfe sichern wir uns einen Vorsprung.

Editorial

Einen Vorsprung? Zusammen mit 300 anderen Unis? Vor wem denn? Dem knausrigen Rest?

Vor der Zertifizierung hatte die Uni zum dritten Mal erfolgreich das dreimonatige Re-Audit-Verfahren durchlaufen, bei dem neben der Beurteilung der vorhandenen Maßnahmen auch neue Ziele verbindlich festgelegt werden. […] Das aktuelle Zertifikat läuft bis Dezember 2017.

Hört sich ernsthaft und nach Arbeit an. Wer guckt da eigentlich die Unis an, und wer vergibt diese Zertifizierungszertifikate? – Eine private Gesellschaft namens berufundfamilie gGmbH, mit dem Zertifikat „gemein- nützig“. Allerdings ist mit diesem Wort „gemeinnützig“ nur die bezahlte Horde der Mitarbeiter gemeint. Niemand sonst.

Die Webseite der berufundfamilie gGmbH bestätigt denn auch die großzügige Verteilung der Zertifikatszettel:

Unter der Schirmherrschaft von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel wurden in Berlin die 294 Zertifikate an Unternehmen, Institutionen und Hochschulen verliehen. Aktuell tragen in Deutschland insgesamt rund 1000 Arbeitgeber das Prädikat ‚audit berufundfamilie’ bzw. ‚audit familiengerechte hochschule’.

Unter der Schirmherrschaft heißt noch lange nicht, dass die Minister dabei waren oder überhaupt davon wussten. Aber genug dieser kegelbahnblassen Verlautbarungen.

In diesem Jahr allein hat die berufundfamilie gGmbH laut ihrer eigenen Webseite also 294 solcher Zertifikate verteilt. – Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Fast jede Uni ist dabei, von Saarbrücken bis Berlin und von Hamburg bis München lassen sich die Verwaltungen unserer Unis ausnehmen wie geldschwangere Osterlämmer. Ja, „ausnehmen“ ist wohl das einzig passende Wort.

Warum? Die berufundfamilie gGmbH kassiert für den ersten audit von einer kleinen Uni wie meiner 13.650 Euro, von einer größeren wie Tübingen 17.850 Euro. Die zweite Runde nach drei Jahren kommt auf 10.500 Euro bis 13.650 Euro – verbrämt als „Re-auditierung Optimierung“. Die dritte unter dem Tarnnamen „Re-auditierung Konsolidierung“ kostet noch 9.450 Euro bis 11.550 Euro,... usw. Ganz pfiffig! Immer etwas billiger, damit die Lämmer bei der Stange bleiben. Und das tun die nicht einmal besonders raffiniert geköderten zertifikatsgläubigen Kunden tatsächlich: Alle Unis kaufen die nächste Runde Aufkleber, keiner sieht ein, dass das rausgeschmissenes Geld ist. Oder ist zu feige zuzugeben, dass man sich schon einmal und schon wieder hat reinlegen lassen.

Das ist Big Business. Zumindest für die berufundfamilie gGmbH. Nehmen wir 300 Zertifikate mal den Durchschnittspreis von 15.000 Euro, so kommen wir auf 4.500.000 Euro. Das sind 4,5 Millionen Euro! Und lockere 2 Millionen davon allein von den Unis! Die ansonsten doch gar kein Geld für Forschung und Lehre haben. Pro Jahr wohlgemerkt! Unglaublich! Die Unis, die an den Gehältern der Wissenschaftler legal und illegal sparen, nur um die Besten von der Uni weg zu vergrämen, werfen es hier obskuren Organisationen in den weit offenen Rachen.

Ach, jetzt habe ich tatsächlich vergessen zu erwähnen, dass diese Preise selbstverständlich „zzgl. der MWST“ sind. Und „zzgl.“ aller Reisekosten! Ob diese feinen Auditoren sich davon 1. Klasse-Luxus gönnen oder nur die 2., wie bei uns Wissenschaftlern übliche Pflicht, bleibt unklar.

Als weitere Kunden kommen dann noch diverse Firmen dazu, die als Zugeständnis ihrer Lobbyarbeit wohl solche politisch gegründeten Firmen wie die berufundfamilie gGmbH auch noch neidisch unterstützen müssen. Das geht nochmal in die Hunderte von Namen – von Aeskulap bis Zeppelin und von Airbus bis Weleda. Und die Unternehmen zahlen noch mehr: 19.500 Euro für den ersten Audit; 15.000 Euro für die zweite Runde, mit gleichem Optimierungs-Mäntelchen wie die Unis, 13.500 Euro für die dritte,... usw. Natürlich ebenfalls plus MWST und Spesen.

Erinnert Sie dieses Geschäftsgebaren an andere, ähnlich obskure Firmen? Richtig, ein prominentes Beispiel sind die Akkreditierungsagenturen für jeden einzelnen Studiengang an jeder einzelnen Uni. Die sind fast noch frecher; die rekrutieren für die Arbeit vor Ort Hochschullehrer – Kollegen also, die sich geehrt fühlen, den anderen Kollegen von anderen Unis kostenlos Ratschläge zu geben („Oh Sonja“, LJ 5/2005: 26-7). Im Prinzip ja alles OK – außer, dass eben die Akkreditierungsagenturen sich goldene Nasen verdienen und die Unis dies bezahlen. Aber die haben‘s ja. Offensichtlich.

Immerhin empfiehlt nun sogar der Wissenschaftsrat, mit diesem Unfug der Akkreditierungsagenturen aufzuhören. Wetten, dass dann nach einigem Gejammer über die dadurch womöglich drohenden Arbeitslosigkeiten einige verkrachte Politologen, Geographen und Germanisten blitzschnell ein neues Abzockermodell aus der Tasche ziehen, mit dem sie die naiven Verwaltungen der Unis unter anderen Aufklebern blitzschnell über den Tisch ziehen?

Wie aber kann es sein, dass Uni-Verwaltungen und sogar Firmen auf solchen Unsinn hereinfallen und dafür richtig viel Geld locker machen? Was außer dem Aufkleber versprechen sich die Verwalter davon? Schauen wir uns beispielhaft mal die Vorstellungen der Uni Ulm an:

Die Liste familiengerechter Maßnahmen, mit der sich die Uni für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einsetzt, ist lang. Ihr Ziel: Ideale Bedingungen schaffen, damit hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende und Beschäftigte sich für die Uni auf dem Eselsberg entscheiden. Flexibilität ist hier der entscheidende Faktor: Angepasste Öffnungszeiten der Kinderbetreuung auch bei Notfällen und während der Ferien [...] unterstützen berufstätige und studierende Eltern im Alltag.

Immerhin wurde vor einigen Jahren tatsächlich eine Kita an meiner Uni auf dem Berg der Esel gebaut, zu der auch Wissenschaftler ihre Kinder bringen dürfen und nicht nur Studenten und Klinik-Mitarbeiter wie zuvor. In der Realität sieht es aber so aus, dass diese Uni-Kita viel zu klein geplant wurde und auch ist, als dass sogar Wissenschaftler ihre Kinder dort unterbringen könnten. Schlichter Beleg ist das Kita-eigene Infoblatt zur Platzvergabe – der pure Name dieses Zettels sagt schon alles:

„Wie erfolgt die Platzvergabe? Die Betreuungsplätze stehen für Kinder von Beschäftigten und Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern der Universität Ulm (inkl. Vorklinik) im Alter von 9 Wochen bis zum Schuleintritt zur Verfügung.“

Bemerkenswert, dass auch hier Nachwuchswissenschaftler etwas anderes als Beschäftigte sind. „Mindestens ein Elternteil (eine sorgeberechtigte Person) muss an der Universität Ulm (inkl. Vorklinik) tätig sein [...] Soweit mehr Anmeldungen vorliegen, als Plätze frei sind, gilt Folgendes: Beide Elternteile müssen nach Aufnahme des Kindes in die Kindertagesstätte mit mind. 50% der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit einer/eines Vollbeschäftigten aktiv berufstätig oder in Ausbildung / studierend sein.

Irgendwie verstehe ich das nicht: „Soweit mehr Anmeldungen vorliegen, als Plätze frei sind, (In der Realität zeigt sich: Immer!) gilt Folgendes: Beide Elternteile müssen [...] mit mind. 50% der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit...“ Was soll das „beide Elternteile“? Ein an der Uni angestellter Elternteil reicht nie aus? Ist das nun familienfreundlich? Weiter:

„Anschließend gelten für die Platzvergabe folgende Kriterien (Rangfolge):

  1. Beschäftigungsgrad der Eltern an der Universität [...]
  2. Geschwisterregelung – Kinder, deren Geschwister [...] die gleiche Kita besuchen.“ Als ob die Uni viele, viele Kitas für Wissenschaftler hätte. – Es gibt nur die eine.
  3. Wartezeit – Kinder, die länger angemeldet sind (Reihenfolge auf der Warteliste).“

Schauen wir uns einen echten Fall an:

Zu Punkt 1 arbeitet der Vater zu 100%, die Mutter zu 80% an der Uni.#

Zu Punkt 2 konnte man nichts machen, gibt nur ein Kind.

Zu Punkt 3 haben Vater und Mutter den Nachwuchs sechs Monate VOR der Geburt angemeldet. Eher ging irgendwie nicht. Fünf Tage NACH der Geburt wurde die Anmeldung noch einmal bestätigt. Sechs Monate nach der Geburt des kleinen Mädchens gibt die Kita auf eine telefonische Sicherheits-Nachfrage zur Antwort: „Ja, alles OK! Platz ist reserviert.“

Einen Monat vor Aufnahme wird angeblich ein Termin zum Eintritt vereinbart. Die Kita meldet sich nicht. Eine Woche vor dem Termin rufen die besorgten Eltern an, die Kita teilt lakonisch mit: Es klappt nicht, die Uni-Kita zieht ein anderes Kind vor. Wie das? Keine Antwort, die Kita gibt keine Auskunft. Die Uni weigert sich auch – sagt nichts, behauptet, sie weiß nichts.

Fazit: Es klappt einfach nicht. Und nun ist in einer Woche natürlich bei keiner anderen Kita mehr ein Termin zu finden. Fazit: Die junge Mutter muss die jetzt unbezahlte Kinderbetreuungszeit weiter verlängern und kann ihre Arbeit an der Uni nicht, wie mit ihrem Chef ausgemacht, wieder aufnehmen.

Wie kann das sein? Arbeiten zwei andere Elternteile 200%? Ganz plötzlich? – Denn sonst hätte die Kita das ja schon längst wissen müssen und eher Bescheid gegeben können. „Plötzlich“ kann aber auch nicht sein, da gibt es ja noch Punkt drei mit dem frühen Vogel. Oder hat die Verwaltung der Uni womöglich den nicht numerierten Nachsatz angewandt:

„Die Universitätsleitung kann pro Jahr bis zu drei Plätze in jeder Kindertagesstätte unabhängig von oben genannten Kriterien vergeben.“

Nun ja, Hauptsache als „familienfreundlich“ zertifiziert. Und klar, gerade bei solcher Realität muss man für dieses Label eben ordentlich zahlen. Apropos Geld: Bei der Uni-Kita bezahlt ein Doktorand mit 50%-Schleudersitzstelle dasselbe Kinderkopfgeld wie ein Prof mit vollem Beamtenparkgehalt für Kind oder Kegel.

Wie steht so salbadernd auf der Uni-Webseite: „Die Universität verpflichtet sich, eine familienbewusste Personalpolitik zu betreiben und kontinuierlich an einer tragfähigen Balance von Studium und Familie sowie von Erwerbsarbeit und Familie zu arbeiten.“ Wie macht sie das? Seit der letzten Zertifizierung beispielsweise so:

Neu sind seit dem Wintersemester ein eigener Eltern-Kind-Lernraum sowie ein Elternstammtisch. In der Zukunft wird besonderes Augenmerk auf der Pflege-Unterstützung liegen.

Fantastisch, von einem Eltern-Kind-Lernraum habe ich schon immer geträumt. Und der Elternstammtisch ist kein Problem, da das Kind ja in der Kita ist – und diese sooo flexible Öffnungszeiten hat.

Übrigens hat die Uni noch weitere tiefschürfende Einsichten über mich als Vater online gestellt – hier ein paar Kostproben:

Immer mehr Paare streben an, dass sich beide Partner gleichermaßen in Beruf und Familie einbringen können. Die meisten Väter wünschen sich mehr Zeit für die Familie. Die Universität Ulm möchte dabei unterstützen. [...] Nicht nur Mütter, sondern auch Väter sind doppelbelastet! Von den Möglichkeiten, die Arbeit an der Universität zu flexibilisieren, profitieren Mütter und Väter. Beispiele sind: flexible Arbeitszeit, Teilzeit, alternierende Telearbeit, Elternzeit, Freistellungen/ Beurlaubungen, (Familien)Pflegezeit.

Das ist alles gut und schön für die Verwaltung mit ihren Dauerstellen. Aber für Wissenschaftler? Alles Unfug. Alternierende Telearbeit während der Doktor- oder Habil-Arbeit? Beurlaubung von einer DFG-finanzierten Einjahresstelle?

Statt zu arbeiten, kann ein Vater ja auch das Fort- und Weiterbildungsprogramm „man@work“ der Universität Ulm besuchen. Oder Kursangebote wie zum Beispiel:

Vater werden – Check-In oder vom Duo zum Trio (kostenfrei); weitere interessante Kursangebote: u. a. Väter-PEKiP, Erlebniswelt Essen Papa-Kind, Mit deinem Kind in einem Boot.

Also, wie man Vater wird, das hat uns die Bravo doch schon erklärt... Da ist die Uni etwas spät dran. Ist das der gute Einfluss der berufundfamilie gGmbH? Hat das 40-50.000 Euro gekostet?

Zum Verhältnis „Uni und Vater“ noch ein Realitätscheck. Das neue WissZeitVG behauptet noch mehr als das alte, familienfreundlich zu sein (Sicher haben die auch das Zertifikat der berufundfamilie gGmbH gekauft) – und sagt, dass Wissenschaftler, die während der Galgenfrist von zwölf Jahren ein Kind bekommen, dafür um zwei Jahre verlängert werden können. Unsere familienfreundliche Uni Ulm aber lehnt das kategorisch ab – unter der faulen Ausrede, dass das Kind während eines Stipendiums und nicht während einer Anstellung gemacht wurde.

Das allerdings ist falsch, denn das Gesetz sagt klar, es sei egal, wann das Kind erzeugt wurde und wann es kam. Soll man klagen? Lohnt sich nicht, denn das Gesetz ist wiederum so Wischiwaschi, dass die Uni die Verlängerung machen kann, aber nicht muss (siehe diese Kolumne in LJ 5 bzw. 6/2016). Störend ist nur die Feigheit von Verwaltung und deren obersten Bürokraten, dies ehrlich zuzugeben, statt sich hinter falschen Vorwänden zu verstecken.

Sie sehen also, was man bekommt, wenn man alle drei Jahre 10.000 Euro an eine gGmbH wie diese berufundfamilie gGmbH abdrückt. Einen Aufkleber, den man beim BVB Dortmund oder sogar von Bayern München deutlich günstiger einkaufen kann. Und ganz ohne zusätzliche Reisekosten und Spesen. Letzteres wie bei den eigenen Wissenschaftlern und der DFG.

Und denken Sie jetzt nur nicht, das sei nur an meiner Uni so. An Ihrer Uni läuft es genauso. Geld für Forschung und Lehre bekommen Sie nicht, das wird auch bei Ihnen an die berufundfamilie gGmbH überwiesen. Und? Ändert sich bei Ihnen etwas? An meiner Uni kenne ich die Realität und weiß, dass die Beispiele genau so echt und wahr sind.